1, Mose 12, 1-3: Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. So beschreibt die Bibel die Erwählung und Berufung Abrahams. Sie nennt zuerst die entscheidende Voraussetzung dafür: Das Vertrauen Abrahams (siehe Abschnitt 2) zu Gott, durch das er sich auf den Weg ins Ungewisse macht, allein auf die Aufforderung und Zusage Gottes hin. Als Zweites enthält die Erwählung Abrahams große Verheißungen für ihn persönlich: Seine Nachkommen werden ein großes Volk werden und er selbst wird Anfang einer langen Segenskette sein. Als Drittes erfährt Abraham hier seine Berufung: All das Verheißene ist nicht nur für ihn selbst da, auch nicht nur für das Volk seiner Nachkommenschaft, sondern für alle Geschlechter (wörtlich: Sippen, Großfamilien, Stämme) auf Erden (wörtlich: auf dem von Menschen bewohnbaren Land).
Die Erwählung* Abrahams besteht also darin, Segen zu empfangen und weiterzugeben und somit Erstling in der Reihe der (von Gott) Gesegneten zu sein, in einer Reihe, in die Gott alle Menschen aus allen Völkern und Volksgruppen rufen und mit einbeziehen will. Trotz dieser weitreichenden Berufung, die alle Menschen im Blick hat, ist die Erwählung Abrahams immer wieder zum Anstoß und Ausgangspunkt von Neid, Misstrauen, Missgunst und Feindschaft geworden. Wie war das möglich?
* Siehe dazu auch im Thema „Konfliktherd Heiliges Land?”, Beitrag 5: „Streit um die Erwählung”.
In den vergangenen Jahrhunderten ist „Erwählung” immer als Bevorzugung (miss-)verstanden worden, als Höherwertung und Besserstellung, die automatisch mit einer Zurücksetzung und Benachteiligung, ja Erniedrigung anderer verbunden ist. Das aber ist ein schreckliches und folgenschweres Missverständnis. Ich will das anhand einer Gleichnisgeschichte verdeutlichen.
Stellen wir uns vor: Ein Heerführer (Gott wird in der Bibel auch JaHWeH Zebaoth, also „Herr der Heerscharen” genannt) mustert seine „Mannschaften” (die „Geschlechter” der Menschheit). Es geht dabei um die Frage, welche Mannschaft (also welche Sippe, welchen Stamm, welches Volk) soll er wählen, welche kann er berufen für eine besondere Aufgabe? Und es geht dabei um eine besonders schwere und außerordentlich gefährliche Aufgabe: Die Mannschaft, die er auswählt, soll als Vorhut, als Voraustruppe von Erstlingen und Pionieren, in ein von feindlichen Mächten besetztes Gebiet gehen, um da einen Weg zu bahnen für die nachfolgenden Mannschaften, die dann das Land nach und nach erobern sollen.
Das „Land”, um das es da geht, ist kein geografisches Gebiet, es ist die Zeit, ein „Zeitgebiet”, das Jahrhunderte und Jahrtausende umfasst. Da hindurch soll ein Weg gebahnt werden, ein Weg, den dann auch die nachfolgenden Völker gehen können, ein Weg, der zum Ziel der Zeit führt, zum Segen und zum Heil bei Gott.
Die feindlichen Mächte in diesem Gebiet, das sind, um nur einige Beispiele zu nennen, der Egoismus, der Hochmut, die Habgier, der Machthunger, die Verführung, der Neid, der Betrug, die Hinterhältigkeit, die Lüge, die Verleumdung, der blindwütige Hass, die ungehemmte Gewalttätigkeit, der bedenkenlose Mord… Da hindurch soll der Vortrupp einen Weg bahnen, damit dann auch die nachfolgenden Völker das Ziel der Zeit, das Heil und den Segen bei Gott erreichen können. Ja, es geht um alle Völker und um die ganze Schöpfung, denn wenn die Völker der Erde nicht das Ziel der Zeit erreichen und nicht zum Heil bei Gott finden, dann hat diese ganze Schöpfung ihren Sinn verfehlt, dann ist alles verloren.
Allerdings: Der Weg durch die Zeit wird von Anfang an, und später immer deutlicher, für diese „Vorhut“ ein Leidensweg und ein Todeskommando. Nur wenige werden durchkommen. Siehe dazu den Themenbeitrag „Hitlers Kampf” und dort besonders den Abschnitt „Das Opfer”.
Und Gott mustert die Völker der Erde und trifft seine Entscheidung: Israel. Warum Israel? Gott erwählt Israel (so sagt er es selbst), weil es das Kleinste ist unter allen Völkern (d. h. wenn Gott schon eines seiner Völker opfern oder zumindest in große Gefahr senden muss, dann soll es wenigstens das Kleinste sein). 5. Mose 7, 7-8: Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat.
Und Gott erwählt Israel, weil er dieses Volk liebt (Gott liebt alle Völker gleich, aber diesem kleinsten Volk hat er seine Liebe öffentlich bekannt und so könnte niemand behaupten: „Er hat ein Volk geopfert, weil es ihm gleichgültig war, oder weil er es nicht mochte”). Und Gott erwählt Israel, weil es „ja” sagt zu seiner Berufung und zu dem Bund, den Gott mit ihm schließt, welcher unter anderem besagt, dass er einen „kleinen Rest” dieses Volkes hindurch bringen wird bis zum Ziel. Nein, die Erwählung Israels ist keine Bevorzugung, ganz gewiss nicht, sondern eine Erwählung als Opfer, als Opfer für das Heil und die Segnung der Völker. „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden (1.Mose 12, 3).
Gott erwählt durch die ganze Heilsgeschichte hindurch Einzelne (auch einzelne Völker) grundsätzlich nur, um das Ganze zu retten, zu segnen und voranzubringen bis hin zur Vollendung. Es war das furchtbarste Missverständnis der Menschheitsgeschichte, als Christen (die ja auch zum Volk Gottes gehören sollen, als „Hinzuberufene” und „Fremdlinge” aus den Nationen) begannen, die Juden zu hassen, wegen ihrer Erwählung und als sie anfingen, sich selbst an ihre Stelle zu setzen als die neu und allein „Erwählten”, die nun alle Verheißungen Israels „ererbt” hätten, nachdem Israel wegen seines Ungehorsams verworfen sei. Und diese Fehl-Deutung der Erwählung Israels wirkt fort, bis heute. Die Erwählung Israels und das Land Israel, das sind gegenwärtig „hot-spots”, Entzündungsherde im politischen Weltgeschehen, die schlimmstenfalls einen neuen Weltbrand auslösen können.
Wir erleben in der gegenwärtigen Weltlage, dass die Frage der Erwählung auch auch heute missbraucht und politisch genutzt werden kann. Es gibt (in der arabischen Welt, und nicht nur dort) Mächte und Bewegungen genug, die in einer Radikalisierung der Feindschaft gegen Israel und die „Westliche Welt” ein erfolgversprechendes Mittel sehen, Kräfte zu mobilisieren, die man dann für den eigenen Machtgewinn einsetzen kann. Je höher die Spannung ist zwischen der tatsächlichen, oft sehr unbefriedigenden Lage, in der sich die Mehrheit der Menschen in den islamischen Ländern vorfindet und der Überhöhung der „eigentlichen Erwählung”, die man ihnen zuspricht, um so größer und gewalttätiger sind die Energien, die man freisetzen und für bestimmte politische Ziele nutzen kann.
Der „Streit um die Erwählung“ ist nicht zu schlichten und nicht zu beenden, solange man göttliche Erwählung als Bevorzugung und Besserstellung versteht. Die Erwählung Abrahams war ein „Bund des Vertrauens“, eine Erwählung zum Wagnis des Glaubens, das seine Nachkommenschaft im Judentum mehrmals in seiner Geschichte bis an den Rand der Vernichtung geführt hat.
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Bodo Fiebig „Erwählung“, Version 2020-5
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