Wenn wir hören, dass die Königsherrschaft Gottes das eigentliche und hauptsächliche Thema der Predigt Jesu war, beschleicht uns möglicherweise ein unbehagliches Gefühl. „Herrschaft“ und gar „Königsherrschaft“ sind wahrhaftig keine „modernen“ Begriffe. Sie klingen nach Unterdrückung und Gewalt. Muss es denn immer Herrschaft geben; noch dazu eine so unanfechtbare, unentrinnbare wie die eines allmächtigen Gottes? Können wir denn niemals wirklich frei sein? Muss es immer ein „oben“ und „unten“ geben: Herrscher und Beherrschte? Mit Recht wehren wir uns gegen jede Form menschlicher Diktatur. Sollen wir uns jetzt dafür mit dem „Reich Gottes“ die größte überhaupt denkbare Diktatur einhandeln? Solche Gedanken kommen uns, weil wir unwillkürlich unsere Vorstellungen und unsere (meist negativen) Erfahrungen mit menschlicher Herrschaft auf Gott übertragen und bei ihm ins Übermenschliche gesteigert sehen. Die Herrschaft Gottes ist aber etwas ganz anderes, als eine Super-Tyrannei. Sie ist vielmehr die einzige Macht, die uns von jeder unterdrückenden menschlichen Herrschaft frei machen kann.
Jesus verkündigt die Königsherrschaft Gottes, weil er wie kein anderer weiß, dass nur sie das Böse in dieser Welt überwinden kann. „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, d. h. die Lebensordnung des Himmels, wo Bosheit und Betrug, Unterdrückung und Gewalt keinen Raum mehr haben, soll nun auch auf der Erde Wirkmacht und Gestaltungskraft bekommen. Das ist wahrhaftig eine „Frohe Botschaft“, jedenfalls dann, wenn sie nicht nur Äußerung eines verständlichen Wunschtraumes ist angesichts der Heillosigkeit dieser Welt, sondern Ankündigung einer Neuschöpfung, die schon in Jesu Leben, Reden und Handeln sichtbare und erfahrbare Realität geworden ist, wenn sie auch noch zeichenhaft und vorläufig, anfechtbar und angefochten bleibt.
Nicht mein, sondern dein Wille geschehe! (Lk 22,41) Ein Satz wie dieser, der in äußerster Bedrängnis und Gefahr gesprochen wurde, könnte in unseren Ohren so klingen, als ob das Reich Gottes nur aus Obrigkeit und Unterordnung, aus Befehl und Gehorsam bestünde. Die Königsherrschaft Gottes wäre dann tatsächlich nichts anderes als die größte denkbare Diktatur. Jesus redet aber in seiner Botschaft vom Gottesreich in einer ganz anderen Weise von der Königsherrschaft Gottes als von Unterdrückung und Gewalt, die der Stärkere an dem Schwächeren ausübt. Im Folgenden sollen einige Merkmale dieser Herrschaft aufgezeigt werden, die uns Jesu in seiner Predigt deutlich macht und durch die wir ein ganz anderes Bild von ihr bekommen. Die Meisten Hinweise dazu bekommen wir in den Reich-Gottes-Gleichnissen Jesu.
1 Die Hinwendung Gottes zu den Verlorenen
Zu den bekanntesten Gleichnissen Jesu gehören die vom verlorenen Schaf und verlorenen Silbergroschen (Lk 15,1-10) und das Gleichnis vom verlorenen Sohn (das besser „Gleichnis von den beiden verlorenen Söhnen und der unverdienten Liebe und Barmherzigkeit des Vaters“ heißen müsste Lk 15,11-32). Jesus beschreibt die voraussetzungslose, unverdiente, geduldige, unzerstörbare Liebe Gottes zu den Menschen.
Diese Liebe Gottes schließt niemanden aus und sie wendet sich in besonderer Weise denen zu, die nach menschlichen Maßstäben als „verloren“ gelten. Schon im Alten Testament lesen wir immer wieder von der besonderen Zuwendung Gottes an die Menschen, die von ihren Zeit- genossen als minderwertig angesehen und behandelt werden: an Witwen, Waisen, Ausländer oder schuldig Gewordene. Jesus macht uns in seinem Umgang mit den Randgruppen und Ausgestoßenen seiner Zeit (mit Steuerneintreibern, Prostituierten, Aussätzigen usw.) die praktischen Folgen dieser Hinwendung Gottes zu den Verlorenen deutlich und er zeigt uns damit, wie Gott seine Königsherrschaft inmitten dieser ihrer Würde und Berufung entfremdeten Menschheit ausüben will.
2 Die großzügige Gerechtigkeit Gottes.
In den Gleichnissen vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9-13) und von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) führt uns Jesus die Gerechtigkeit Gottes vor Augen, die ganz anders ist, als unsere menschlichen Rechtsvorstellungen. Sie wurzelt in vergebender, „maßlos“ schenkender Liebe, die jeden in seiner jeweils besonderen Situation wahrnimmt.
Im Gleichnis von „Schalksknecht“ (Mt 18,23-35) zeigt uns Jesus Gott als einen Herrscher, der eine unendlich große Schuld restlos vergibt (Verse 26+27). Allerdings zeigt uns das Gleichnis auch die Grenze der Großzügigkeit Gottes dort, wo ein Mensch nicht bereit ist, die empfangene Gnade auch an andere weiterzugeben. Zur Schau gestellte Reue und wortreiche Bitten um Vergebung ohne wirkliche Umkehr im Denken und Tun sind vergebliche Versuche, die Barmherzigkeit Gottes zu missbrauchen. Die großzügig schenkende und vergebende Gerechtigkeit Gottes, die auf die Echtheit unserer Umkehr schaut, ist ein wesentliches Merkmal seiner Königsherrschaft.
3 Die Vaterliebe Gottes
(Mt 7, 7-11) Bittet, so wird euch gegeben; suchet so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Wer ist unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um ein Brot, einen Stein biete? oder wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine Schlange biete? Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten?
Der Gott der Bibel wird uns nicht vorgestellt als ein Herrscher, den man erst mit kostspieligen Vorleistungen freundlich stimmen müsste, ehe er bereit wäre, unsere Bitte zu hören. Jesus zeigt uns einen liebevollen, väterlich zugeneigten, für jede Bitte offenen Gott, bei dem kein Gebet ins Leere geht. Ihm kommt es nur auf die ungeheuchelte Echtheit des Gebets an (Mt 6,5). Im Vaterunser-Gebet zeigt Jesus, wie sich Menschen mit ihrer ganzen Existenz dieser Vaterliebe Gottes anvertrauen können. So sind die Bürger des Gottesreiches nicht namenlose Untertanen, sondern geliebte Kinder.
4 Die unerschütterliche Geduld Gottes
Vor allem in seinen Gleichnissen von Saat, Wachstum und Ernte zeigt uns Jesus Gott als einen Herrn von unerschütterlicher Geduld. Er kann es sich leisten, den Samen seines Wortes verschwenderisch auszuwerfen und ihn auch an Menschen auszuteilen, deren Herzen wie Dornen und Steine und festgetretene Wege sind, in der Hoffnung, dass sogar dort noch die Frucht des Glaubens wachsen kann (Mt 13, 1-9 ). Er lässt der Saat (der Botschaft vom nahegekommenen Gottesreich) Zeit zum Reifen (Mk 4, 26-29), ja er lässt es sogar zu, dass sich auch Unkraut in seinem Weizenfeld (im Volk seiner Königsherrschaft) breitmacht, und lässt beides – Unkraut und Weizen – miteinander wachsen, bis sie in der Ernte- und Gerichtszeit voneinander getrennt werden (Mt 13, 24-30). Gott kann warten, bis aus einem Senfkorn ein Baum geworden ist und bis ein Stückchen Sauerteig eine große Menge Teig durchsäuert.
Gott ruft Menschen immer wieder und immer von Neuem zum Dienst in seinem Reich und gibt auch denen noch den vollen Lohn und Segen seines Reiches, die sich erst spät oder gar erst in letzter Minute dafür entscheiden (Mt 20, 1-16 im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg)
5 Die Sendung des Sohnes
Jo 3,16: Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Durch die Sendung des Sohnes in die Schuldverstrickung und Bosheit der Welt bis in den Tod hat Gott die Liebe, die der Inhalt seiner Gerechtigkeit ist und die Gestaltungskraft seines Königreiches, am deutlichsten offenbart und bis zum Äußersten eingesetzt. Diese Liebe ist das eigentliche Wesenselement der Herrschaft Gottes über die Menschen.
Durch den Sohn ist ein vollkommenes Abbild des Wesens Gottes gegenwärtig in dieser Welt. Sein ganzes Reden ruft uns zu: „So ist Gott“. Sein Tun sagt uns: „So handelt Gott“. Sein Leiden zeigt uns: „So leidet Gott unter der Bosheit seiner Geschöpfe“. Sein Sterben lässt uns erkennen: „So weit geht der liebende Retterwille Gottes“. Sein Auferstehen offenbart uns: „So kämpft und siegt Gott, der Herr und König, der Schöpfer und Erhalter der ganzen Welt, und so will er seine ganze Schöpfung wiederherstellen, erneuern und vollenden“. Durch den freiwilligen Gehorsam des Sohnes „bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ wurde die Königsherrschaft Gottes an dieser einen, aufs Ganze gesehen mikroskopisch kleinen Stelle, vollgültige Realität, und die sieghafte Kraft seiner Auferstehung zeigt uns, wie sich diese Herrschaft auswirken wird, wenn sie zur vollen Entfaltung für die ganze Schöpfung kommt.
6 Die Sendung des Geistes
Jo 14, 16-17+25-26: Und ich will den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein (…) Das habe euch zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.
Die Hingabe seines Geistes ist Zuwendung Gottes an seine Gemeinde und Ausdruck der Fürsorge des Königs für sein Volk. Die davon herkommenden einzelnen „Geistesgaben“ (Charismen) sind Rüstzeug der Einzelnen für ihr Leben in der Gemeinschaft und für ihren Dienst in der Welt.
Gott ist nicht ein Despot, der aus einem fernen Machtzentrum heraus in unser Leben hineinregiert, sondern er will uns durch seinen Heiligen Geist nahe, ja „in uns“ sein. Durch den Heiligen Geist ist etwas vom Wesen Gottes selbst in der Gemeinde gegenwärtig und wirksam. Röm 5, 5: ...die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist.
7 Das alles erneuernde und vollendende Vorhaben Gottes
Mt 24, 29-31: Sogleich aber nach der Bedrängnis jener Zeit (…) wird erscheinen das Zeichen des Menschensohns am Himmel. Und dann werden wehklagen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen den Menschensohn kommen auf den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und er wird seine Engel senden mit hellen Posaunen, und sie werden seine Auserwählten sammeln von den vier Winden, von einem Ende des Himmels bis zum andern.
Jesus redet davon, dass die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen auf ein Ziel zuläuft, in dem die Schöpfung als Ganzes erneuert und vollendet wird (siehe Abschnitt 5 „Die Vollendung der Schöpfung“). Aber dies nicht in Form einer Weltuntergangs-Katastrophe, sondern als Freudenzeit wie bei einem königlichen Hochzeitsfest (Mt 22, 2-3): Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete. Und er sandte seine Knechte aus, die Gäste zur Hochzeit zu laden … (Lk 14, 17): Kommt, denn es ist alles bereit!
So vollendet Gott seine Königsherrschaft: Off 21,1-5: Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!
8 Zusammenfassung
Jesus redet, wenn er von der Königsherrschaft Gottes spricht, zugleich auch von der Vaterliebe Gottes, die es nicht zulassen will, dass seine Geschöpfe unentrinnbar und für immer unter der Herrschaft von Egoismus und Bosheit bleiben. Erst auf der Grundlage dieser Liebe wird die Botschaft vom nahe gekommenen Reich Gottes zur „Frohen Botschaft“, zum Evangelium (siehe das Thema „Das Höchste ist lieben“.
Dabei begründet Jesus nicht eine völlig neue Redeweise von der Herrschaft Gottes. Schon im Alten Testament wird uns Gott als der „Herr“ (JHWH) vorgestellt, der die Liebe zur Lebensregel des Menschseins macht: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin JHWH (3. Mose 19,18). Oder 5. Mose 10, 17-18: Denn JHWH, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein (Bestechungs-)Geschenk nimmt, und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Der Gott, der Herr ist über alle Mächte und Machthaber dieser Welt, neigt sich liebend und helfend herab zu den Ohnmächtigen und Bedürftigen, den Benachteiligten und geringschätzig Behandelten. So, in dieser Weise, übt Gott seine Herrschaft aus.
Dennoch: Auch als Vater ist Gott Herr (siehe das Themenheft „Gesetz oder Liebe?“ Die Verheißungen und Segnungen des Reiches Gottes werden für uns nur dann Wirklichkeit, wenn wir Gott als Herrn anerkennen und wir seinen Willen tun (auch wenn das immer nur sehr unvollkommen und bruchstückhaft gelingen wird). Der Mensch kann für sich und für sein Leben hier auf der Erde nichts Wichtigeres und nichts Lohnenderes tun, als dass er sich der Herrschaft Gottes unterstellt und Bürger seines Reiches wird.
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Bodo Fiebig „Das nahe Gottesreich“ Version 2018-1
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