Heute geht es, wenn vom „Erbe” Abrahams die Rede ist, nicht nur um die Verheißung und den Segen (siehe den vorigen Beitrag), sondern vor allem um das Land. Der Besitz des „Heiligen Landes” und noch mehr der Stadt Jerusalem wird zum Streit-Objekt und Prestige-Projekt zwischen Völkern und Religionen. Als nun Lot sich von Abram getrennt hatte, sprach der HERR zu Abram: Hebe deine Augen auf und sieh von der Stätte aus, wo du wohnst, nach Norden, nach Süden, nach Osten und nach Westen. Denn all das Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen geben für alle Zeit und will deine Nachkommen machen wie den Staub auf Erden. Kann ein Mensch den Staub auf Erden zählen, der wird auch deine Nachkommen zählen. Darum mach dich auf und durchzieh das Land in die Länge und Breite, denn dir will ich’s geben (1. Mose 13, 14-17). So lautet die zweite* (und ausführlichere) Landverheißung an Abraham. Direkt davor wird erwähnt, dass Abraham zu der Zeit „im Lande Kanaan” wohnte (13,12). Von dort aus soll er sich umsehen in alle Himmelsrichtungen. Alles Land, das er da sieht, will Gott Abrahams Nachkommen geben „für alle Zeit”. Um diese „Landverheißung” an Abraham wird seit fast viertausend Jahren gestritten (Siehe das Thema „Konfliktherd Heiliges Land?”).
* Beim ersten Mal (1.Mose 12) wird ihm zugesagt: „Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben” (12,7), gemeint ist das „Land Kanaan” (12, 5), genauer die Umgebung von Sichem/Nablus (12,6).
Aber, welches Land mit welchen Grenzen ist genau gemeint? Und wem genau ist es zugesagt? Die Ausdehnung des „verheißenen Landes” ist hier nur sehr vage angegeben: Abraham soll sich umschauen und alles Land, das er von seinem Standort aus sehen kann, soll ihm und seinen Nachkommen gehören. Nur weiß man nicht genau, wo sich Abraham damals befand und wie weit man vor dort aus sehen konnte.
Bei der ersten Landverheißung (1. Mose 12, 7) ist von Sichem die Rede. Wenn wir Sichem als Ort der Verheißung annehmen, bleibt trotzdem die Frage: Befand Abraham sich in dem Augenblick, als die Stimme Gottes zu ihm redete, im Ort Sichem (also im Tal) oder oben auf dem Berg Garizim? Je nachdem würde der Augen-Blick, zu dem Gott ihn auffordert, sehr viel weniger oder mehr Land erfassen. Wir wissen also nicht, wo genau „im Lande Kanaan” sich Abraham zu der Zeit dieser Landverheißung aufhielt und deshalb sind auch keine Grenzen erkennbar für das Land, das Abraham vor dort aus sehen kann und das sein Besitz werden soll.
Wir können nun viel spekulieren und verschiedene mögliche Standorte Abrahams ausprobieren, wie weit man von da aus sehen könnte, aber es hilft nichts: Eine befriedigende oder gar konsensfähige Bestimmung des dem Abraham zugesprochenen Landes ist nicht zu erreichen. Offenbar wollte Gott ganz bewusst keine geografischen Markierungen (Berge, Flüsse, Orte …) angeben, um damit das Land einzugrenzen. Abraham soll dieses ihm verheißene Land durchziehen, aber nicht als sesshafter Bewohner, sondern als nomadisierender Viehhirte! Darum mach dich auf und durchzieh das Land in die Länge und Breite, denn dir will ich’s geben (1. Mose 13, 17). Und Abraham schlägt nun keine Pflöcke ein und setzt keine Grenzsteine. Er baut keine Grenzbefestigungen, sondern er baut einen Altar (13,18), wie schon bei Sichem und an anderen Orten: Und Abram zog weiter mit seinem Zelt und kam und wohnte im Hain Mamre, der bei Hebron ist, und baute dort dem HERRN einen Altar.
Abraham gibt sein „Leben als Glaubenswanderschaft” nach der Landverheißung nicht auf. Er bleibt bewusst in unmittelbarer Abhängigkeit von der Begleitung, Wegweisung und Hilfe Gottes. Er baut kein festes Haus aus Stein (als Zeichen für Sesshaftigkeit und Selbstschutz), sondern wohnt weiterhin im Zelt (dem Zeichen der Heimatlosigkeit und des Unterwegs-Seins und des Angewiesenseins auf Schutz und Fürsorge Gottes)*. Er vertraut darauf, dass Gott die Verheißungen für seine Nachkommen wahrmachen wird, aber er versucht nicht, ihre Erfüllung selbst schon in Gang zu setzen. Abraham durchzieht das Land im Glauben, dass Gott seine Zusage wahr machen und das Land (wo immer es dann gelegen wäre und wie immer es dann begrenzt sein würde) seinen Nachkommen geben wird. Aber er selbst versucht nicht, das verheißene Land zu erobern, sondern das einzige Stück Land, das er zum Eigentum haben will, ist ein Begräbnisplatz für seine verstorbene Frau Sara. Und für den bezahlt er (ohne lange zu feilschen, wie es sonst üblich war) den genannten (sehr hohen) Preis, obwohl ihm ja (der Verheißung nach) dieses Land schon gehört.
* Ein Rest von dieser Urerfahrung des wandernden Gottesvolkes ist noch im jüdischen Laubhüttenfest bewahrt (3. Mose 23, 33-43): Sieben Tage lang sollen die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs in Hütten wohnen, ohne den Schutz starker Mauern, ohne die Sicherheit eines festen Daches, angewiesen auf Schutz und Sicherheit bei Gott. Und das auch heute noch in modernen Städten mit Häusern aus Beton und Stahl …dass euere Nachkommen wissen, wie ich die Israeliten habe in Hütten wohnen lassen als ich sie aus Ägypten führte. Ich bin der Herr, euer Gott (Vers 43).
Abraham braucht keine Grenzen für das ihm verheißene Land, weil er es zwar bewohnen, aber nicht als Eigentümer für sich in Anspruch nehmen will. Erst bei einer späteren Wiederholung der „Landverheißung” (1. Mose15, 7-21) werden dann doch geografische Angaben gemacht, die aber nur noch sehr wenig gemein haben mit dem „Land, das Abraham in Kanaan sieht” (Verse 18-21 Einheitsübersetzung): An diesem Tag schloss der Herr mit Abram folgenden Bund: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom Eufrat, (das Land) der Keni-ter, der Kenasiter, der Kadmoniter, der Hetiter, der Perisiter, der Rafaïter, der Amoriter, der Kanaaniter, der Girgaschiter, der Hiwiter und der Jebusiter. Hier wird ein Gebiet benannt, das vom Wadi El-A-rish im Sinai (oder doch vom Nil? Die Rede ist wörtlich nur vom „Bach Ägyptens”) bis zum Euphrat im heutigen Irak reicht. Diese Angaben beziehen sich aber ausdrücklich erst auf die Zeit nach der Sklaverei in Ägypten. Sie klingen hier eher wie ein Wunschtraum und der Text bestätigt, dass Abraham diese Offenbarung im Zustand eines „tiefen Schlafes” empfängt (Vers 12). Trotzdem sind sie gültige Verheißung Gottes, aber eben nicht als Eigentumsübergabe, sondern als Herausforderung des Glaubens.
Jahrhunderte später, vor der Landnahme unter Josua, werden solche konkreten Ortsangaben wiederholt: 5. Mose 34, 1-4): Und Mose stieg aus dem Jordantal der Moabiter auf den Berg Nebo, den Gipfel des Gebirges Pisga, gegenüber Jericho. Und der HERR zeigte ihm das ganze Land: Gilead bis nach Dan und das ganze Naftali und das ganze Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis an das Meer im Westen und das Südland und die Gegend am Jordan, die Ebene von Jericho, der Palmenstadt, bis nach Zoar. Und der HERR sprach zu ihm: Dies ist das Land, von dem ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe: Ich will es deinen Nachkommen geben. – Du hast es mit deinen Augen gesehen, aber du sollst nicht hinübergehen.
Abraham bekommt das verheißene Land zugesagt für sich und seine Nachkommen, aber nicht als Eigentum, sondern als eine Art Erb-Lehen. Eigentümer ist und bleibt Gott selbst. „ … denn die ganze Erde ist mein” (2. Mose 19, 5). Das Eigentums-Recht Gottes wird in 3. Mose 25, 23 noch einmal besonders betont: Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer; denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir.
Aus diesem Recht als Eigentümer des Landes bestimmt Gott auch, wie dieses Land genutzt werden soll (3. Mose 19,9): Wenn du dein Land aberntest, sollst du nicht alles bis an die Ecken deines Feldes abschneiden, auch nicht Nachlese halten. Auch sollst du in deinem Weinberg nicht Nachlese halten noch die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen; ich bin der HERR, euer Gott. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass das Land nicht den jeweiligen Bewohnern bedingungslos gehört, sondern dass es nur auf Zeit verliehen ist und der Eigentümer (also Gott selbst) bestimmen kann, wie es genutzt werden soll.
Das Land ist Abraham und seinen Nachkommen verheißen, aber nicht als bedingungsloses Eigentum, sondern als Lebensraum, damit sie da durch ihre Lebensweise den Segen Gottes sichtbar und erfahrbar machen als Vorbild und Anreiz für „alle Geschlechter auf Erden”. Nur wenn das geschieht (z. B. dadurch, dass die Früchte des Landes auch für die Armen und Fremdlinge da sind und nicht nur für die Besitzenden, oder dadurch, dass die Nachkommen Abrahams die Mahnungen ihrer Propheten beachten, z. B. Jes 1,17: Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache), nur dann ist Israel auch Besitzer des Landes im Sinne der Verheißung. Die Landverheißung an Abraham und seine Nachkommen ist an deren Berufung geknüpft: …in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Nur wenn Israel (als Volk der Nachkommenschaft Abrahams) so lebt, dass durch das Beispiel ihrer Gemeinschaft und durch die Botschaft ihres Glaubens die Völker ihrer Nachbarschaft und schließlich „alle Geschlechter auf Erden” gesegnet werden, nur dann ist ihre Landverheißung auch aktuell gültig.
Das wird bei Jesaja noch einmal besonders betont in seinem bekannten „Weinberglied” (Jes 5): Der Prophet singt vom Weinberg seines Freundes, in den dieser edle Reben gepflanzt hatte, der aber nicht die erwartete Ernte brachte (Vers 7): Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, sie-he, da war Geschrei über Schlechtigkeit. Was war geschehen? Der „Freund”des Propheten ist Gott selbst. Und der klagt über seinen „Weinberg”, (das Volk Israels und Judas in ihrem von Gott gegebenen Land, Vers 4): Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? Und er nennt einige konkrete Fehlverhalten in seinem Volk (Vers 8): Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und sie allein das Land besitzen! Oder Vers 18: Weh denen, die das Unrecht herbeiziehen mit Stricken der Lüge und die Sünde mit Wagenseilen. Der „Freund” findet Egoismus und Völlerei in seinem „Weingarten” und Gewissenlosigkeit bis hin zur völligen Verdrehung von Recht und Unrecht (Vers 20): Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen! Schließlich bleibt dem „Freund” nichts anderes übrig, als seinen Weinberg sich selbst zu überlassen und damit der Zerstörung preiszugeben (Vers 5): Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinbergtun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde.
Wir sehen: Die Landverheißung an Abraham und seine Nachkommen gilt, aber sie gilt nicht bedingungslos. Sie kann auch wieder (für eine bestimmte Zeit) verloren gehen. Wirklich ungültig und zunichte kann sie aber nur durch eben dieses Volk der Nachkommenschaft Abrahams selbst gemacht werden, und zwar dadurch, dass dieses Volk in seinem Zusammenleben nicht zum Anschauungsobjekt des Segens wird, sondern zum Schandbild des Egoismus und des Unfriedens und das verheißene Land zum Schauplatz von Unrecht und Unterdrückung.
Die Landverheißung gilt „Abraham und seinen Nachkommen”. Zu der Zeit, als sie ausgesprochen wurde, war Abraham aber noch kinderlos. Deshalb werden hier auch keine Namen genannt. Seine später geborenen Nachkommen waren Ismael (von Hagar) und Isaak (von Sara), und später nach dem Tode Saras noch mehrere Kinder von Ketura. Kurz vor seinem Tod bestimmte Abraham, dass nur Isaak als Erbe eingesetzt wird, gab aber doch allen anderen noch zu seinen Lebzeiten einen Anteil seines Vermögens als Geschenk.
Welche Kinder Abrahams sind also die „Nachkommen” im Sinne der „Landverheißung”? Und wem gehört das Land jetzt im 21. Jahrhundert? Isaak und seinen Nachkommen oder Ismael und den Ismaeliten oder beiden, oder doch allen Kindern Abrahams (auch den Töchtern, die sonst gar nicht weiter erwähnt werden)? Die Antwort auf diese Frage ist nicht so schwierig, wie es auf den ersten Blick aussehen mag, im Gegenteil, sie ist ganz einfach: Die Verheißung gilt von Anfang an und durch alle Jahrhunderte hindurch und jetzt immer noch den Kindern Abrahams, durch die jetzt, in unserer Gegenwart, die Berufung Abrahams verwirklicht wird: …in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Fragen wir also: Von welchen „Kindern” Abrahams ging und geht heute mehr Segen aus, also „Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Mäßigung (Gal 5, 22) für die Völker der Welt? Durch die Nachkommen Ismaels, also die heutigen moslemischen Araber, oder die Nachkommen Isaaks, also die heutigen jüdischen Israelis? (Die Kinder der Ketura lassen sich heute kaum noch gegenwärtigen Völkern und Stämmen zuordnen).
Für die Vergangenheit ist diese Frage eindeutig beantwortet: Die Völker der Erde wurden durch Israel gesegnet. Aus der Erblinie Abrahams, Isaaks und Jakobs kam der „Gesalbte Gottes”, Jesus von Nazareth, durch dessen Tod und Auferstehung „alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben” (Jo 3, 16) und durch dessen Jünger und Boten der Segen Gottes an Abraham „in alle Welt” (Mk 16,15) ging. Für die Gegenwart möge jede/r, so ehrlich er/sie kann, diese Frage für sich beantworten anhand der realen Vorgänge im Nahen Osten in unserer Gegenwart.
Für mich selbst wurde im Laufe der Jahre und Jahrzehnte und auch bei Reisen in das „Heilige Land” und in Jordanien und Ägypten viel Segen sichtbar, der von Israel ausgehend den Völkern in der Umgebung zugute kam und kommt, auch wenn eben diese Völker Israel bekämpfen und verfluchen. Aber: Es ist schon beim ersten Blick einsichtig und überzeugend, dass weder die Teile des Islam im „Nahen Osten”, von denen gegenwärtig Terror, Hass, Gewalt, Mord und Krieg ausgehen, noch die Teile des israelischen Judentums, die rücksichtslos und ungerecht gegenüber den Palästinensern in den „besetzten Gebieten” vorgehen (ebenso wie jene Teile des Christentums früherer Jahrhunderte, die das „Heilige Land” gewaltsam zu erobern versuchten) zu den „Erben” des Landes gezählt werden können, von denen Segen ausgeht „für alle Geschlechter auf Erden“.
Eines aber ist klar und eindeutig: Das verheißene Land können nur diejenigen erben und nur diejenigen können als dauerhafte Bewohner des Landes die Verheißungen der Landzusage an Abraham für sich in Anspruch nehmen, die bewusst ihr Leben und Glauben darauf ausrichten, dass es zum Segen wird, für die Sippen, Stämme und Völker, die im Gebiet der engeren und weiteren Landverheißung wohnen, ja schließlich für alle Menschen in allen Ländern der Erde. Nur jene, die sich ernsthaft darum bemühen, sind wahre „Kinder Abrahams“.
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Bodo Fiebig „Die Landverheißung“, Version 2020-5
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