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Thema: B Jesus – der Weg

Beitrag 6: Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? (Bodo Fiebig26. Februar 2020)

Mirjam hörte schon lange nicht mehr hin, wenn die Nachbarinnen tuschelten. Seit dreißig Jahren zerrissen sie sich die Mäuler. „Mirjam und ihre Söhne“, dieses Thema gab Stoff genug für Klatsch und Tratsch, das reichte leicht für nochmals dreißig Jahre.

Josef lebte nicht mehr. So leise und unauffällig wie er gelebt hatte, so leise war er von ihr gegangen. Als er am Abend von der Arbeit in der nahegelegenen aufblühenden Provinzhauptstadt Sephoris nicht zurückkam, machte sich Mirijam keine Sorgen. Oft musste Josef mehrere Tage auf einer Baustelle ausharren, bis eine schwierige Bauphase überstanden war.

In Sephoris wurden ganz andere Häuser gebaut als hier in dem winzigen Dorf Nazareth: Prächtige, repräsentative Gebäude im Stil römischer Villen. Hohe Beamte, geschäftstüchtige Kaufleute und skrupellose Steuerneintreiber ließen ihren Reichtum glänzen. Die Bauarbeiter kamen aus den umliegenden Dörfern, wohnten selbst in primitiven Hütten, hofften, ein klein wenig abzubekommen vom großen Geld. Aber viel blieb nicht übrig vom Verdienst eines Tagelöhners, wenn der Anteil für das Essen und die Unterkunft abgezogen war.

Josef war da besser dran, er war „Tekton“, Fachmann für schwierige Konstruktionen in Holz und Stein. Solche Leute wurden gesucht und recht gut bezahlt. Am nächsten Tag brachten einige Nachbarsfrauen die Nachricht mit, als sie vom Markt in Sephoris zurückkamen: Es war ein Unfall geschehen. Ein ungenügend gesichertes Gerüst war eingestürzt. Es hatte mehrere Verletzte gegeben, Josef war einer von ihnen.

Miriam war sofort mit Schimon und Jehuda, den beiden von ihren fünf Söhnen*, die noch zu Hause wohnten, nach Sephoris geeilt. Obwohl es unterwegs schon dunkel wurde, schafften sie es in weniger als zwei Stunden. Sie fanden Josef in einem Verschlag, der einem der Bauarbeiter als Nachtquartier diente, dort hatte man ihn hingelegt und meist allein gelassen. Ab und zu hatte jemand bei ihm hereingeschaut und ihm etwas zu trinken gegeben. Mehr Zeit war nicht geblieben, der Vorarbeiter trieb die Tagelöhner unerbittlich zum Weiterarbeiten an. Äußerlich schien Josef kaum verletzt, er klagte aber über große Schmerzen im Rücken. Seine Beine schienen gänzlich gefühllos, als gehörten sie nicht zu ihm. Mirjam wachte die ganze Nacht an seinem Lager, Schimon und Jehuda blieben abwechselnd bei ihr.

* Vgl. Mt 13,55 und Mk 6,3

Als es hell wurde, versuchte Schimon einen Arzt aufzutreiben. Er kam mit einem weiß-haarigen, lebhaften Mann zurück, dem es sichtlich unangenehm war, hier in einer schmutzigen, stinkenden Hütte einen Kranken aufzusuchen. Er redete ununterbrochen davon, welche großartigen Erfolge er bei Magenbeschwerden und Herzleiden mit seinen weithin bekannten Kräuterkuren hätte. Josef schaute er nur kurz an, versuchte seine Beine zu bewegen, was wieder starke Schmerzen verursachte, machte ein bedenkliches Gesicht, zuckte mit den Schultern, verlangte sein Geld und ging. Unterdessen hatten Schimon und Jehuda eine Trage gebaut. Sie wollten ihren Vater nach Hause tragen, wo Mirjam ihn besser versorgen konnte. Als sie ihn auf die Trage legten, schrie Josef kurz auf, dann schwieg er, bis sie zu Hause waren.

Die beiden jungen Männer mussten die Trage oft absetzen, bis sie den Weg über den Hügel und zwischen den Feldern hindurch geschafft hatten. Mirjam polsterte Josefs Bett mit allem was sie hatte, um ihm das Liegen zu erleichtern. Es schien ihm besser zu gehen und er konnte ein wenig essen. Sie wachte die zweite Nacht bei ihrem Mann, bis sie die Müdigkeit doch überwältigte. Als sie aufwachte, fand sie Josef in einer seltsam verrenkten Haltung in seinem Bett und es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriffen hatte, dass er tot war. Ein gutes Jahr war das nun her.

Jeschuah, ihr ältester Sohn, war lange Jahre wie verschollen gewesen. Dann, vor ein paar Monaten, war er plötzlich wieder aufgetaucht, ernster und zurückhaltender als je. Er war nur wenige Tage bei ihr geblieben. An einem Abend, als sie allein waren, sagte er zu ihr: „Es ist so weit. Das Königreich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ Mirjam, wusste, was das bedeutete: Dies war der Augenblick, den sie so sehr erhofft und noch mehr gefürchtet hatte.

Am nächsten Tag war er weggegangen, nach Kfar Nahum am See. Zuerst wohnte er eine Weile bei Savdai und Mirjams Schwester Schlomit, war viel mit Ja-akov und Jochanan, deren Söhnen, zusammen. Dann lebte er meistens, wenn er in Kfar Nahum war, im Haus von Schimon Ben Jochanan, der mit seinem Bruder Andreas von Beth Zaida dorthin umgezogen war.

Überhaupt schien sich jetzt die Davids-Bewegung, oder das, was davon noch vorhanden war, im Wesentlichen auf Kfar Nahum zu konzentrieren. Eine Gruppe von Wanderarbeitern, die, von Beth Zaida kommend, unterwegs nach Cäsarea am Meer war, brachte die Nachricht als erste mit: Jeschuah zog mit einigen jungen Männern von Ort zu Ort durch ganz Galiläa und verbreitete dort die Nachricht vom nahe gekommenen Königreich Gottes. Er hatte offensichtlich eine ganze Anzahl von schwer kranken Menschen geheilt, und das schien viele zu überzeugen: Der verheißene König, der Gesalbte aus dem Hause David, war erschienen. Würde jetzt eine neue, bessere Zeit beginnen?

In Nazareth rief diese Nachricht sehr unterschiedliche Reaktionen hervor: Einige wurden neugierig und wollten bei nächster Gelegenheit erkunden, was da in Kfar Nahum vor sich ging. Vielleicht war doch etwas dran, und ein Sohn ihrer Stadt würde König werden; das konnte doch für Nazareth nur von Vorteil sein.

Die meisten aber wussten es besser: Sie kannten den Sohn der Mirjam von Kindheit an. War er nicht der Sohn des Zimmermanns? Und lebten nicht seine jüngeren Brüder und seine Schwestern noch hier in Nazareth? Was sollte dann das Gerede von einer angeblichen königlichen Abstammung? Freilich gab es schon von Anfang an Gerüchte, dass es bei der Schwangerschaft und Geburt des ersten Sohnes der Mirjam nicht ganz koscher zugegangen war. Aber man wusste nichts Genaues. Josef selbst hatte sich nie zu diesen Gerüchten geäußert.

Freilich, das Verhältnis zu seinem ältesten Sohn schien nie sehr eng und herzlich zu sein. Schließlich war dieser verschwunden und niemand schien zu wissen, wo er sich herumtrieb. Naja, wenn schon die Mutter so eine war …, der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm! Bloß gut, dass Josef das nicht mehr erleben musste, was sein ältester Sohn jetzt für seltsame Dinge trieb! Jeschuah musste doch jetzt schon über dreißig sein. Der sollte endlich was Ordentliches arbeiten, statt sich herumzutreiben und große Reden zu führen! Jedenfalls, wenn er mal nach Nazareth käme mit diesen Leuten, die er da um sich gesammelt hatte, sie würden ihm schon seine Flausen austreiben und ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen!

Seit dem Tod Josefs lebte Mirjam sehr zurückgezogen. Selbst mit den Familien, in die ihre beiden Töchter eingeheiratet hatten, hielt sie wenig Kontakt. In den letzten Wochen vermied sie es, soweit es möglich war, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Am meisten hasste sie es, sich zum Wasserholen am Brunnen anzustellen. Der Brunnen, das war die wichtigste Nachrichten-Tauschstelle des Dorfes. Wenn es etwas Neues zu erfahren gab, dann zuerst hier. Freilich bestanden die „Nachrichten“ zum allergrößten Teil aus Klatsch und Tratsch. Und oft dauerte das „Wasserholen“ für die Frauen aus Nazareth sehr lange, solange eben, bis man alle Neuigkeiten ausgetauscht, alle Gerüchte ausgiebig durchgehechelt, alle Familiengeschichten eingehend durchleuchtet und alle „Nettigkeiten“ und Sticheleien angebracht hatte. Wenn Mirjam dazu kam und sich in die Reihe stellte, verstummten erst einmal alle Gespräche; dann begann man betont „unauffällig“ vom Brotbacken oder vom ausbleibenden Regen zureden.

Am liebsten hätte Mirjam einen ihrer Söhne zum Wasser holen geschickt. Aber das war undenkbar. Wasser holen war Frauensache und ein junger Mann mit dem Eimer am Brunnen wäre für alle Zeit der Lächerlichkeit preisgegeben. So bemühte sich Mirjam, entweder ganz früh oder erst spät zum Brunnen zu gehen, wenn nur wenige Frauen Wasser schöpften, und so die Wartezeiten zu verkürzen.

Sehr schmerzlich für Mirjam war es, dass auch ihr zweiter Sohn Ja-akov (oder wie Josef ihr gegenüber einmal betont hatte „sein Erstgeborener“) nicht mehr da war. Ja-akov war von Anfang an ein verschlossenes, in sich gekehrtes Kind gewesen, von einer Ernsthaftigkeit und Genügsamkeit, die seine Mutter manchmal erschreckte.*

*Eusebius von Cäsarea (ca. 260-339) zitiert Hegesippus, „einen der ersten Nachfolger der Apostel“ in „Kirchengeschichte“ zweites Buch, Kapitel 23: Die Kirche wurde übernommen von den Aposteln und Jakobus, dem Bruder des Herrn, der von den Zeiten des Herrn an bis auf unsere Tage allgemein „der Gerechte“ genannt wurde; denn es gab noch viele, die den Namen Jakobus führen. Schon vom Mutterleib an war er heilig. Wein und geistige Getränke nahm er nicht zu sich, Eine Schere berührte nie sein Haupt, noch salbte er sich mit Öl oder nahm er ein Bad. Jakobus allein war es gestattet das Heiligtum zu betreten, denn er trug kein wollenes, sondern ein leinenes Gewand. Allein pflegte er in den Tempel zu gehen, und man fand ihn auf den Knien liegend und für das Volk um Verzeihung flehend. Seine Knie wurden hart wie die eines Kamels, da er ständig auf den Knien lag, um zu Gott zu beten, und ihn um Verzeihung für sein Volk zu bitten.“

Das Verhältnis Ja-akovs zu seinem älteren Bruder Jeschuah war seltsam zwiespältig: Manchmal schienen sie einander sehr nah, dann wieder war es wie eine unsichtbare Mauer zwischen den beiden. Jeschuah und Ja-akov waren die Einzigen, denen die Eltern etwas von der Abstammung aus den Hause Davids gesagt hatten, die jüngeren Brüder und die Schwestern wussten nichts davon.

Nicht lange nachdem Jesuschah weggegangen war, war auch Ja-akov verschwunden. Nur selten erreichte die Eltern eine Nachricht, dass er irgendwo gesehen worden war. In letzter Zeit hatte er offensichtlich engeren Kontakt zu den Essenern und der Gemeinschaft von Qumran gehalten.

Mirjam fasste den Eimer fester, als sie den Platz vor dem Brunnen erreichte. Dann atmete sie auf. Nur Mirjam aus Magdala, ein junges Mädchen, etwa 14-15 Jahre alt, das seit ein paar Monaten, als ihre Eltern plötzlich verstorben waren, bei Verwandten hier in Nazareth lebte, war da und zog gerade das Schöpfgefäß über die Seilwinde aus dem Brunnenschacht. Das Mädchen grüßte wie es sich gehörte. Dann wandte sie sich Mirjam zu und fragte ein wenig schüchtern: „Man erzählt so viel von Jeschuah, deinem Sohn, wird er auch nach Nazareth kommen? Man sagt, er verkündigt das Reich Gottes, ich … ich würde gern mehr davon hören.“

Mirjam sah in das junge, offene Gesicht des Mädchens. Sie musste etwa so alt sein, wie sie selbst damals gewesen war, als sie mit Josef verlobt war, als der Engel kam und als sie sagte „mir geschehe, wie du gesagt hast.

Die Erinnerung löste ihre innere Anspannung ein wenig und sie konnte zum ersten Mal seit langem mit einem Menschen darüber reden, was sie bewegte: „Ja, ich hoffe schon, Jeschuah wird auch hierher nach Nazareth kommen. Er verkündigt das Reich Gottes, aber er redet nicht nur davon, er selbst bringt es uns nahe, ganz nahe, wenn wir auf ihn hören. Aber wie viel ewerden offene Ohren und Herzen haben, wenn er kommt?“

Das Mädchen schwieg einen Augenblick, dann sah es Mirjam in die Augen: „Ich werde da sein, wenn er kommt – und hören.“ Mirjam aus Magdala blickte zu Boden, zögerte. Dann schaute sie wieder auf. „Ich kenne Jeschuah“, sagte sie leise. „Ich war sehr krank, damals in Magdala. Mein Vater und meine Mutter waren ganz plötzlich an einer unbekannten Krankheit gestorben, niemand konnte ihnen helfen. Ich war ganz allein, war wie von Sinnen, schloss mich ins Haus ein, konnte nichts essen, konnte keinen Menschen um mich ertragen. Wochen lang habe ich kein Wort mit einem Menschen gesprochen. Die Leute sagten, ich sei von sieben Dämonen besessen, und machten einen weiten Bogen um unser Haus.“

Die Erinnerung überwältigte das Mädchen und es schwieg, während ihm die Tränen über das Gesicht rannen. Mirjam sagte nichts und wartete. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich das Mädchen wieder gefasst hatte. Dann fuhr es fort: „Eines Tages kam Jeschuah mit seinen Jüngern nach Magdala. Ich wollte auch hingehen und ihm zuhören, aber ich traute mich nicht aus dem Haus, weil … da waren so viele Menschen. Ich lauschte am geschlossenen Fenster, aber er war zu weit weg, ich konnte nichts verstehen. Auf einmal klopfte es an der Tür. Ich wollte nicht aufmachen, aber es war wie ein Zwang, ich musste öffnen. Ein Mann stand draußen. Ich wusste, es war Jeschuah. Er sagte: ‚Mirjam, gib mir etwas zu trinken, ich habe Durst‘. Ich hatte noch Wasser im Eimer und gab ihm zu trinken. Dann sah er mich an und sagte: ‚Du brauchst dich nicht mehr im Haus zu verstecken, du bist frei.‘ Er berührte meinen Kopf nur ganz zart mit der Hand, dann war er wieder weg. Von da an konnte ich wieder aus dem Haus gehen und mit Menschen zusammen-kommen. Trotzdem bin ich weggegangen von Magdala, hierher nach Nazareth. Ein Bruder meiner Mutter wohnt hier.“ Bei den letzten Sätzen klang ihre Stimme seltsam angestrengt und sie wich Mirjams Blick aus. „Vielleicht war das ein Fehler“, murmelte sie kaum verständlich. Sie leerte wortlos das Schöpfgefäß in ihren Eimer, dann ging sie mit dem Eimer auf dem Kopf davon.

* * *

Mirjam aus Magdala hatte Wort gehalten: Sie war gekommen, und sie hörte zu. Mirjam konnte kaum den Blick abwenden von diesem jungen Gesicht, in dem sich so viel Aufmerksamkeit, Bereitschaft und Begeisterung ausdrückten. Es war Schabbat und fast die ganze Einwohnerschaft Nazareths war auf dem Platz vor der Synagoge versammelt.

Jeschuah war allein gekommen, ohne die Gruppe der Jünger, die sonst mit ihm waren. Er hatte versucht, mit ein paar anschaulichen Gleichnisgeschichten verständlich zu machen, worum es beim Reich Gottes ging. Aber Mirjam spürte überdeutlich, dass seine Worte die meisten gar nicht erreichten. Die einen warteten darauf, dass nun endlich ein Wunder geschah, eine spektakuläre Heilung vielleicht oder Feuer, das vom Himmel fiel wie bei Elia oder etwas ähnliches. Die meisten aber blieben kühl distanziert. Man wollte erst einmal abwarten, was geschah, dann würde man dem Sohn des Zimmermanns schon zeigen, dass er keinen Anlass hatte, sich über die Dorfgemeinschaft, in der er aufgewachsen war, zu erheben, als ob er etwas Besonderes wäre.

Mirjam sah wieder zu dem Mädchen hinüber, das wie gebannt den Worten Jeschuahs lauschte. In diesem Moment entstand eine Bewegung in der Versammlung. Die Männer gingen in die Synagoge. Für die Frauen war seitlich an der Synagoge ein flacher Anbau vorgesehen. Von dort aus konnten sie den Lesungen und Gebeten folgen, die im Hauptraum gesprochen wurden. Obwohl es im Frauenraum ziemlich eng zuging, blieb der Platz neben Mirjam leer. Schließlich setzte sich doch jemand neben sie und Mirjam sah auf: Es war das Mädchen aus Magdala.

Der Gottesdienst nahm seinen gewohnten Verlauf: Die B’rachot*, die Lobpreis-Psalmen, das Sch’ma**, das Sch’mone Esre***. Bei der Thora-Lesung rief man nacheinander sieben Männer auf, die jeweils einen Abschnitt aus dem für diesen Schabbat vorgeschriebenen Text lasen.

* Segenssprüche

** Zentrales Bekenntnis des Judentums: „Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist Einer …“

***Hauptgebet des Synagogen-Gottesdienstes

Danach, bei der Haftera-Lesung*, nahm der Chasan** die Rolle des Jesaja heraus und reichte sie Jeschuah und der las den vorgegebenen Abschnitt: Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.

* Lesung aus den Propheten-Büchern, die dem jeweiligen Text der Thora-Lesung zugeordnet ist.

** Vorbeter

Angespannte Stille breitete sich aus. Es war üblich, dass nach der Haftera-Lesung eine Textauslegung folgte, die auf die vorangegangenen Lesungen Bezug nahm. Nun wollte man hören, was der Sohn des Zimmermanns zu sagen hatte. Mirjam konnte die Stimme Jeschuahs nur undeutlich aus dem Hauptraum herüber hören: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“

Was dann geschah, war aus der Position Mirjams nur sehr unvollkommen wahrnehmbar. Zuerst Zwischenrufe von einzelnen Stimmen, die sie nicht verstand, dann wieder die Stimme ihres Sohnes, die sich aber gegen das immer lauter werdende erregte Hin und Her nicht durchsetzen konnte. Schließlich wurde aus dem zornigen Geschrei eine mitreißende Bewegung, die zur Tür der Synagoge hinausdrängte.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Mirjam sich aus dem Gedränge im Frauenraum befreien konnte und sie hinaus auf den Dorfplatz kam. Sie sah, wie eine wütende Gruppe von Männern aus Nazareth Jeschuah umringte und zum Dorf hinausschob. Um Mirjam herum kreischend überdrehte Stimmen der Frauen: „Was bildet der sich ein, der Sohn des Zimmermanns? Oder vielleicht ist er gar nicht sein Sohn? Wer weiß, von wem dieses Flittchen ihren ersten Sohn hat? Will er vielleicht der Messias sein, der verheißene König aus dem Hause Davids?“ Mirjam riss sich von dem schrillen Gezeter los und rannte der Gruppe der Männer nach, in der ihr Sohn gar nicht mehr zu sehen war. Dann merkte sie dass das Mädchen aus Magdala bei ihr geblieben war und mit ihr lief.

Erst an der Kante eines Felsabbruchs, ein ganzes Stück außerhalb des Dorfes, holten sie die Männer ein. Jetzt war es ganz still geworden. Die Männer standen im Halbkreis um Jeschuah herum, viele hatten kantige Felsbrocken in der Faust. Hinter Jeschuah der steile Abhang. Lauerndes Schweigen: Wer würde den ersten Stein werfen?

Mirjam wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus. Dann sah sie, wie Jeschuah die Männer der Reihe nach anschaute, und sie hörte seine Stimme, leise, fast entschuldigend, aber zugleich von zwingender Entschiedenheit: „Meine Zeit ist noch nicht gekommen.“ Und sie sah, wie Jeschuah auf den Halbkreis der verblüfften Männer zuging, der sich vor ihm öffnete, während einige Steine dumpf zu Boden polterten. Mirjam sah Jeschuah wortlos weggehen; sie kannte die Richtung. Er ging nach Kfar Nahum.

Da fasste sie jemand am Arm. Mirjam fuhr erschrocken herum. Es war das Mädchen aus Magdala. Wortlos gingen die beiden zum Dorf zurück. Der Dorfplatz war wie ausgestorben. Am nächsten Morgen, sehr früh, noch ehe es richtig hell geworden war, ging Mirjam die staubige Dorfstraße hinunter, ein Bündel auf dem Kopf. Bei den letzten Häusern sah sie auf, als sie merkte, dass sich jemand ihr anschloss. Es war das Mädchen aus Magdala. Wortlos sahen sie sich an, Mirjam nickte kurz und dann gingen sie miteinander weiter. Sie nahmen den gleichen Weg wie am Tag zuvor Jeschuah, und sie würden nie mehr hierher zurückkommen nach Nazareth.

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Bodo Fiebig „Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns?, Version 2020-2

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