Mose fühlte sich unendlich müde, körperlich entkräftet und geistig leer. Er ließ sich mühsam sich auf eine kleine grasbewachsene Erhebung auf der öden Hochfläche nieder und versuche sein pochendes Herz und den keuchenden Atem zu beruhigen. Vierzig Jahre lang Leben in der Wüste, wo jeder Tag ein Überlebenskampf ist, für jeden einzelnen und für das ganze Volk, diese vierzig Jahre hatten seinen Leib und seine Seele ausgezehrt. Eine ganze Generation des Volkes Israel war während dieser vierzig Wüsten-Jahre gestorben. Von den Alten war nur er noch am Leben. Alt – viel zu alt war er geworden. Und noch immer war das Ziel nicht erreicht.
Während er ausruhte, gingen Moses Gedanken weit zurück bis zu seiner Kindheit am Hofe des Pharao in Ägypten. Die war viel weniger großartig gewesen als man hätte vermuten können. Eine der Töchter des Pharao hatte ihn aus den Wassern des Nil gerettet. Aber zunächst konnte er bei seiner Mutter bleiben, die ihn als Amme versorgen sollte. Dann nach Ende der Stillzeit musst sie ihn bei der ägyptischen Prinzessin abgeben. Das war Moses früheste Kindheitserinnerung, die sich in seinem Gedächtnis unauslöschbar festgesetzt hatte: wie ihn seine Mutter, da war er knapp drei Jahre alt, an die Hand genommen hatte, weg von dem ärmlichen aber vertrauten Zelt in dem sie wohnten. Wohin? Er wusste es nicht. Aber er merkte, dass es ein weiter Weg war. Kleinere Strecken konnte er schon laufen, dann wieder wurde er von seiner Mutter getragen.
Zwei Tage waren sie unterwegs gewesen, hatten auf halbem Wege bei Fremden übernachtet. Dann hatten sie das weiträumige Areal erreicht, wo die Verwandten des Pharao und seine wichtigsten und mächtigsten Beamten wohnten: Großartige Bauten und weite Plätze, Säulen und Figuren und Mauern mit phantastischen Bildern und fremden Zeichen. Der schlimmste Augenblick kam, als Diener der Prinzessin ihn ins Haus mitnahmen und seine Mutter draußen bleiben musste – und weg gehen musste, für immer!
Er hatte nicht geweint und geschrien und um sich geschlagen, wie ihm eigentlich zumute war. Er wusste, obwohl er noch so klein war: Sklavenkinder dürfen nicht weinen und schreien und um sich schlagen, vor allem dann nicht, wenn Menschen da waren, die zu den „Herren“ gehörten.
Es kamen harte Jahre. Die Pharaonentochter konnte sich kaum mehr erinnern, dass sie einmal ein Sklavenkind aus dem Nil gerettet hatte und sie hatte längst das Interesse an diesem kleinen ärmlichen Menschlein verloren. Sicher, sie hatte damals ihrem Verwalter angeordnet, dass er die Amme bezahlen sollte, bis der Knabe entwöhnt wäre. Dass diese Amme in Wirklichkeit seine leibliche Mutter war, davon ahnte sie nichts. Jetzt war sie ein wenig verärgert über sich selbst und ihre Gutmütigkeit und wusste nicht recht, was sie mit dem kleinen Jungen anfangen sollte. So wurde er abwechselnd von verschiedenen Sklavinnen versorgt. Manche waren gut zu ihm, manche nicht. Das Kind Mose wurde immer stiller, oft sprach es wochenlang gar nicht; die fremde Sprache zu lernen fiel ihm schwer. Selbst später, als Erwachsener, war er kein guter Redner; und wenn er aufgeregt war, stotterte er etwas.
Die Prinzessin hatte ihn schließlich doch offiziell als ihren Sohn angenommen, aber er sah sie nur selten. Moses spätere Kindheit und Jugend war von einer unaufhörlichen Spannung gekennzeichnet. Einerseits war er Sklavenkind und die Gleichaltrigen, die in den benachbarten Häusern und Palästen wohnten, die Söhne und Töchter der „königlichen Schreiber“, der hohen Beamten, der mächtigen Offiziere, der berühmten Bildhauer und angesehenen Priesterfamilien, die ließen ihn täglich spüren, wie sehr sie ihn verachteten. Andererseits war er anerkannter „Sohn“ einer der Töchter des Pharao, das machte ihn unangreifbar und bescherte ihm einige Privilegien, die andere nicht hatten, was ihm zur Verachtung noch den Neid der Gleichaltrigen einbrachte.
Aber Mose hatte es gelernt „anders“ zu sein, fremd und allein und niemanden in sein Inneres sehen zu lassen. Vom Ergehen seiner Stammesgenossen als Sklaven in Gosen beim Bau der Städte Piton und Ramses erfuhr er kaum etwas. Es war Ägyptern verboten, die Siedlungsgebiete der Sklavenvölker zu betreten, sofern sie nicht zu den Aufsehern oder Bauführern und den ihnen unterstellten Militäreinheiten gehörten.
Das Leben im weiteren Umkreis des Pharao war von religiösen Vorschriften bestimmt. Der Pharao war ja nicht einfach nur König, er war zugleich auch Verkörperung der Götter, speziell des Gottes Horus, der als Falke dargestellt wurde. Der Tages- und Jahresablauf im Leben des Pharao und seiner Umgebung war eingepasst in ein über Jahrhunderte überliefertes unabänderliches Gerüst aus religiösen Zeremonien und vorgeschriebenen Kulthandlungen. Die Götter der Ägypter beanspruchten einen weiten Raum in deren alltäglichem Leben.
Die Mythen und Legenden der Göttergestalten beherrschten das Denken der Menschen: Osiris, der Vater des Horus, war von seinem Bruder Seth getötet und zerstückelt worden. Aber Isis, seine Schwester und Gattin, hatte die Teile wieder zusammengefügt, so dass er ins Leben zurückkehrte. Horus, ihr gemeinsamer Sohn, wurde Gott-König, Osiris Herrscher der Totenwelt. Jede Nacht fuhr der Sonnengott Re auf seiner Sonnenbarke durch die Unter-Welt, wo er sich mit Osiris vereinigte und durch sein Licht die Toten zu neuen Leben erweckte.
Überhaupt spielte der Totenkult eine besondere Rolle. Das Leben im Totenreich beschäftigte die Menschen oft mehr als ihr gegenwärtiges Dasein, ja das irdische Leben schien insgesamt nur so etwas wie eine Vorbereitung auf das Jenseits zu sein.
Wenn ein Mensch starb, besonders ein wohlhabender und bedeutender oder gar ein Angehöriger der Familie des Pharao, dann waren umfangreiche Maßnahmen nötig, um den Toten für sein zukünftiges Leben vorzubereiten. Unter den wachsamen Augen des schakalköpfigen Totengottes Anubis wurde der Leichnam von den Priestern in einer 70 Tage an-dauernden Zeremonie mumifiziert und mit kostbaren Grabbeigaben bestattet. Dem Verstorbenen sollte es im jenseitigen Leben an nichts fehlen.
Schon als Knabe und um so mehr, je älter er wurde, musste Mose sich an bestimmten Zeremonien beteiligen. Die Priester waren eine mächtige Kaste innerhalb der ägyptischen Gesellschaft; sie zu verärgern, konnte sich auch ein „Sohn der Tochter des Pharao“ nicht erlauben. Zwar versuchte er, wo es eben möglich war, dem auszuweichen, aber die religiösen Gesetze am Hofe des Pharao waren streng.
Mose wusste, dass die hebräischen Sklaven eine andere Religion hatten und nur an einen einzigen Gott glaubten, der alles geschaffen hatte, Mose hatte oft Ägypter voller Verachtung von diesem „Sklaven-Gott“ reden hören. Genaueres wusste er nicht. Er kannte auch nicht den Namen dieses „Einzig-und-allein-Gottes“. Später, während seiner militärischen Ausbildung, die jeder ägyptische junge Mann durchlaufen musste, spielten die religiösen Aspekte und die Frage seiner Abstammung eine geringere Rolle. Als „Sohn der Tochter des Pharao“ wurde er einer Einheit zugeteilt, in der zukünftige hohe Offiziere ausgebildet wurden. Hier lernte er die Kriegstaktik der verschiedenen Verbände kennen, der Fußtruppen und der von schnellen Pferden gezogenen Kampfwagen. Später kam ihm dieses Wissen sehr zur Hilfe. In der Zeit seiner militärischen Ausbildung war er auch längere Zeit in Gosen eingesetzt, wo die Stämme seiner Verwandtschaft als Sklaven lebten und arbeiteten. Und manchmal hatte er heißen Zorn in sich aufsteigen gespürt, wenn er sah, wie sie getrieben und geschunden wurden.
Mose konnte es sich selbst nicht erklären, wie er es bis hierher auf den Berg Nebo geschafft hatte. Gewiss der Nebo war kein steiler Felsgipfel wie der Berg der Gottesbegegnung am Sinai, aber der Weg vom Jordantal bis auf diese runde Bergkuppe überstieg doch weit die Kräfte, die man einem alten Mann wie ihm zutrauen könnte. Es war ihm, als hätte Gott selbst ihn hierher getragen. Schließlich stand er auf, und sah in die Richtung, wo am Abend die Sonne im großen Meer untergehen würde. Unter ihm, vom Dunst des Tales etwas gedämpft, glänzte die Fläche des Salzmeeres im Sonnenlicht. Beim oberen Ende des Salzmeeres, nicht weit entfernt von der Stelle, wo der Jordanfluss einmündete, lag die uralte Stadt Jericho. Darüber erhoben sich die Höhenzüge der Wüste Juda und noch dahinter die grünen Hügel des judäischen Berglands.
Er sah nach rechts in das fruchtbare Jordantal und nach links in die trockene Arava-Senke und die Wüste Negev. (5. Mose 34, 1b-3): Und der HERR zeigte ihm das ganze Land: Gilead bis nach Dan und das ganze Naftali und das ganze Land Ephraim und Menasse und das ganze Land Juda bis an das Meer im Westen und das Südland und die Gegend am Jordan, die Ebene von Jericho, der Palmenstadt, bis nach Zoar.
Endlich, nach so langer Zeit, waren sie doch am Ziel angekommen. Aber Mose hatte noch die vertraute Stimme Gottes im Ohr (5. Mose 32, 49-52): Geh auf das Gebirge Abarim, auf den Berg Nebo, der da liegt im Lande Moab, gegenüber Jericho, und schaue das Land Kanaan, das ich den Israeliten zum Eigentum geben werde. Dann stirb auf dem Berge, auf den du hinaufgestiegen bist (…). Denn du sollst das Land sehen, das ich den Israeliten gebe, aber du sollst nicht hineinkommen.
Ja, nicht nur er selbst, die ganze ältere Generation des Sklavenvolks, das aus Ägypten geflohen war, hatte das verheißene Land nicht mehr mit eigenen Augen sehen können. Aber die jungen Männer und Frauen und die Kinder, die schon in der Freiheit aufgewachsen waren, die nicht mehr die Knute der Sklaventreiber im Nacken spürten, die würden dort in Freiheit leben. Die vierzig Wüstenjahre hatten sie stark gemacht und die Älteren sterben lassen.
Freilich, JaHWeH selbst hatte das nicht so gewollt. Mose konnte sich noch gut an die entscheidende Situation erinnern, als der große „Umweg“ begann. In relativ kurzer Zeit waren sie nach dem Auszug aus Ägypten bis an die Grenze Kanaans, des „Gelobten Landes“ gekommen. Dann hatte er zwölf Kundschafter ausgesandt, einen aus jedem der Stämme Israels, um das Land zu erkunden. Als sie zurückkamen, zeigten sie die mitgebrachten Früchte des Landes vor (4.Mose 13, 27): Und sie erzählten ihnen und sprachen: Wir sind in das Land gekommen, in das ihr uns sandtet; es fließt wirklich Milch und Honig darin und dies sind seine Früchte.
Das war die gute Nachricht, die Jubel ausgelöst hatte unter denen, die sie hörten. Aber der Jubel war verstummt, als sie den zweiten Teil der Botschaft hörten: Aber stark ist das Volk, das darin wohnt, und seine Städte sind befestigt und sehr groß; und wir sahen dort auch Anaks Söhne. Es wohnen die Amalekiter im Südland, die Hetiter und Jebusiter und Amoriter wohnen auf dem Gebirge, die Kanaaniter aber wohnen am Meer und am Jordan (4. Mose 13, 29-30). 29
Das Geschrei, das nun gefolgt war, klang Mose noch nach vierzig Jahren in den Ohren (4.Mose 14, 2-3): Ach dass wir in Ägyptenland gestorben wären oder noch in dieser Wüste stürben! Warum führt uns JaHWeH in dies Land, damit wir durch‘s Schwert fallen und unsere Frauen und unsere Kinder ein Raub werden. Ist‘s nicht besser, wir ziehen wieder nach Ägypten?
Es war ihm und Kaleb und Josua nicht gelungen, die von blinder Angst bewegte Menge zu beruhigen. Dabei hatte doch JaHWeH noch am Sinai versprochen, dass er die Völker, die das verheißene Land bewohnten, selbst vertreiben würde, so dass die Israeliten es nicht mit Gewalt erobern müssten (2.Mose 34, 11): Halte, was ich dir heute gebiete: Siehe, ich will vor dir her ausstoßen (vertreiben) die Amoriter, Kanaaniter, Hetiter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter.
Mose wusste selbstverständlich nicht, wie JaHWeH das bewerkstelligen wollte, vielleicht durch eine Trockenperiode, welche die Bewohner zwingen würde, das Land zu verlassen und woanders zu siedeln, aber er war sich ganz sicher: JaHWeH würde sein Versprechen halten. Aber das war Vergangenheit. Die Chance einer friedlichen Einnahme des verheißenen Landes war vertan.
Eine große Müdigkeit überwältigte Mose nun und er setzte sich wieder. Wie würde das Volk, das er bis hierher geführt hatte, in ihr verheißenes Land kommen? Würden sie willkommen sein, oder würde man ihnen den Zutritt verwehren? Würden sie dort im Frieden leben können oder würde Kampf und Krieg ihr Dasein bestimmen? Tränen stiegen ihm in die Augen und eine nie gekannte Traurigkeit erfüllte ihn, als sähe er schon all das Leid, das sein Volk in den kommenden Jahrhunderten dort in jenem nahen und für ihn doch so unerreichbaren Lande erfahren würde. 5. Mose 34, 5-6: So starb Mose, der Knecht des HERRN, daselbst im Lande Moab, nach dem Wort des Herrn. Und er begrub ihn im Tal, im Lande Moab …
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Bodo Fiebig „Blick über den Jordan“, Version 2020-5
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