Abraham musste an Adam denken. Abraham kannte die uralten Erzählungen vom Anfang der Welt* und vom Garten Eden und von Adam, dem ersten Menschen, der von Gott JaHWeH direkt angeredet und berufen worden war**. Immer wieder hatte er sie gehört, wenn die Ältesten seines Stammes an den großen Festtagen des Jahres weitererzählten, was sie selbst von ihren Vätern und Großvätern gehört hatten.
* Siehe das Thema „Schöpfungsglaube und modernes Weltbild”.
** Siehe das Thema „Adam”.
Niemand wusste genau, wo dieses Land Eden damals gelegen hatte, aber es konnte ja gar nicht so weit entfernt gewesen sein von Ur, wahrscheinlich weiter nach Mitternacht zu, dort, wo die beiden großen Flüsse Euphrat und Tigris sich näher kamen und wo sich in der Regenzeit zwischen den Flüssen viele Seitenarme bildeten, die jedes Jahr ihren Lauf etwas veränderten.
Abraham musste an Adam denken, wie es dem mit seinen beiden erstgeborenen Söhnen ergangen war. Der eine, Kain, hatte seinen Bruder Abel erschlagen und war dann geflohen, so dass Adam lange Zeit ganz ohne Söhne war.
Auch Abraham hatte zwei Söhne. Ismael, den Älteren, den er von Sarahs Haussklavin Hagar hatte und Isaak, den Erbetenen und Verheißenen. Nun würde er, Abraham, auch bald ganz ohne Söhne sein. Ismael hatte er auf Drängen Sarahs zusammen mit seiner Mutter fortgeschickt, weil Sarah ihn nicht als möglichen Erben neben Isaak dulden wollte. Abraham wusste nicht, ob er noch am Leben war. Und Isaak? Isaak lief ein paar Schritte hinter ihm, war müde von dem langen, beschwerlichen Weg, und summte, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Melodie eines Schlafliedes, das seine Mutter ihm immer vorgesungen hatte, als er noch klein war. Jetzt war er schon ein Knabe von zwölf Jahren, und, wenn er nicht so müde war wie eben, ein fröhliches, lebhaftes und kluges Kind.
Ja, er war für Abraham wirklich wie ein frohes Lachen* in der Beschwerlichkeit seines Alters. Abraham setzte Schritt vor Schritt, zwanghaft und ohne zu wissen, was mit ihm geschah. Er war sich seiner Sache so sicher gewesen. Natürlich wusste er es: Jede Erstlingsfrucht gehört den Göttern. Das erste Getreide der neuen Ernte, die erstgeborenen Ziegen und Schafe und auch die Erstlingsfrucht des Leibes, das erste Kind. Das war schon immer so und es galt in fast allen Völkern ringsum. Aber bei Gott JaHWeH, da war das nicht so.
* „Isaak“ von hebräisch „izchak“ = lachen
Adam musste doch damals seinen Erstgeborenen, den Kain, nicht opfern. Und Set und Enosch und Kenan und Mahalel und Jered und Henoch und Metuschelach und Lamech und Noah, die mussten das später auch nicht tun.* JaHWeH war kein Gott, der Menschenopfer forderte.
* Entsprechend dem Geschlechtsregister der Adamiten in 1. Mose 5, 3-32 1. Mose 22,21
Aber dann war die Stimme JaHWeHs in der Nacht zu ihm gekommen, unverkennbar, unwiderstehlich: „Abraham!“ Und er hatte wie immer, wenn er die Stimme JaHWeHs vernahm, geantwortet: „Hier bin ich.“ Und dann kam dieser Satz, der seitdem in Abrahams Kopf kreiste wie der schwere Mahlstein in der steinernen Getreidemühle, und der alles zu Staub zerrieb, was er bisher an Glaubensgewissheit zu besitzen meinte: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.“
* * *
Als Abraham noch in Ur gelebt hatte mit Terach, seinem Vater, und der ganzen weitverzweigten Verwandtschaft, da war es jedes Jahr der Höhepunkt gewesen, der Höhepunkt des höchsten Opferfestes für Marduk, den höchsten der Götter in Ur: Da wurden die Erstgeborenen der Familien zusammen mit den Erstgeborenen der Herden und den Erstlingsfrüchten der Felder geopfert. Die obersten der Marduk-Priester waren in feierlicher Prozession die Haupttreppe der Zikkurat, der großen Stufenpyramide von Ur, hinaufgestiegen, immer höher hinauf, als wollten sie direkt in den Himmel steigen. Ganz oben, an der höchsten Stelle, war das gewaltige Bauwerk abgeflacht und dort stand der Tempel des Marduk und dort wurden, sichtbar vor den Augen der riesigen, in feierliche Hochstimmung versetzten Menschenmenge, die Opfer vollzogen.
Das war nicht immer so gewesen in Ur. Zur Zeit als der Hauptgott der Stadt Ur, der Mondgott Nanna, noch über der Stadt herrschte, da wurden auch jedes Jahr Opfer gebracht, aber das waren die Erstgeburten der Schaf-und Ziegenherden zusammen mit den Erstlingsfrüchten der Felder, keine Menschenopfer. Menschen wurden damals nur in Notzeiten geopfert, wenn der Regen ausblieb, um die Götter zu besänftigen, wenn sie zornig waren und den Regen zurückhielten und die Ernte auf den Feldern vertrocknete, oder in Kriegszeiten, um die Götter gnädig zu stimmen, wenn feindliche Truppen herannahten.
Trotzdem hatte sich Abrahams Sippe von diesen Opferfesten immer fern gehalten. Sie hielten fest an ihrem überlieferten JaHWeH-Glauben, der von ihren Ur-Vätern Adam und Noah an von Generation zu Generation weiter erzählt worden war. Dann aber war die alte Ordnung der Stadtstaaten von Ur und Akkad zusammengebrochen. Weiter stromaufwärts am Euphrat, war ein neuer Staat entstanden, der sich mächtig ausbreitete: Babylon. Es dauerte nicht lange, da waren die Babylonier auch die Herren von Ur. Und: Die Babylonier brachten auch ihre Götter mit. Marduk, ursprünglich nur Stadtgott von Babylon, einem winzigen unbedeutenden Nest, als Ur schon glänzendes Zentrum einer kulturellen Weltmacht war, der wurde nun Welten-Herrscher und Oberster der Götterwelt.
Ur begann sich zu verändern. Der Glanz der alten farbenprächtigen Hauptstadt der Sumerer wurde von einem düsteren Schatten aus Gewalt und Angst überlagert. Die Priester des Marduk-Kultes kontrollierten alles: die Geschäfte der Händler und die Erträge der Fel- der ebenso wie die Kulthandlungen der Gläubigen. Nun kam eine Zeit, wo die Nachkommen Adams und Anhänger des JaHWeH-Glaubens immer mehr unter Druck gerieten. Die mächtige Marduk-Priesterschaft begann, gegen die Gläubigen anderer Kulte vorzugehen. Es wurde gefährlich, sich als Anhänger eines anderen Glaubens erkennen zu geben.
Auch die meisten Angehörigen der Sippe Abrahams beugten sich nach und nach dem Druck und ordneten sich dem Marduk-Kult unter. Schließlich war nur noch die Familie Terachs übrig, die sich offen zu JaHWeH bekannte. Dann aber musste Terach von einem Tag auf den anderen die Stadt und das Land verlassen. Fanatisierte, von den Priestern zu heiligem Zorn aufgestachelte Horden von Marduk-Gläubigen waren durch die Straßen von Ur gezogen, waren in die Häuser eingedrungen, wo sie heimliche Anhänger fremder Kulte vermuteten. Es gab ein schreckliches Gemetzel.
Terach und seine Familie konnten nur entkommen, weil sie über geheime Verbindungen von den bevorstehenden Überfällen erfahren hatten. So konnten sie rechtzeitig Ur verlassen und sogar ihre Habe, ihr Vieh und die Sklaven mitnehmen. Das war nicht einfach ge-wesen, aber Abraham (oder Abram, wie er damals noch hieß) und Terach hatten schon Wochen vorher Boten zu den im weiter entfernten Steppenland weidenden Herden geschickt und die Hirten angewiesen, am Euphrat stromaufwärts zu ziehen, um sich dort mit Terach, mit Abraham und dessen Frau Sarai und Abrahams Neffen Lot zu treffen, die direkt von Ur aus dorthin fliehen wollten.
Wandernde Herden mit ihren Hirten, die oft über große Entfernungen zu neuen Weideplätzen zogen, waren ein gewohnter Anblick und erregten keinen Argwohn. Terach wollte weiter nach Haran, weil er dort Verwandte hatte. Die würden ihm eine Wohnstatt und Weideplätze für das Vieh beschaffen, schließlich war die Familie Terachs nicht arm. Vor allem aber gab es dort keinen Marduk-Kult. In Haran herrschte Baal, ein Wetter- und Fruchtbarkeits-Gott der Kanaaniter. Aber dessen Anhänger waren weniger gewalttätig und ließen Angehörige anderer Kulte meistens in Ruhe. Eigentlich sollte auch Haran nur Zwischenstation sein. Terach hatte vor, von dort aus weiter nach Süden zu ziehen und da im wilden, kaum bewohnten Bergland von Kanaan mit seiner Familie ein neues Siedlungs- und Weidegebiet zu begründen. Dort sollte der uralte JaHWeH-Glaube eine neue Heimstatt finden, unbedroht von alteingesessenen und übermächtigen Götter-Kulten.
Daraus wurde nichts. Terach war alt und die Strapazen der Flucht hatten seine Kräfte aufgezehrt. Terach starb in Haran, wenige Jahre nachdem sie dort angekommen waren. Nun war Abraham das Oberhaupt der Familie und verantwortlich für das Wohlergehen der ganzen Sippe mit allen Haussklaven, mit den Verwaltern und Lagersklaven, die für die Bearbeitung und Vermarktung der Schaf- und Ziegenwolle, der Häute und Felle, der Milch und des Fleisches zuständig waren, und er war verantwortlich für die Herden und ihre Hirten, die von Weideland zu Weideland zogen.
Vor allem fühlte sich Abraham verantwortlich dafür, dass der JaHWeH-Glaube in seiner Familie bewahrt und lebendig blieb. Aber genau das war das Problem. Oh nein, sie mussten keine Angst vor gewalttätigen Baalspriestern haben. Im Gegenteil: Der lebenspralle, farbenprächtige Fruchtbarkeitskult der Baalsanhänger, mit Tempelprostitution und orgiastischen Festen, übte eine geradezu magische Anziehungskraft auf die jüngeren Männer der Sippe aus. Besonders Lot, Abrahams Neffe, schien oft wie im Rausch, wenn er von solchen Festen zurückkam.
Abraham versuchte mehrmals mit ihm darüber zu reden und ihm zu erklären, warum für sie der JaHWeH-Glaube so wichtig war. Lot aber war, wenn er einmal einem solchen Gespräch nicht ganz ausweichen konnte, abweisend und uneinsichtig. Abraham hatte immer deutlicher den Eindruck, dass die freizügige und verlockende Baalsverehrung gefährlicher war für den eigenen Glauben als der gewalttätige Opferkult für Marduk.
Als dann eines Nachts die Stimme JaHWeHs vernehmlicher und drängender als sonst zu ihm kam und ihn aufforderte, Haran zu verlassen, war Abraham zugleich erschrocken und erleichtert. Und noch froher wurde er, als er merkte, dass die Reise offensichtlich genau dahin führte, wo schon sein Vater Terach das Land für den freien JaHWeH-Glauben erhofft und gesucht hatte: Kanaan.
* * *
Wo lag „das Land Morija“? Abraham hatte keine Ahnung. Nun war die kleine Gruppe schon den dritten Tag unterwegs: Abraham und Isaak, dazu zwei Sklaven und ein Lastesel. Mehrmals hatten sie in den beiden vergangenen Tagen die Richtung gewechselt, weil sich Abraham nicht sicher war, ob er noch auf dem richtigen Weg war. Aber wie sollte man den richtigen Weg finden, wenn man das Ziel nicht kannte?
Abraham wünschte sich, er würde das Land Morija nie finden und er könnte mit Isaak wohlbehalten zu den Seinen zurückkehren. Aber dann, als am dritten Tag die Sonne auf halber Höhe am Himmel stand, sah er am Horizont eine Kette von Hügeln und wusste, ohne dass es ihm jemand gesagt hätte: Das ist Morija. Er befahl den beiden Sklaven, den Esel zu versorgen und hier auf ihn zu warten, bis er zurückkäme. Dann nahm er das vorbereitete Feuerholz für das Brandopfer vom Esel und lud es dem Knaben auf die Schultern. Verwundert sahen die Sklaven ihnen nach, als sie weitergingen.
Abrahams Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Mehr als sieben Jahre waren schon vergangen, seit sie Haran verlassen hatten. Mehrmals war Abraham mit seinen Leuten und Herden durch das oft unwegsame Bergland Kanaans gezogen. An jedem Platz, wo er eine besondere Erfahrung mit JaHWeH gemacht hatte, hatte er einen Altar errichtet: zuerst bei Sichem, später auf einer Anhöhe zwischen Beth-El und Ai. Für Abraham war dies das Zei-chen, dass er das Land für JaHWeH in Besitz nehmen wollte: Hier sollte der JaHWeH-Glaube Heimatrecht haben.
Aber dann war Abraham durch die Erfahrung einer tiefen und erschütternden Gottesbegegnung klar geworden, dass nicht er das Land für JaHWeH einnehmen sollte, sondern dass JaHWeH ihm und seinen Nachkommen dieses Land schenken wollte. Abraham begann das Land mit anderen Augen zu sehen: als Eigentum JaHWeHs und als verheißenes Geschenk, das zugleich Herausforderung des Glaubens war.
Danach waren sie längere Zeit weiter gegen Mittag am Rande der Wüste von Weideplatz zu Weideplatz gezogen. Zwischendurch musste Abraham mit den Seinen für einige Zeit nach Ägypten ausweichen, weil in Kanaan eine Dürreperiode alles Weideland vertrocknen ließ. Als sie aus Ägypten zurückkehrten, suchten sie wieder die Plätze auf, wo sie schon früher ihr Lager aufgeschlagen hatten: im Mittagsland und dann bei Beth-El.
Dort hatte sich Lot von ihm getrennt. Er wollte mit seinen Leuten und Herden lieber im fruchtbaren Jordantal siedeln, als hier im rauen Bergland umherzuziehen. Freilich war das nicht lange gut gegangen. Das fruchtbare Land am Jordan und die Gegend am Salzmeer mit seinen Salzvorräten und Erdharzgruben waren begehrter und umkämpfter Besitz. Lot geriet in kriegerische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Stammesfürsten und wurde mit seinen Leuten und seiner ganzen Habe als Kriegsbeute verschleppt.
Abraham musste in aller Eile alle waffenfähigen Männer seiner Hirten und Sklaven sammeln, insgesamt 318 Männer, und konnte tatsächlich in einem gewagten nächtlichen Überfall Lot und die Seinen wieder befreien.
* * *
Nur mühsam und widerstrebend konnte sich Abraham aus seinen Erinnerungen lösen und wieder in die Gegenwart zurückkehren. Morija! Von der Kuppe eines Bergausläufers schaute Abraham in eine scharf gegliederte Landschaft: Rechts verlief ein tief eingeschnittenes Tal, das jetzt in der Trockenzeit kein Wasser führte. Vor ihm, deutlich tiefer gelegen als der Hügel auf dem erstand, zog sich ein schmaler, steiler Grat in Richtung der hochstehenden Sonne. Dort erkannte Abraham eine kleine, durch die Lage geschützte und noch zusätzlich befestigte Siedlung. An der Tatsache, dass der Bergsporn besiedelt war und dass sich unterhalb der Mauern üppiges Grün ausbreitete, schloss Abraham, dass dort eine ergiebige Quelle sein musste, die das ganze Jahr nicht austrocknete. Nach Mitternacht zu verbreiterte sich der Grat und lief in eine flache Ebene aus. Dahinter war ein weiteres Trockental, dass sich weiter unten mit dem ersten vereinigte, und hinter diesem erhob sich ein langgestreckter, am Fuße mit Buschwerk bewachsener Bergrücken, der etwa die gleiche Höhe hatte wie der Standort Abrahams.
Die Hochfläche oberhalb der Siedlung hatte eine regelmäßige Form, war von dichtem Buschwerk begrenzt und es war deutlich erkennbar, dass sie von Menschenhand so angelegt worden war. Abraham wusste sofort: Dies war ein Opferplatz. Und sein nächster Gedanke war: Dies musste Morija sein, ja genauer noch, die Stelle, die für sein Opfer vorgesehen war. Abraham schaute sich nach Isaak um. Der hatte das Bündel Holz abgelegt und sich darauf gesetzt. Er hatte jetzt seine Müdigkeit überwunden, war gut gelaunt und schaute sich neugierig um. Er wusste, wozu das Holz dienen sollte, das er hierher geschleppt hatte: Sein Vater wollte ein Opfer für JaHWeH darbringen, wie er es schon oft getan hatte. Aber sie hatten kein Opfertier mitgebracht. Das verwunderte Isaak ein wenig, aber er machte sich weiter keine Gedanken darum, sein Vater wusste immer genau, was er tat.
Um den steilen Abhang zu umgehen, mussten Abraham und Isaak ein Stück nach Mitternacht zu ausweichen. In einem weiten Bogen und nach einem kleinen Anstieg erreichten sie die ebene Hochfläche. Am Rande des rechteckigen Areals waren kleine Wälle aus Steinen verschiedener Form und Größe aufgeschichtet. Offenbar hatte man die Fläche freigeräumt und die Steine dort am Rand als Begrenzung und Schutz abgelegt. Abraham suchte sich einige passende Felsbrocken und trug sie mit Isaak in der Mitte der Ebene zusammen. Schweigend bauten sie daraus eine Erhöhung mit quadratischer Grundfläche, dann schichteten sie das Feuerholz darauf.
Lange stand Abraham mit erhobenen Händen vor dem Altar, aber er brachte kein Gebet hervor. Sein Innerstes war angefüllt mit einer einzigen Frage: „Warum? Warum? Warum auch du, JaHWeH? Warum auch du? Alle Götter – und stellvertretend für sie ihre Priester – wollen die Geschenke der Menschen, und Menschenopfer sind ihre liebste Speise. Aber du, JaHWeH, du warst doch immer der, der nicht Geschenke will, sondern der schenkt, der nicht den Tod will, sondern das Leben. Isaak ist doch dein Geschenk. Sein Leben ist doch deine Gabe!“
Abraham ließ die Arme sinken. Einen Gott kann man nicht zur Rede stellen, er ist niemandem Rechenschaft schuldig. Seine Gedanken verfingen sich in den unbeantworteten Fragen wie in einem Fischernetz, das ihn nach unten zog, immer tiefer in einen unergründlichen Strudel.
Dann sah er auf einmal mit großer Klarheit, dass nicht Gott eine Frage zu beantworten hatte, sondern er selbst, Abraham. Die Frage: Was ist mehr: Gehorsam oder Liebe? Was ist es, was den Menschen zum Menschen macht: das Gesetz oder die Barmherzigkeit? „Unser Gottesdienst heißt Gehorsam“. Diesen Satz seines Vaters hatte Abraham seit seiner Kindheit im Ohr und im Herzen. „Wie kannst du sagen, dass du Gott liebst, wenn du seinen Geboten nicht gehorchst?“
Bisher war Abraham ohne jedes Zögern diesem Grundsatz gefolgt und er war dabei nie in einen Konflikt geraten, denn alles was Gott JaHWeH bisher von ihm gefordert hatte, war nichts anderes gewesen als eine noch konsequentere Verwirklichung von Liebe und Barmherzigkeit. Und nun? Kann die Liebe zu Gott sich gegen einen geliebten Menschen richten, kann sie wirklich Gewalt und Mord an einem Menschen, ja an dem eigenen Sohn rechtfertigen? Wenn die Marduk-Priester beim Opferfest in Ur neben jungen Schafen und Ziegen auch die erstgeborenen Kinder der Familien und Sippen opferten, dann hatten sie zuvor den Gläubigen immer und immer wieder eingeschärft, dass diese Opfer nötig waren, um Marduk gnädig zu stimmen, damit er die Familie und die ganze Stadt und das Land vor Unheil bewahre und ihnen Nahrung und Reichtum schenke. So konnten sich die Betroffenen mit dem Gedanken trösten, dass ihr Opfer Heil und Segen brachte für die ganze Gemeinschaft. Womit aber sollte sich Abraham trösten, welchen Sinn sollte sein Opfer ha-ben?
„Unser Gottesdienst heißt Gehorsam“. Mehrmals sprach Abraham diesen Satz fast lautlos vor sich hin. Seine Hand tastete unter dem weiten Umhang nach dem Dolch, der im Gürtel des Untergewands steckte. Er hatte ihn von Terach, seinem Vater, bekommen, da war er nicht viel älter gewesen als Isaak jetzt, seitdem hatte er ihn immer bei sich gehabt. So vertraut war er, fast wie ein Stück von ihm selbst: die matt schimmernde, geschmiedete und geschliffene Klinge aus Bronze, der Griff, mit einem Streifen weichen Leders umwickelt, damit er gut in der Hand lag, am Knauf eine kunstvoll gravierte Verzierung.
Abraham sah hinüber zu Isaak, der während des Gebets seines Vaters wie immer in respektvoller Entfernung und andächtiger Haltung stand. Dann ging er zu seinem Sohn, nahm ihn an der Hand und führte ihn zum Altar. Lange standen sie dort schweigend nebeneinander. Dann band Abraham die Schnur los, die an den Schultern das Gewand seines Sohnes zusammenhielt und ließ es zu Boden fallen. In diesem Augenblick, als er nackt zwischen seinem Vater und dem Altar stand, ging ein erstes Anzeichen erschrockenen Verstehens über Isaaks Gesicht und er wandte sein Gesicht und suchte den Blick seines Vaters.
Aber der stand da mit weit ausgebreiteten Armen und blickte zum Himmel. Dann bemerkte Isaak, dass der Vater seine Augen geschlossen hatte; es sah aus, als lauschte er mit höchster Konzentration und Anstrengung einer Stimme, die nicht zu hören war. Isaak spürte, wie ihm kalt wurde. Er begann zu zittern, als sei um ihn eine der kalten Wüstennächte, bei der man auch im warmen Zelt, unter der warmen Decke, fror. Dabei fühlte er, wie die heiße Mittagssonne auf seiner nackten Haut brannte. Er sah seinen Vater immer noch in der gleichen Haltung stehen und ihm ging der Gedanke durch den Kopf, dass doch ein Mensch niemals so lange seine Arme in dieser Stellung halten konnte.
Der Gedanke fortzulaufen kam Isaak nicht. Er kam ihm einfach nicht, obwohl es so leicht gewesen wäre, fortzulaufen. Er war jung und der Vater alt. Endlich ließ Abraham die Arme sinken und er sah Isaak an. Isaak schien es, als sei jetzt sein Vater so weit entfernt von ihm, dass der Blick die Strecke nicht überwinden konnte und irgendwo zwischen ihnen hängen blieb. Dann nahm Abraham ein Stück Schnur aus einer Tasche in seinem Gewand. Isaak wusste, wozu es da war: Dem Opfertier mussten, bevor es auf den Brandopferaltar gelegt wurde und ihm die Halsschlagader geöffnet wurde, damit es ausbluten konnte, die Beine zusammengebunden werden.
Isaak war es, als wäre er in einem seltsamen Traum, einem Traum, der so weit weg war von ihm und seinem wirklichen Leben, dass er keine Furcht empfand. Der Vater war ja da, warum sollte er sich fürchten? Die Sonne stand jetzt an der höchsten Stelle ihres Tageslaufes. Isaak fror nicht mehr; alles war auf einmal ganz warm und ganz hell und klar.
Nur um Abraham war finstere Nacht. So finster, dass selbst das hellste Licht des hellsten Tages davon verschluckt wurde und nichts davon übrig blieb. Im Finstern tastete er nach seinem Sohn. Im Finstern nahm er ihn in die Arme, zärtlich wie nie zuvor in den vergangenen zwölf Jahren, und trug ihn zum Altar. Im Finstern band er ihm Hände und Füße zusammen. In finsterster Finsternis griff er mit der Hand zu der Stelle im Gürtel, wo das Messer steckte.
* * *
Gehorsam oder Liebe? Gesetz oder Gnade? Abraham war nicht in der Lage, irgendeinen sinnvollen Gedanken zu denken. Nein, seine Gedanken hatten sich selbständig gemacht und spielten mit ihm Fangen und Verstecken. Als er ein Kind war, hatte er mit den Freunden oft Fangen und Verstecken gespielt in Ur. Aber damals wusste man: Wenn das Spiel aus war, dann fanden sich alle Freunde wieder zusammen und alles war wieder gut.
Jetzt aber waren alle seine Gedanken in alle Richtungen davongelaufen. Aus dem Spiel war Ernst geworden, und aus den Freunden Feinde. Sie wollten nicht mehr mit ihm spielen, sie wollten ihn in die Irre führen und in den Wahnsinn treiben: „Dem Gesetz muss man gehorchen und die Gnade muss man lieben, so ist es doch, Gott? Muss man dann die Liebe opfern für das Gesetz, oder muss man das Gesetz opfern für die Liebe? Wie soll man sich entscheiden?“
Abraham hatte das Gefühl, dass beides gleich falsch war, aber er wusste keine richtige Alternative und keinen Ausweg. Seine Gedanken drehten sich im Kreis wie die Tänzer beim Reigentanz. „Muss man der Liebe gehorchen und das Gesetz begnadigen oder muss man der Gnade gehorchen und die Liebe zum Gesetz machen? Ist die Liebe eine Gnade und der Gehorsam ein Gesetz, oder ist das Gesetz gnädig, wenn man der Liebe gehorcht?“ Welch eine heillose Verwirrung!
„JaHWeH, Gott, hilf mir, rede mit mir, dieses eine Mal noch!“ Ohne es zu merken, hatte Abraham diesen Satz laut gesprochen. Aber er hörte keine Antwort. Eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich seiner Seele und er beugte sein Haupt, bis es den rauen Stein des Altars berührte. So blieb er, schweigend im haltlosen Wirbel der Empfindungen, bis sich in seinem verwirrten und gequälten Hirn ein einziger Gedanke festsetzte: „Die Liebe ist bereit, aus Liebe das Liebste opfern, damit der Gehorsam nur der Liebe gehorcht und nicht dem Gesetz, denn die Liebe ist die Erfüllung aller Gesetze“. Abraham spürte wie der Schweiß aus allen Poren seiner Haut drang. Und dann, wie plötzlich aufflackerndes Feuer, mischte sich roter Zorn in den grauen Nebel seiner Trauer: „Ja, aber Du selbst, Gott JaHWeH, würdest Du deinen Sohn, den Du liebst, opfern für die Liebe? Warum verlangst Du von einem Menschen, was kein Gott bereit wäre zu geben?“
Abraham spürte seinen Atem, aber er war wie etwas Fremdes, das gar nicht zu ihm gehörte, während seine Tränen den Deckstein des Altars benetzten. Dann stieg eine alles überwältigende Wärme in ihm auf, und ein Leuchten, wie er es noch nie gesehen hatte. „Ich liebe dich, Gott JaHWeH, ich habe dich immer geliebt, mehr als mein Leben. Und ich liebe meinen Sohn Isaak. Wenn du willst, gebe ich dir mein Leben für ihn, dass er leben kann. Sieh, dieses Messer hier ist groß genug, dass es auch mein eigenes Herz findet. Wenn du aber wirklich Isaak willst, dann gebe ich dir mein Liebstes, aber nicht aus Gehorsam, nein, nie würde ich dir aus Gehorsam meinen Sohn opfern, sondern aus Liebe. Aus reiner, wahrhaftiger Liebe schenke ich dir meinen Sohn. Du wirst nicht schlechter für ihn sorgen, als ich es könnte.“
Abraham schwieg einen Moment, dann fuhr er mit lauter Stimme fort: „Ich vertraue dir an, JaHWeH, mein Leben. Isaak ist mein Leben. Ich bin alt, ob ich heute sterbe oder morgen ist gleichgültig. Wenn Isaak stirbt, ist auch mein Leben zu Ende. Du aber hast verheißen, dass Isaak leben soll und Nachkommen sehen wird, zahlreich wie die Sterne am Himmel. JaHWeH, Gott, Schöpfer des Lebens und Herr über den Tod, nimm unseren Tod und schenke uns dein Leben.“
Er richtete sich auf, um das Opfer zu vollziehen, da sah er den Widder, der mit den gebogenen Hörnern im Gestrüpp am Rande des Opferplatzes hängengeblieben war, und er hörte die Stimme: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen (1. Mose 22, 12).
So hilft Gott dem Abraham, den Bund des Vertrauens, dessen Zeichen die Beschneidung ist, in letzter Konsequenz zu vollziehen: Es geschieht das äußerste Opfer der Hingabe, aber ohne Gewalt und Tod für einen Menschen. Gott sucht unser rückhaltloses Vertrauen, sucht unsere bedingungslose Lebenshingabe, aber eben nicht so, dass das Leben an den Tod hingegeben wird, sondern so, dass das Leben an die Liebe hingegeben wird.
Nicht der Gehorsam, der aus der Furcht kommt, steht auf dem Prüfstand, sondern das Vertrauen, das aus der Liebe kommt. Abraham war der erste, der diesen Unterschied wahrzunehmen begann. Und Gott selbst war es, der ihn zu dieser Wahrnehmung führte. Seitdem ist es keinem, der an den Gott der Bibel glaubt, mehr gestattet, sein Hingabeopfer mit dem Vergießen von Blut eines Menschen (nicht des eigenen und nicht das eines andern) zu vollziehen. Niemand kann mehr meinen, das Wohlwollen Gottes mit (eigenem oder frem-dem) Leid und Schmerz und Tod erkaufen zu können. Die Zuwendung und Barmherzigkeit Gottes ist nicht käuflich, durch keine Kasteiung und kein Selbstmordmartyrium. Das einzig gültige Opfer ist die Liebe, die Gott ganz vertraut und dieses Vertrauen in ganz konkreten Glaubensschritten bestätigt. Wer einem Menschen absichtlich Leid und Schmerz zufügt, gleich mit welcher Begründung, kann sich ganz gewiss nicht darauf berufen, Gott einen Gefallen zu tun. Ein Märtyrertum, das meint, das eigene Leben opfern zu sollen, um den „Ungläubigen” oder „Feinden” zu schaden und sie im „Heiligen Krieg” zu töten, dient dem Geist des Hasses und des Todes, gewiss aber nicht dem Gott Abrahams. Ein Mensch kann nur dann im biblischen Sinne ein Märtyrer genannt werden, der um des Glaubens willen durch andere Gewalt erleidet, niemals einer, der um des Glaubens willen anderen Gewalt antut. Freilich kann die Lebenshingabe an die Liebe in äußerster Konsequenz auch bedeuten, dass dadurch das Leben eines Liebenden an das Widergöttliche im Menschen, an die Macht des Hasses und der Gewalt ausgeliefert wird. So geschah es vor zweitausend Jahren am Kreuz von Golgatha und so geschieht es in extremen Situationen bis heute. Die Hingabe Jesu, sein schrecklicher Tod am Kreuz war Selbsthingabe Gottes, und die kam aus der Liebe Gottes und nicht aus seiner Lust an Rache und Opfer. Der Gott der Bibel ist ein Gott des Lebens und der Liebe. Und der hatte Abraham erwählt, um mit ihm und seiner Familie ein ganz neues Kapitel seiner Heilsgeschichte mit den Menschen zu beginnen.
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Bodo Fiebig „Gehorsam oder Liebe“, Version 2020-5
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