Adam – wer bist du? So heißt das übergeordnete Thema, zu dem dieser Beitrag gehört. Hier geht es nicht um die Individualität des einzelnen Menschen (siehe dazu das Thema „Wer bin ich?“), sondern um die Frage nach dem Wesen und Sinn des Menschseins von Anfang an (siehe dazu auch das Thema „sein und sollen“). Zu dieser Fragestellung gehört es aber auch, das herausragende Beispiel eines Menschenlebens zu betrachten, an dem die Frage nach Wesen und Sinn des Menschseins eine exemplarisch bedeutsame und allgemein gültige Antwort erfährt: Das Leben des Juden Jesus aus der Stadt Nazareth in Israel vor etwa zweitausend Jahren.
Wer war dieser Jesus von Nazareth? Mensch oder Gott oder beides zugleich? In den Mythologien der Antike gab es solche Fabelwesen, halb Mensch, halb Gott, und der christliche Glaube war zuweilen in der Gefahr, sich solchen Vorstellungen zu anzunähern. In den vergangenen 2000 Jahren hat man immer wieder versucht, das menschlich-göttliche Wesen Jesu zu erklären und in Worte zu fassen und manchmal ist man dabei ungewollt in die Nähe solcher Mythologien geraten. Die biblischen Aussagen aber sind unendlich weit entfernt von solchen Vorstellungen. Nein, Jesus war kein „Halbgott“ oder „Halbmensch“. Bei Jesus werden wir nirgendwo etwas „Halbes“ finden. Das war es ja, was die Menschen seiner Zeit an diesem Mann aus Nazareth so faszinierte: ein Mensch, in dem das Menschsein ganz, unverzerrt und ohne Abstriche zum Leuchten kam und in dem zugleich, verwirrend und manchmal erschreckend, das Göttliche als gegenwärtig und wirksam zu erkennen war.
Wir sagen: „Gott wurde Mensch“, und wir haben dann oft so etwas wie einen verkleideten „Übermenschen“ vor Augen, der sich tarnt und so tut, als wäre er ein Mensch wie wir. Er würde dann etwa so handeln, wie ein absoluter Monarch, der sich inkognito unters „gemeine Volk“ mischt, um zu sehen, wie es da zugeht. Nein, Jesus war kein als Mensch verkleideter Gott und kein als Gott verkleideter Mensch. „Gott ist Liebe“ (1.Joh 4,16), damit ist alles Wesentliche über den Gott der Bibel ausgesagt. Und in Jesus ist diese Liebe, die das Gott-Sein Gottes ausmacht, im Menschsein vollgültig gegenwärtig (siehe auch das Thema „Jesus – die Person“).
„Wer mich sieht, der sieht den Vater“, sagt Jesus (Joh 14,9). Genauer kann man die Berufung des Menschseins (jeden Menschseins!) nicht beschreiben, denn Gott schuf das Menschsein sich zum Ebenbild, zur lebendigen und erfahrbaren Vergegenwärtigung seines Wesens in dieser Welt. Wenn man das Miteinander von Menschen anschaut, wie sie zusammen leben und miteinander umgehen, dann soll man (bei aller menschlichen Unvollkommenheit) eine Ahnung (wenigstens eine Ahnung) davon bekommen: So ist Gott. Und wir merken, wie weit wir meistens davon entfernt sind. Aber Gott will uns nicht ohne Vor-Bild der Menschheitsberufung lassen: Wenn wir uns den Lebensweg Jesu anschauen, einen Weg, der gesäumt war von körperlich Geheilten und seelisch Gesundeten, von Menschen, die im Glauben gefestigt, in der Liebe gestärkt, in der Erkenntnis Gottes vertieft, zur Hingabe befähigt und zum Dienst bereit wurden, dann erkennen wir: In ihm war wirklich das Menschsein zur vollen Erfüllung seiner ursprünglichen Berufung als Bild Gottes gekommen.
Wahres Menschsein kommt (auch heute unter uns) nur dort zum Vollzug, wo es (auch in aller menschlichen Unvollkommenheit) Eben-Bild der Liebe Gottes wird. In Jesus ist das einzigartig und vollgültig geschehen; in ihm, seinem Leben und Reden, Handeln und Leiden ist Gott selbst gegenwärtig. „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1, 15).
Gott ist Liebe, das heißt, sein Wesen ist ein „Für-den-andern-da-sein“ in voraussetzungsloser Annahme, uneingeschränkter Zuwendung, unerschütterlicher Treue und opferbereiter Hingabe. Solche wahre Liebe ist von Gott und ist bei Gott. Das heißt, alles, was je im Leben eines Menschen (und seien es nur winzigste Spuren im Leben des unvollkommensten und fragwürdigsten) an solcher Liebe zum Vollzug kommt, ist göttlich.
Im Leben Jesu, in seinem Reden und Handeln, in seiner Liebe zum Vater und in seiner Liebe zu den „Nächsten“ denen er begegnete, ist diese göttliche Liebe zur vollkommenen Entfaltung gekommen. Und dadurch ist in ihm auch die Menschheitsberufung, Ebenbild Gottes zu sein, zur vollkommenen Erfüllung gelangt. Jesus ist „wahrer Mensch“, weil er durch die vollkommene Liebe diese Menschheitsberufung verwirklicht, und er ist „wahrer Gott“, weil durch ihn, mitten im Menschsein, ein vollkommenes Bild der Liebe, die das innerste Wesen Gottes ausmacht, vergegenwärtigt wird: Gott im Menschsein, Himmel auf Erden. Gott selbst, der Himmel und Erde geschaffen hat, will seine innerste Wesensart, seine göttliche Identität (also seine Liebe) ins Menschsein geben, dass sie auf menschlich erfahrbare Weise unter den Menschen gegenwärtig sei. Im Leben und Handeln Jesu wird das für menschliche Augen und Ohren erkennbar und verstehbar.
So war in Jesus das Göttliche ganz menschlich geworden und zugleich das Menschsein ganz göttlich. Und so wurde auch die ursprüngliche Menschheitsberufung, Eben-Bild Gottes zu sein, in diesem Einen ganz erfüllt: Jesus war wahrer Mensch durch die anschaubare und erfahrbare Vergegenwärtigung der Liebe Gottes und die ist bis heute Vor-Bild jeden wahren Menschseins.
Damit war an einer mikroskopisch kleinen Stelle der Erde eine Keimzelle vollkommenen göttlichen Wesens in den Nährboden der Menschheit gelegt. Von da aus sollte es sich ausbreiten, mehr und mehr in alle Bereiche des Lebens und in alle Gegenden der Erde hineinwachsen, wie ein Senfkorn, aus dem allmählich ein großer Strauch wird, oder wie ein Stück Sauerteig, der schließlich einen ganzen Brotteig durchsäuert. Nur wenige Jahre war dieses wahre Menschen- und Gottes-Bild sichtbar auf der Erde gegenwärtig.
Der korrupte und gewalttätige römische Statthalter Pontius Pilatus hatte in einer Sekunde hellsichtiger Klarheit Jesus so bezeichnet, wie es seiner göttlichen Berufung entsprach: „Seht, der Mensch!“ (Jo 19,5) Der Mensch, wie er seit Beginn der Schöpfung eigentlich gemeint war als Eben-Bild Gottes. Die Menschheit braucht aber nicht nur einmalig, sondern jederzeit das Bild wahren Menschseins vor Augen, um nicht seine gottgewollte Menschlichkeit zu verfehlen und zum Schreckens-Bild der Unmenschlichkeit zu verkommen.
Deshalb sollte nun, ausgehend von von Jesus und seinen Jüngern, eine „Gemeinschaft der Heiligen“ entstehen, eine Lebensgemeinschaft wahren Menschseins, an der jederzeit (trotz aller menschlichen Fehler und Schwächen) das Angesicht Jesu (und damit das Ebenbild Gottes) erkennbar sein sollte.
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Bodo Fiebig „Jesus – der wahre Mensch“, Version 2020-4
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