Wer ist Gott, und wie ist er? Ist er der harte und gerechte Richter-Gott, der unerfüllbare Gesetze aufstellt und unerbittlich deren Einhaltung fordert und an jedem Rache übt, der gegen seine Gebote verstößt? Oder ist er der barmherzige und liebende Vater-Gott, der Nachsicht walten lässt und Vergebung übt? Oder ist er beides zugleich und je nach Laune mal so und mal so? Oder müssen wir unterscheiden zwischen dem Gott des Alten Testaments, der ein Gott des Gesetzes war und dem Gott des Neuen Testaments, der ein Gott der Liebe ist? Hat nicht Jesus selbst in seiner Lehre und in seinem Handeln immer wieder deutlich gemacht, dass das harte Gesetz des Alten Testaments nun überwunden ist und abgelöst durch die Liebe, die alles vergibt? Ich möchte versuchen, dieser Frage zunächst anhand eines Berichtes aus dem Neuen Testament nachzugehen, der auf den ersten Blick genau das zu bestätigen scheint.
Gesetz und Liebe am Beispiel der Ehebrecherin (Joh. 8, 3-11)
Die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu Jesus, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach den andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau, hat dich niemand verdammt (verurteilt)? Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme (verurteile) ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
1 Die Entscheidung
Liebe Leser, ich möchte Sie hier einmal direkt und persönlich ansprechen und fragen: Wie hätten Sie entschieden? Versuchen Sie doch einmal, sich in die Rolle Jesu hineinzuversetzen, der hier vor diese Entscheidung gestellt wird. Die Frau steht vor Ihnen. Um sie herum steht eine Menschenmenge, die darauf wartet, wie Sie entscheiden. Die Rechtslage ist eindeutig: Die Frau wurde beim Ehebruch ertappt. Das Gesetz (nicht irgendein Gesetz, sondern das Gebot Gottes in der Bibel) schreibt vor, dass in einem solchen Falle die Todesstrafe anzuwenden ist. 5. Mose 22,22: Wenn jemand dabei ergriffen wird, dass er einer Frau beiwohnt, die einen Ehemann hat, so sollen sie beide sterben, der Mann und die Frau, der er beigewohnt hat; so sollst du das Böse aus Israel wegtun.
Nehmen wir also an, Sie hätten zu entscheiden: Tod oder Freispruch, Gesetz oder Gnade. Sie würden sich wahrscheinlich eine Bedenkzeit erbitten, denn so einfach ist das nicht: Beide Entscheidungen haben ja Konsequenzen.
Nehmen wir an, Sie entscheiden sich für das Gesetz. Dann wird diese Frau jetzt verurteilt und gesteinigt. Steine fliegen, Knochen brechen, Blut fließt, Schmerz und Todesangst und qualvolles Sterben. Sie wissen nichts von der Lebensgeschichte dieser Frau, von ihren Motiven, von ihren Erfahrungen, von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, Sie wissen nur, sie ist schuldig. Ein Menschenleben wird gewaltsam zu Ende gebracht. Dem Gesetz ist Genüge getan. Die Rechtsordnung für das Zusammenleben der Menschen ist durchgesetzt. Aber würden Sie dafür ein Menschenleben opfern? (Damit keine Missverständnisse entstehen: Es geht bei der Betrachtung dieses biblischen Berichts nicht um eine pauschale Verdächtigung von Frauen als potenziell ehebrecherisch und erst recht nicht darum, in unserer Zeit die Todesstrafe in Form der Steinigung für Ehebruch zu fordern. Außerdem ist es ja fraglich, ob zur Zeit des Neuen Testaments die Todesstrafe bei Ehebruch überhaupt noch angewendet wurde. Es geht vielmehr, damals wie heute, um die Frage, wie Menschen, die auf irgendeine Weise schuldig geworden sind, wieder in ein vertrauensvolles und unbelastetes Verhältnis zu Gott und zu ihren Mitmenschen kommen können.)
Oder nehmen wir an, Sie entscheiden sich für Freispruch. Dann wird das Gesetz, das Gebot Gottes jetzt außer Kraft gesetzt. Und das hat auch Konsequenzen. Wenn Recht und Gesetz keine Gültigkeit mehr haben, dann wird sich die Willkür des Einzelnen ihr Recht verschaffen. Dann werden Gewalt und Anarchie herrschen. Und dabei werden zuerst die Schwachen unter die Räder kommen. Die Starken werden sich schon durchsetzen, um die braucht man sich keine Sorgen zu machen, aber wehe denen, die sich nicht selbst verteidigen können, die ihre Interessen nicht selbst durchsetzen können, wehe den Schwachen, Kleinen, den Minderheiten und Unterlegenen, wenn sie nicht mehr vom Gesetz geschützt werden. Um das Leben dieser einen Frau zu retten, würden Sie möglicherweise das Leben und Wohlergehen von Tausenden aufs Spiel setzen. Schauen Sie doch mal in die Länder, wo Gesetz und Ordnung zusammengebrochen sind und das Recht des Stärkeren regiert!
So einfach ist die Entscheidung offensichtlich nicht. Auch in der Kirche hat es immer wieder diese Streitfrage gegeben: Gesetz oder Gnade, und man hat sie im Laufe der Kirchengeschichte sehr verschieden beantwortet. Mal entschied man sich für das Gesetz und dann konnte auch die Kirche gnadenlos handeln, vor allem gegen Menschen, die sie als „Ketzer“ bezeichnete. Oder man entschied sich für die Gnade (oder für das, was man für Gnade hielt) und dann konnte sich auch in der Kirche eine Gesetzlosigkeit breitmachen, die die Gebote Gottes nicht mehr ernst nahm und dadurch unermesslichen Schaden anrichtete.
Wie würden Sie entscheiden? Gesetz oder Gnade, Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit? Dabei merken wir: Hinter diesen alternativen Handlungsweisen stehen ja auch alternative Gottesbilder. Welches ist das Richtige? Gott, der gerechte Richter oder Gott, der barmherzige Vater?
Nun könnten wir uns gelassen zurücklehnen und sagen: Wir haben es leicht, wir wissen ja, wie Jesus entschieden hat und wir als gute Christen entscheiden uns natürlich wie er: Für die Gnade und gegen das Gesetz, für die Barmherzigkeit und gegen die Gerechtigkeit.
Aber stimmt das wirklich, hat Jesus wirklich so entschieden? Die Ankläger der Frau wollten ihn ja genau auf diese Entweder-oder-Entscheidung festnageln. Für oder gegen das Gesetz; für oder gegen die Gnade. Sie meinten, sie hätten Jesus hier geschickt in eine ausweglose Lage gebracht. Diese Pharisäer und Schriftgelehrten kannten Jesus gut genug, dass sie wussten, er hat sich immer für die Armen und Verfolgten eingesetzt, er hat sich immer besonders an die gewandt, die schuldig geworden waren, die vor aller Augen als Sünder dastanden, die verachtet und ausgestoßen waren und hat ihnen die Barmherzigkeit Gottes in vielen Bildern und Gleichnissen vor Augen gemalt. Sie wussten aber auch, dass Jesus immer wieder Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes gefordert hatte, ja dass er in seiner Bergpredigt die Gebote Gottes noch verschärft hatte, dass er gerade dann, wenn es um die eheliche Treue ging, noch einen höheren ethischen Anspruch vertrat, höher sogar als die strengsten Pharisäer. Mt. 5,28: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Und jetzt, so meinten sie, hatten sie diesen Jesus in der Falle, jetzt konnten die Widersprüchlichkeit seiner Worte und Taten vor aller Augen bloßstellen. Entweder er entschied sich für Recht und Gesetz, dann wurde diese Frau verurteilt und gesteinigt, so wie es im Gesetz des Mose vorgesehen war und dann hatte er all diesen Leuten, mit denen er sonst zusammen war, den Zöllnern und Sündern und ehemaligen Prostituierten, gezeigt, dass auch er im Ernstfall gegen sie war, dass auch bei Gott Gesetz vor Liebe ging und Gerechtigkeit vor Barmherzigkeit – oder er sprach sich für diese Frau aus und dann hatte er bewiesen, dass er ein Verächter des Gesetzes war, der den Willen Gottes nicht ernst nimmt. Ja, einer, der sich gegen Gott entscheidet.
Jetzt, so dachten sie, haben wir diesen Jesus, ganz gleich wie er sich entscheidet, wir können ihm immer einen Strick daraus drehen. Aber Jesus durchbricht mit einem einzigen Satz diese Entweder-oder-Strategie: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Plötzlich stehen die Ankläger selbst als die Angeklagten da. Vielleicht war es den Zuschauern bis dahin noch gar nicht aufgefallen, aber jetzt merkten sie es wohl: Die Ankläger waren lauter Männer. Und zu einem Ehebruch gehören doch zwei. Von dem Mann war aber überhaupt keine Rede, nur diese Frau sollte öffentlich abgeurteilt werden. Dabei steht in dem Gesetz, auf dem die Ankläger hier so selbstbewusst bestanden, ausdrücklich: Sie sollen beide sterben, die beim Ehebruch ergriffen werden, der Mann und die Frau. Aber bei den Männern nahm man das offensichtlich auch damals nicht so genau, die waren es gewöhnt, sich ein paar „kleine Freiheiten“ zu erlauben. Das gehörte eben dazu zum richtigen Mann-sein, dass man ab und zu mal ein bisschen fremd geht. Und ausgerechnet diese Männer wollten sich nun zum Richter über Leben und Tod für diese Frau aufspielen.
Mich hat immer an dieser Geschichte fasziniert, wie Jesus sich hier verhielt: wie er schwieg und mit dem Finger etwas in den Staub auf dem Boden schrieb. Ganz sicher, das war kein Schweigen aus Verlegenheit, weil er sich erst einmal besinnen musste, was er auf diese Fangfrage der Schriftgelehrten antworten sollte. Was mag er da geschrieben haben? Es gibt viele Spekulationen, aber vielleicht gibt uns die Heilige Schrift selbst einen Hinweis: Beim Propheten Jeremia gibt es im 17. Kapitel eine Stelle, die uns vielleicht einen Fingerzeig geben kann, da heißt es nämlich (Vers 13): Alle, die dich verlassen, müssen zuschanden werden, und die Abtrünnigen müssen auf die Erde geschrieben werden, denn sie verlassen den Herrn, die Quelle des lebendigen Wassers. Wahrscheinlich war das ein damals allgemein bekanntes Zeichen, eine Symbolhandlung, die jeder kannte und von der jeder wusste, was damit gemeint war: Wenn jemand sich von Gott losgesagt hatte („abtrünnig“ geworden war), dann schrieb man dessen Namen in den Staub, und so wie der Wind nach wenigen Minuten den Staub verweht und den Namen ausgelöscht hatte, so sollte der Name dieses Menschen aus der Volksgemeinschaft in Israel gelöscht sein und vielleicht sogar im Himmel aus dem Buch des Lebens. Und vielleicht merkten diese Schriftgelehrten, die ja ihre Bibel sehr gut kannten, schon während dieses Schweigens Jesu mit Erstaunen und Erschrecken, dass Jesus ihre Namen in den Staub schrieb!
Gott urteilt anders als wir Menschen. Beide waren Sünder, die Frau und ihre Ankläger, beide waren schuldig. Aber der Verurteilung nahe und in großer Gefahr in den Augen Gottes waren diese Männer, die es als Schriftgelehrte eigentlich besser wissen mussten. In Gefahr waren sie, weil sie ihre Sündhaftigkeit hinter einer Maske aus Heuchelei und Hochmut verbargen, während die Frau, die ihre Schuld nicht leugnen konnte und auch nicht mehr leugnen wollte, von Jesus vollmächtig und auch vor Gott gültig freigesprochen wurde.
In der gleichen Gefahr wie diese Männer sind wir alle. Das war ja nicht nur bei diesen Schriftgelehrten damals so, das ist ja immer eines der Lieblingsspiele der Menschen: Mit Fingern auf andere zeigen, mit Worten auf angeblich schlechtere zielen; wir werfen nicht gleich Steine, aber das heimliche oder offene Gerede über den oder die – na, Sie wissen schon – -, das tut auch weh. 1. Petrus 5,5: Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.
2 Das Böse überwinden
Aber, so kann man, nein so muss man jetzt einwenden, das Gesetz muss doch gelten. Gott widerspricht sich doch nicht selbst. Oder gibt es wirklich diesen gespaltenen Gott, der im Alten Testament ein Gott des Gesetzes und der Rache ist und im Neuen Testament ein ganz anderer, ein Gott der Liebe und Barmherzigkeit? Nein, natürlich nicht, Gott ist unwandelbar und im Alten und im Neuen Testament immer der Gleiche. Psalm 103,13: Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Er wird nicht für immer hadern noch ewig zornig bleiben. Er handelt nicht mit uns nach unseren Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretungen von uns sein. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten. Schöner ist die Vaterliebe Gottes auch im Neuen Testament nie besungen worden. Gott ist im Alten genau so wie im Neuen Testament der erbarmende, väterlich liebende Gott, aber wohlgemerkt: für die, die ihn fürchten (wobei hier nicht Angst gemeint ist, sondern Ehrfurcht und Achtung) nicht für die, die ihn mit frommer Heuchelei betrügen wollen oder die (und das ist heute das häufigere), die ihm hohnlachend sagen, dass sie von ihm und seinen Geboten und Angeboten nichts halten. Gott ist kein Popanz, dem man die üblichen hinterhältigen Spiele und vordergründigen Theater vorspielen kann – Gott nicht und Jesus auch nicht.
Jesus setzt das Gebot Gottes nicht außer Kraft. In Mt 5,17 sagt er: Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Und Jesus brauchte die Gebote auch gar nicht außer Kraft zu setzen, um dieser Frau zu helfen. Die Gebote Gottes sind ja für die Menschen da, sie haben ihren Sinn nicht in der Rache Gottes, sondern im Wohl der Menschen, sie wollen nicht unterdrücken, sondern schützen, nicht schaden, sondern helfen. Sogar noch in dem Gesetz über die Steinigung von Ehebrechern kommt das zum Ausdruck. Wir müssen nur genau hinschauen: Wenn jemand ergriffen wird, dass er einer Frau beiwohnt, die einen Ehemann hat, so sollen sie sterben, der Mann und die Frau …, so sollst du das Böse aus Israel wegtun. Das also ist der Zweck der Gebote und auch der Strafandrohungen: dass das Böse weggetan wird aus dem Volk. Warum? Nein, das ist nicht notwendig um Gottes willen, sondern um der Menschen willen. Um der Menschen willen darf man das Böse nicht einfach wachsen und wuchern lassen, denn sonst würde es mit der Zeit immer mehr werden und überhandnehmen und alles Gute und alles friedliche Miteinander in Volk zerstören und unmöglich machen. Wir haben im vergangenen Zwanzigsten Jahrhundert erlebt, wie das Böse (im sogenannten „Dritten Reich“) ein ganzes Volk überwuchert und überwältigt hat. Hinterher sagte man dann: Warum hat man denn nicht rechtzeitig etwas dagegen unternommen? Wir sehen: Die Geschichte vom Ehebruch ist wirklich nur eine Beispiel für jede Art von „Bösem“, das uns in der Bibel und in unserem alltäglichen Leben in sehr verschiedener Weise begegnet (siehe das Thema „gut und böse“).
Darüber darf man sich keine Illusionen machen: Das Böse ist keine Spielerei, sondern elementare Gefährdung des Menschseins. Um der Lebensfähigkeit der menschlichen Gemeinschaft willen muss das Böse weggetan werden. Deshalb gibt es ja in jedem Staat eine Polizei und Gefängnisse, um mit sehr unvollkommenen und sehr fragwürdigen menschlichen Mitteln wenigstens ansatzweise das zu erreichen, dass das Böse weggetan wird aus dem Volk. Bei Gott geschieht das viel umfassender und radikaler: Spätestens bei unsrem Tod wird alles Böse weggetan werden aus unserem Leben (vgl. 1. Korinther. 3, 13- 15): Der Tag des Gerichts wird’s klar machen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird errettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch. Merken wir: Nicht die Bösen, also Menschen, werden verbrannt im Gericht, sondern das Böse, ihre bösen „Werke“, denn die haben bei Gott keinen Raum.
Das Böse muss weggetan werden. Ein großer Teil der Gewalttätigkeit und Kriminalität in unsrer Gesellschaft und ein großer Teil der Erziehungsprobleme in unseren Familien und Schulen sind darauf zurückzuführen, dass wir das nicht mehr mit der nötigen Klarheit erkennen und wahrnehmen: Das Böse muss weggetan werden. Im Falle dieser Frau gibt es dafür zwei Möglichkeiten: Erstens, sie wird jetzt getötet, gesteinigt, dann kann sie nicht mehr sündigen (bzw. irgendein Mensch, der gegen die Gesetze verstoßen hat, wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und wird damit für eine bestimmte Zeit aus der Gesellschaft isoliert, damit der nicht weiteres Unheil anrichten kann) oder, zweitens, sie bleibt am Leben, aber sie kehrt um und wendet sich ab von ihrem verkehrten Tun, sie wird in ihrem Wesen und Wollen verwandelt, sie wird erneuert zu wahrer Liebe und zum wahren Menschsein und dann will sie nicht mehr sündigen (und das gilt für alle Schuldigen und für jede Art von Schuld). In beiden Fällen ist der Zweck des Gesetzes erreicht. Das Böse ist weggetan. Der Unterschied liegt im „wie“. Und Gott ganzes Ringen und Werben, der ganze Einsatz seiner Liebe im Alten und im Neuen Testament zielt darauf, dass doch Menschen diesen zweiten Weg wählen: Umkehr statt Tod (bzw. Bestrafung)! Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Dieser Ruf Jesu steht wie eine Überschrift über seiner ganzen Botschaft.
Kehrt um, meint doch nicht, ihr könnt Gott mit einer frommen Maske täuschen. Kehrt um auch aus der religiösen Gleichgültigkeit unserer Tage. Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Kehrt um, denn die Liebe und Barmherzigkeit Gottes kann euch ja nicht erreichen, wenn ihr euch von ihm abwendet. Wenn ihr nicht umkehrt, dann sind eure Namen vor Gott wie in den Staub geschrieben und der Windhauch des Todes wird sie auslöschen.
Deshalb wirbt Gott mit der ganzen Kraft seiner Liebe um die verlorenen Menschen: Kehrt um, wendet euch ab vom Bösen, denn das Böse muss weggetan werden um der Menschen willen. Haltet euch nicht fest am Bösen, denn das Böse muss weggetan werden, und wenn ihr euch festhaltet am Bösen, euch weigert, es loszulassen, so wird es euch mit in den Tod reißen. Lasst euch frei machen von dem Bösen, das euer Leben und Zusammenleben ruiniert. Dazu hat ja Gott seinen Sohn gesandt, dass er die Menschen frei macht aus der Verkettung an das Böse. Johannes 8,36: Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.
Bei dieser Frau ist angesichts ihrer unleugbaren Schuld und angesichts ihres scheinbar unabwendbaren Todesurteils dieses Werben Gottes angekommen und so kann Jesus zu ihr sagen: So verurteile ich dich auch nicht. Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr. Aber auch bei den Männern, die sie angeklagt und vor Gericht gezerrt haben, sehe ich trotz allem noch Hoffnung: Die Tatsache, dass sie die Steine nicht geworfen haben, zeigt doch, dass die Worte Jesu etwas angerührt haben in ihrem Gewissen durch all ihre abgestumpfte Selbstgefälligkeit hindurch, sodass die Liebe Gottes weiter an ihnen arbeiten kann, bis auch sie zur Umkehr bereit sind.
Gottes Bereitschaft zur Vergebung richtet sich nicht nach der Größe unserer Schuld, sondern nach der Echtheit unserer Umkehr. Ohne Umkehr aber, ohne Abkehr von falschen Einstellungen, von falschen Zielen und Wegen, von falschen Verhaltensweisen und Taten, gibt es keine Vergebung und keinen Neuanfang und keine Befreiung von den zerstörenden Auswirkungen der Schuld, die die Täter ebenso treffen wie die Opfer, die alle Beziehungen zwischen den Menschen belasten und das Zusammenleben in jeder Gemeinschaft vergiften.
Eine der Tragödien unserer Zeit liegt darin, dass die christlichen Kirchen sich diese Wahrheit haben verschleiern lassen, dass sie sich das Erkennen und Benennen von Schuld und Sünde haben madig machen lassen, dass sie sich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse haben abschwatzen lassen vom psychologisierenden Zeitgeist, der uns einredet: Man darf doch nicht mehr von Schuld sprechen oder gar von Sünde, wie unmodern das klingt! Nein, nein, wir müssen alles verstehen und alles gelten lassen, und wenn es gar nicht mehr geht, dann müssen wir eben darüber reden; und wenn wir nur genug darüber reden, dann löst sich alles irgendwie. Und man merkt oft erst nach langer Zeit: Es hat sich nichts gelöst, sondern das Fehlverhalten hat sich verfestigt, der Egoismus hat sich verhärtet, die lebensfeindlichen und gemeinschaftszerstörenden Verhaltensweisen haben sich ausgeweitet und das Böse ist unversehens zur Norm geworden. Und dann sagt man: Was wollt ihr denn, das tun doch alle so, die Menschen sind halt so, da kann man nichts machen.
Dietrich Bonhoeffer, der wenige Tage vor dem Ende des zweiten Weltkrieges im KZ Flossenbürg von den Nazis ermordet wurde, begann sein Buch „Nachfolge“ (das Vermächtnis eines der Heiligen und Märtyrer des zwanzigsten Jahrhunderts) mit dem Satz: Die billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Und ich zitiere noch ein paar Sätze aus den ersten beiden Seiten dieses Buches: Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament. Billige Gnade ist Rechtfertigung der Sünde und nicht des bußfertigen Sünders. Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, ist Taufe ohne Gemeindezucht, ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus.
Bonhoeffer wandte sich entschieden gegen eine Theologie nach dem Motto „wir kommen alle, alle, alle in den Himmel, nicht weil wir so brav sind, sondern weil der liebe Gott so lieb ist und er es deshalb mit seinen Geboten nicht so ernst nimmt. Vergeben, das ist ja schließlich sein Beruf und da kann er ja gar nicht anders.“ Oh doch, Gott kann anders, denn er ist anders. Er ist die Liebe (1. Jo 4, 16) und die Liebe weiß auch um die zerstörende Macht der unvergebenen Schuld. Auch Jesus redet in seiner Predigt von der Verdammnis und von der Finsternis, wo Heulen und Zähneklappern ist. Nein, die Gnade Gottes ist nicht billig, sie ist umsonst und das ist etwas ganz, ganz anderes! Die billige Gnade wird denen nachgeworfen, die sie gar nicht wirklich haben wollen, weil sie gar nicht einsehen, warum sie die so nötig haben sollten und die gar nicht daran denken, sich und ihr Leben zu ändern und sich von falschen Wegen abzuwenden. „Wir sind allzumal Sünder“ sagen sie dann mit tiefsinnigem Kopfnicken, „aber wir haben ja Jesus, der vergibt uns schon“ und machen unbekümmert weiter wie bisher.
Nein, die Gnade Gottes ist nicht billig. Ihr seid teuer erkauft! schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth. Die Gnade ist nicht billig, sie ist umsonst. Umsonst für jeden und jede, die wie diese Ehebrecherin vor dem Scherbenhaufen ihres verfehlten Lebens stehen und keine Chance mehr sehen, mit dem Leben davonzukommen, es sei denn dieser Jesus, der wüsste noch einen Weg, wie man wieder freikommen kann aus dem Gefängnis unserer Schuld. Die Gnade Gottes ist völlig umsonst, kostenlos, geschenkt für alle, die sich von ganzem Herzen Jesus zuwenden im Vertrauen, dass er uns das Leben von Neuem schenkt, völlig umsonst und ohne jede Gegenleistung für alle, die bereit sind, sich und ihr Leben von ihm verändern zu lassen. Die Frau in unserem Bericht musste ja nicht einmal darum bitten! Solchen Menschen sagt Jesus: Ich verurteile dich nicht. Und er ist der Einzige, der das wirklich mit voller Berechtigung sagen kann, denn erstens ist ihm vom Vater das Gericht über alle Menschen übergeben und zweitens hat er unsere Todesverfallenheit auf sich genommen.
Darauf kommt es an, dass wir in den kritischen Situationen unseres Lebens, besonders dann, wenn wir in eine Lebenskrise geraten wie jene Ehebrecherin, Menschen finden, die nicht mit Fingern auf uns zeigen, die nicht mit Steinen auf uns werfen, sondern geduldig und liebevoll, aber auch beharrlich daran arbeiten, dass wir wieder auf einen guten Weg zurückfinden, und vor allem, die uns dann helfen, dass wir Jesus begegnen, der allein unser Leben wieder zurechtbringen kann und der uns sagt: Ich verurteile dich nicht. Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.
Gesetz oder Gnade, Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit, das war die Frage, die jene Schriftgelehrten Männer Jesus gestellt haben und Jesus hat ihnen deutlich gemacht, dass ihre Frage falsch war. Gesetz und Gnade, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit das ist beides von Gott, falsch war nur das „oder“. Gesetz und Liebe haben die gleiche Quelle, die Liebe Gottes und sie haben die gleiche Aufgabe: Die Aufgabe, Menschen aus ihrer Verlorenheit zu retten und zu Gott zu führen. Wer beide gegeneinander ausspielen will, wer sagt Gesetz oder Liebe, der vergeht sich an beidem, an der Gerechtigkeit und an der Barmherzigkeit.
Die Menschen ohne Gott kennen angesichts von Schuld nur zwei Möglichkeiten: Bestrafen oder das Fehlverhalten zur Norm erklären, auch wenn das auf Dauer jede menschliche Gemeinschaft zerstört. Jesus zeigt uns den dritten, den göttlichen Weg: Nämlich dem, der schuldig geworden ist, helfen, dass er umkehrt und sein Leben ändert und zurückkehrt aus der Gefangenschaft im Egoismus und sich öffnet für die uneigennützige Liebe zum Du, in immer weiteren Dimensionen. Dann ist der eigentliche Sinn der Gebote erfüllt. Denn: Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes (Röm 13, 10), nicht deren Widerspruch.
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© 2013, Bodo Fiebig „Der Ehebruch“ Version 2018-1
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