Endlich: Jerusalem! Die Gruppe, die auf der Kuppe des Ölbergs anhielt, sah mit sehr gemischten Gefühlen über das Kidron-Tal hinweg auf die Stadt. Der Anblick allerdings war überwältigend. Die Morgensonne leuchtete golden auf dem hellen, frisch behauenen Jerusalem-Stein der neu erbauten Tempelanlage. Die älteren Teile der Stadt dahinter und nach Süden zu zeigten Abstufungen der gleichen Grundfarbe mit allen Schattierungen von braun und grau, manchmal mit einem bläulichen Schimmer darin, als spiegele sich der Himmel in dem alten Gemäuer.
Vor allem die Umfassungsmauer des Tempelbezirks, die Herodes der Große hatte neu anlegen lassen und an der an einigen Stellen noch immer gearbeitet wurde, machte in ihrer Größe und Mächtigkeit den Ein druckvon massiver Kraft und unzerstörbarer Sicherheit. Jeder der gewaltigen Steinquader war mit einer feinen Randverzierung versehen und fügte sich fast nahtlos in das riesige Bauwerk. Darüber sah man die Dächer der Säulenhallen und die Zinnen des Tempels. Zu Recht galt die Tempelanlage in Jerusalem als einesder mächtigsten und prächtigsten Bauwerke im ganzen römischen Reich!
Die Pilger am Ölberg waren aber nur begrenzt aufnahmefähig für die Schönheit des Anblicks. Eine ungeheure Erregung hatte sich ihrer bemächtigt. Schon der Weg durch das Jordantal vom See Genezareth bis hinunter nach Jericho war ihnen vorgekommen wie eine Wallfahrt, bei der man nicht wusste, ob man im Himmel oder in der Hölle landen würde.
Bei ihrer letzten Station, in Jericho, war es noch einmal zu einem aufsehenerregenden Ereignis gekommen, als Jeschuah zum ersten Mal seit langem wieder inmitten einer begeisterten Menge zwei Menschen heilte. Hier hatten sie wieder den Ruf gehört, den sie in letzter Zeit zu vermeiden suchten: „Herr, du Sohn Davids, erbarme dich unser!“ Ein messianisches Bekenntnis und eine Absage an die Mächtigen der Gegenwart. Und Jeschuah hatte nichts unter-nommen, um zu verhindern, dass sich sein Kommen und seine Taten herum-sprachen.
Schimon schien es fast, als ob Jeschuah jetzt die Konfrontation suchte. Ohne Umwege und ohne Tarnung hatte er den direktesten Weg durch das Jordantal nach Jerusalem gewählt. Nach den Ereignissen in Jericho hatten sie noch in der Nacht den langen Anstieg durch die judäische Wüste zurückgelegt und nur wenige Stunden an einer Wasserstelle östlich von Jerusalem gerastet. Heute waren sie sehr früh aufgebrochen. Bei Beth-Phage, am östlichen, von Jerusalem abgelegenen Abhang des Ölbergs, hatte Jeschuah zwei Jünger vorausgeschickt,um von einem Anhänger der Davidsbewegung, den er von früher kannte, eine Eselin mit ihrem Fohlen zu erbitten.
Schimon ahnte, worauf das hinauslief. Er kannte die Stelle im Propheten Sacharja, wo der messianische König angekündigt wird: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem,jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, armund reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin“ (Sach 9,9). Von ihrem Standort auf dem Ölberg aus konnten sie erkennen, dass sehr viele Menschen nach Jerusalem unterwegs waren. Es waren nur noch wenige Tage bis zum Pessach-Fest und wie immer waren die Stadt und die Umgebung in diesen Tagen voll von frommen Pilgern – und von Händlern und Gaunern,die mit ihnen Geschäfte machen wollten.
Jeschuah sah lange zur Stadt hinüber, dann wandte er sich wortlos um zu seinen Begleitern und gab ihnen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass es nun Zeit war zu gehen. Da band Schimon mit einer trotzigen Bewegung sein Obergewand los und breitete es auf dem Eselsrücken aus. Wenn Jeschuah schon als König in die Stadt reiten wollte, dann sollte sein Reittier auch entsprechend geschmückt sein.
Den übrigen Jüngern war in der Erregung des Au-genblicks diese Handlung entgangen. Nur der junge Jochanan Ben Savdai merkte es und erkannte die Bedeutung dieser Geste. „…freue dich sehr, du Tochter Jerusalem …“, zitierte er laut, mit einer Stimme, die zwischen Furcht und Begeisterung schwankte, riss sich den Umhang herunter und folgte dem Beispiel Schimons.
Da wussten auch die anderen, was jetzt bevorstand: Jeschuah würde entsprechend der Verheißung als „Sohn Davids“, als messianischer König, in Jerusalem einziehen! Die Stunde der Entscheidung war gekommen. Und sie hatten doch erwartet, dass sie an der Spitze eines starken Heeres, seien es irdische oder himmlische Truppen, dieses letzte Wegstück im Triumphzug zurücklegen würden! Wie würden die Machthaber Jerusalems auf die Provokation durch eine Gruppe unbewaffneter galiläischer Davidsanhänger reagieren? Die römischen Truppen des Statthalters Pontius Pilatus, der sonst in Cäsarea am Meer residierte, der sich aber während der Festtage in Jerusalem aufhielt, um jede Revolte durch schnelle Gegenmaßnahmen im Keim zu ersticken, das jüdische Synedrion, deren einflussreichsten Mitglieder diese schwierige Balance seit Jahren perfekt beherrschten, die Balance zwischen religiöser Eigenständigkeit und politischer Unterordnung, zwischen der gärenden Unruhe im Volk und der beschwichtigenden Klugheit der Verantwortlichen?
Aber vielleicht würden doch noch Engelsheere mit Posaunenschall über den Zinnen des Tempels auftauchen, wenn sie nur mutig und voller Vertrauen das Tor zum Tempelplatz durchschritten? Oder … oder vielleicht könnten sie sich einfach unauffällig in den Strom der Pilger einordnen und ohne Aufsehen in die Stadt gelangen?
Langsam und unsicher setzte sich der Zug in Bewegung, nachdem sich Jeschuah auf den Esel gesetzt hatte. In diesem Moment tauchte noch eine zweite, größere Pilgergruppe auf, die ebenfalls der Stadt zustrebte. Und im gleichen Moment erkannte Schimon, dass es mit der Unauffälligkeit nichts werden würde. Es waren Pilger aus Galiläa. Viele kannte er gut, und alle in dieser Gruppe kannten Jeschuah. Manche waren von Jeschuah geheilt worden, die meisten hatten seine Predigt vom nahenden Gottesreich gehört. Einige von ihnen erfassten die Szene: Der Davidssohn, der Gesalbte Gottes zieht in die Heilige Stadt, so wie es die Propheten verheißen hatten! Die ersten Rufe ertönten: „Hosianna dem Sohne Davids!“ Andere kamen hinzu: „Wer ist das?“ „Der Prophet aus Galiläa!“
Im Nu war eine mitreißende Bewegung entstanden, ein Sog, dem nicht mehrzu entkommen war. Eine wachsende Menschenmenge umringte die Jüngergruppe mit dem Esel und seinem Reiter. Weiter vorn wurden Zweige von den uralten Ölbäumen am Abhang des Ölbergs abgerissen und auf dem Weg gestreut, manche breiteten sogar ihre Umhänge auf dem Weg aus. So geleitete man einen König zur Thronbesteigung! Lauter wurden die Rufe und mischten sich unter die Gesänge der Pilgergruppen: „Hosianna dem Sohne Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ Es schien, als hätten die verschiedensten Pilgerzüge und als hätte die ganze Stadt nur darauf gewartet: Der Messias kommt! Hosianna dem Sohne Davids! Die Furcht vor der allgegenwärtigen Macht der römischen Soldaten wurde für einen Augenblick weggeschwemmt von einer Welle der Begeisterung. Inmitten dieser Bewegung: Ein Esel mit seinem Reiter. Der schien selbst fast unbeteiligt,unbewegt, emotionslos in einem Strudel von Gefühlen.
Es war als hätte man den Damm eines lange gestauten Flusses geöffnet. Unaufhaltsam drängte die ständig sich vergrößernde Menge der Stadt zu, den Hang des Ölbergs hinab bis zum ausgetrockneten Kidrontal und wieder hinauf, den Toren der Stadt entgegen. Hier teilte sich der Strom der Menge in verschiedene Flussarme, die sich durch die verschiedenen Tore in die Stadt ergossen. Schließlich drängte sich der mittlere, größte Strom durch das Suschan-Tor,das direkt auf den Tempelplatz führte.
Schimon und die anderen hatten Mühe beieinander zu bleiben und Jeschuah nicht als den Augen zu verlieren. Auf der riesigen Fläche des äußeren Vorhofs kam die Bewegung zum Stillstand. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Nur ein paar Kinder schrieen noch: „Hosianna dem Sohn Davids!“ Sogar die Händler und Geldwechsler, dieihre Stände bei den Säulenhallen hatten, wurden neugierig.
Da geschah das Überraschende, das, womit niemand gerechnet hatte: Mit raschen Schritten ging Jeschuah auf die Stände der Händler zu, während die Menge vor ihm zurückwich. Ehe noch die meisten erfassen konnten, was geschah, hatte er schon eine Reihe der Tische umgestürzt. Mit zornigen Bewegungen riss er die Stände der Geldwechsler um, dass die Münzen über den Boden rollten. Keiner bückte sich, um sie aufzuheben. Was sollte das werden? Wenn er doch als angeblich messianischer König und Davidssohn in die Stadt einzog, was hatte er dann gegen frommen Handel im Tempel? Wollte er als Einzelner allein gegen die Macht der Geschäftswelt und die Ordnungen des Tempelbetriebs angehen? Wollte er bewusst die Mächtigen herausfordern? Wollte er einen Tumult provozieren, um das Eingreifen der Römer zu erzwingen? Sollte man abwarten, was geschehen würde oder sollte man sich lieber aus dem Staub machen und in Sicherheit bringen, um nicht in etwas hineingezogen zu werden, was sehr böse enden könnte?
Schimon wünschte sich ein Schwert in die Hand, einfach nur, um nicht so hilflos dazustehen. Wo blieben die Heere der Engel? Jahweh Zebaoth, Herr der Heerscharen, erbarme dich! Da hörte er in das entsetzte Schweigen hinein, laut die Stimme Jeschuahs, die die Propheten Jesaja und Jeremja zitierte : „So spricht der HERR: Wahretdas Recht und übt Gerechtigkeit; denn mein Heil ist nahe, dass es komme, und meine Gerechtigkeit, dass sie offenbart werde. … Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker Mt 21, 12+13, vgl. Jes 56, 1+7 und Jer 7, 11. Ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus!“ Und Schimon merkte nun schon zum wiederholten Male: Jeschuah dachte, handelte, redete nicht als Davidssohn, sondern als Sohn Gottes. Ihm lag die Stätte der Heiligkeit Gottes mehr am Herzen, als der Thron Davids. Aber wie sollte das weitergehen? Wer würde ihn verstehen?
Ein kleiner Junge war der Erste, der in die Stille hinein „Hosianna dem Sohne Davids“ rief. Andere schlossen sich an und im Nu verwandelte sich die erstarrte Menschenmenge in eine begeistert rufende und winkende Bewegung,wie ein Volksauflauf zu Huldigung eines Königs. Blinde und Lahme wurden herbeigeführt, damit Jeschuah sie anrührte und heilte, und die Begeisterung wuchs, als ein erster Gelähmter von seiner Bahre aufstand. Schimon und die anderen hatten gleich nach der Aktion Jeschuahs bei den Händlern versucht, einen Ring um Jeschuah zu bilden, um ihn vor möglichen Angriffen zu schützen, obwohl sie wussten, dass sie gegen die Schwerter und Spieße der Tempelwache und erst recht gegen die Rüstung und Übermacht der römischen Soldaten keine Chance hatten, wenn es wirklich ernst wurde. Aber vorerst schienen alle Ordnungskräfte so überrascht, dass niemand eingriff. Mit so etwas hatte offensichtlich niemand gerechnet. Nur einige Priester und Schriftgelehrte protestierten heftig gegen die gefährlichen Äußerungen im Tempelbezirk.
* * *
Schimon war unendlich müde und hellwach zugleich. Seit drei Tagen hatte er kaum geschlafen. Sein Kopf kam ihm vor wie eine der großen Ölmühlen, in der der Mahlstein unablässig kreiste. Schimon war froh, dass sie wieder aus der Stadt heraus waren, und dass es dunkel geworden war. Die Dunkelheit schien ihm wie ein schützender Mantel und die alten Olivenbäume im Garten am Abhang des Ölbergs wie verlässliche Freunde. Erst seit sie die Stadt verlassen hatten, war Schimon bewusst geworden, wie sehr ihm die ständige Anspannung zugesetzt hatte. Jetzt konnten sie etwas aufatmen, hier würde sie niemand suchen.
Jeschuah war allein ein paar Schritte entfernt, kaum erkennbar zwischen den knorrigen Stämmen und schien im Gebet versunken. Die meisten der Jünger waren eingeschlafen. Schimon aber hatte noch die Worte Jeschuahs im Ohr: „Bleibt hier und wacht mit mir!“ Wie sollte es weitergehen? Die Ereignisse der vergangenen Tage und die Erfahrungen der letzten Stunden wollten sich nicht in ein fassbares Bild fügen. Alles war ganz anders gekommen als sie es erwartet hatten. Nach dem tumulthaften Geschehen beim Einzug in Jerusalem hatten sie die Stadt wieder verlassen und waren über den Ölberg nach Bethanien gegangen, wo sie mehrere Anhänger der Davidsbewegung kannten. Jeschuah selbst und seine Mutter waren im Hause des Lazarus und seiner Schwestern Mirjam und Martha untergekommen. Schimon, Ja-akov und Jochanan hatten in einer Scheune übernachtet …
Als sie am nächsten Tag wieder nach Jerusalem kamen, rechnete Schimon eigentlich damit, dass sie noch vor den Toren der Stadt von römischen Soldaten verhaftet würden. Aber nichts geschah. Offensichtlich wollte Pilatus nicht einen Massenaufstand riskieren, indem er Jeschuah, der eben so begeistert als „Sohn Davids“ empfangen worden war, gefangen nehmen ließ. Er suchte wohl nach anderen, unauffälligeren Wegen, um den gefährlichen „Volkshelden“ beiseite zu schaffen.
Aber man merkte, dass in der ganzen Stadt eine mühsam unterdrückte Spannung herrschte. Überall standen Gruppen erregt diskutierender Menschen zusammen und lösten sich sofort wieder auf, wenn sich römische Soldaten näherten. Die Kontrollen an den Zugängen zum Tempelplatz waren strenger als sonst, aber man ließ die Gruppe aus Galiläa passieren.
Als Jeschuah und seine Anhänger den äußeren Vorhof erreicht hatten, merkten sie, dass man schon auf sie gewartet hatte. Ganze Gruppen von Priestern, Schriftgelehrten und religiösen Würdenträgern standen herum, als wären sie rein zufällig hier. Sie wollten wohl sehen und hören, was dieser „Davidssohn“ vorhatte und sie würden ihm schon zeigen, wer die echten Fachleute waren für die Schriftauslegung und für die richtige Deutung der messianischen Verheißungen. Vielleicht waren sie sogar vom Synedrion oder von Pilatus geschickt worden, um diesen „Propheten aus Galiläa“ mit ihren überlegenen Schriftkenntnissen zum Schweigen zu bringen. Jeschuah war wie am Tag zuvor bei der „Säulenhalle Salomons“ auf der Ostseite des weiten Platzes geblieben, von der aus man zum Ölberg hinübersehen konnte. Wie gestern sammelten sich sofort Menschen um ihn, aber diesmal war die Menge viel kleiner und die schlichten Farben der einfachen Pilgerkleider wurden fast erdrückt von der vielfältigen Pracht der Festgewänder einflussreicher Religionsexperten.
Schimon konnte sich gut an die erregten und heftigen Diskussionen erinnern, die dann folgten. Es war um die Frage gegangen, aus welcher Vollmacht heraus dieser angebliche „Davidssohn“ handelte.*
*Siehe die Auseinandersetzungen Jesu mit den jüdischen Autoritäten (nachzulesen vor allem Joh 7-10) und die entsprechenden Gleichnisreden.
Lange ging das Streitgespräch hin und her. Am meisten empörten sich die Schriftgelehrten über Gleichnisse Jeschuahs, in denen er ihnen vorwarf, sie, die verantwortlichen Autoritäten in Israel, handelten gegenüber Gott wie ungehorsame Söhne und ungetreue Verwalter, oder wie geladene Gäste, die den Hausherren schwer beleidigten, weil sie seiner Einladung zur Hochzeit nicht folgten. Zuletzt hatte Jeschuah die versammelte Macht und Gelehrsamkeit direkt mit aller Schärfe angegriffen: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler …!“
Trotzdem hatten sie am Abend unbehelligt die Stadt wieder verlassen können. Als sie auf der Höhe des Ölbergs einen Augenblick Halt machten und auf die Stadt zurück sahen, die im Gegenlicht der Abendsonne leuchtete, war dies ein Anblick von fast überirdischer Schönheit. Und gerade in diesem Augenblick hörten sie die leise, traurige Stimme Jeschuahs: „Seht ihr nicht das alles? Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.“
In der darauf folgenden Nacht waren sie noch lange in dem ummauerten Gehöft Schimons „des Aussätzigen“, eines David-Anhängers in Bethanien, der schon früher von Jeschuah von seiner schrecklichen Krankheit geheilt worden war, zusammen gesessen. Jeschuah hatte mit ihnen von der kommenden Zeit gesprochen, von der kommenden Bedrängnis, vom Kommen des Menschensohns in Herrlichkeit, von der Zeit der Bewährung, wo die Jünger wie kluge Haushalter handeln sollten, vom Weltgericht am Ende der Zeit …
Dann war Mirjam aus Magdala völlig überraschend mit dem Glasgefäß gekommen, in dem die „Pilger“ das kostbare Salböl* für die Königssalbung Jeschuahs mitgebracht hatten * Die Könige Israels wurden bei ihrer Einsetzung nicht gekrönt, sondern gesalbt. Die Königssalbung Jeschuahs war von seinen Anhängern offensichtlich fest eingeplant. Wozu sonst hätten arme Pilger aus Galiläa so ein kostbares Öl auf ihrer Pilgerreise nach Jerusalem mitnehmen sollen?
Es war sehr langwierig und teuer gewesen, dieses Öl entsprechend der rituellen Vorschriften für die Salbung eines Königs herzustellen. Die junge Frau aus Magdala hatte selbst einen großen Teil der Kosten getragen, indem sie den ganzen Erlös vom Verkauf ihres Elternhauses dafür zur Verfügung gestellt hatte. Und nun hatte sie zur Überraschung und zum Entsetzen aller das versiegelte Glas aufgebrochen und das Öl, wie bei der Königssalbung Jeschuah auf das Haupt gegossen.
Die meisten Jünger, zunächst auch Schimon selbst, waren empört. Jeschuah konnte doch nicht jetzt und hier und dazu noch von einer Frau zum König über Israel gesalbt werden! Welche Verschwendung des kostbaren Öls, da wäre es doch immer noch bessergewesen, das Öl teuer zu verkaufen und das Geld den Armen zu geben!
Jeschuah hatte das alles schweigend mit sich geschehen lassen und danach nur leise angemerkt, dass ja nicht nur Könige zur Thronbesteigung gesalbt wurden, sondern auch Tote zum Begräbnis. Vielleicht hatte Mirjam aus Magdala als Einzige erkannt, was jetzt dran war!
Die Nachtruhe war nur kurz gewesen und Schimon hatte kaum Schlaf gefunden, so gewaltsam gingen ihm die verschiedensten Gedanken und Bilder durch den Kopf. Am Morgen waren sie wieder in die Stadt gegangen. Diesmal waren nur die zwölf Jünger dabei. Jeschuah hatte darauf bestanden, dass die Frauen in Bethanien blieben. Heute war der „erste Tag der ungesäuerten Brote“ und er, Jeschuah, würde mit den Jüngern alles vorbereiten. Morgen am Pessach-Fest, sollten die Frauen wieder dabei sein.
Diesmal hatte Jeschuah nicht den kürzesten Weg zum Tempelplatz genommen, sondern die Gruppe durch das Kidron-Tal nach Süden geführt, unterhalb der alten Davidsstadt an der Mauer entlang, und danach den steilen Abhang des Zionsberges hinauf in Richtung auf das Essenertor.
Ja-akov und Jochanan hatten schließlich die Spannung nicht mehr ausgehalten und gefragt, wo sie denn nun das Pessach-Mahl herrichten sollten, schließlich sei heute der Beginn des Festes und jede Pilgergruppe brauchte einen Raum, wo sie das ungesäuerte Brot und am nächsten Abend das Pessach-Lamm essen würden. Daraufhin hatte Jeschuah die beiden losgeschickt. Sie sollten in der „Oberen Stadt“ einen Mann aufsuchen, dessen Haus er ihnen beschrieb, der würde ihnen einen Raum zur Verfügung stellen. Die Jünger, einfache Leute aus Galiläa, wunderten sich schon gar nicht mehr, dass Jeschuah auch in Jerusalem und Umgebung viele geheimen Anhänger hatte, die sie selbst nicht kannten.
Der größte Teil des Tages war dann mit den Vorbereitungen für das Fest gefüllt. Das ungesäuerte Brot, die vorgeschriebenen Zutaten und der Wein mussten besorgt, das Opferlamm für den nächsten Tag bei den Priestern bestellt werden. Der Raum war herzurichten und die Schriftrollen für die vorgeschriebenen Lesungen und Gesänge bereitzulegen. Die Vorbereitungen für das Fest war für die Jünger eine willkommene Ablenkung von ihrer ungeklärten und gefährlichen Situation und für einige Stunden fühlten sie sich fast wie ganz normale Pilger, die sich auf das Fest der Befreiung freuten.
Da mehrere Jünger mit verschiedenen Besorgungen unterwegs waren, war es zunächst auch Schimon nicht aufgefallen, dass Jehuda aus Kerijot* für einige Zeit verschwunden war. Erst gegen Abend tauchte er wieder auf. Warum hatte er so lange gebraucht, um ein paar einfache Dinge zu erledigen? Da niemand, auch Jeschuah selbst nicht, das zu bemerken oder für bedeutsam zu nehmen schien, legte auch Schimon diesen Gedanken wieder zur Seite.
* Jehuda aus Kerijot = hebräische Form von „Judas“ und mögliche Bedeutung des Zusatzes „Iskariot“; manche Ausleger meinen allerdings, dass der Name von „Judas der Sikarier“ hergeleitet werden muss. Dann wäre Judas vor seiner Berufung in den Jüngerkreis ein Freiheitskämpfer gewesen, der mit der „Sica“, dem Kurzdolch, aktiv gegen die Römer und ihre Kollaborateure kämpfte
In diesem Moment schreckte Schimon hoch. Wo mochte Jehuda jetzt sein? Noch während des gemeinsamen Mahles war er fort gegangen. Schimon spürte jetzt noch die schmerzhafte Spannung und atemlose Erregung dieser Situation, nachdem Jeschuah gesagt hatte „einer von euch wird mich verraten“. Verrat unter den Jüngern, die drei Jahre mit Jeschuah durch das Land gezogen waren, die seine Predigt gehört und unzählige Wunder miterlebt hatten? War das möglich? Noch vor drei Tagen hätte Schimon diesen Gedanken weit von sich gewiesen. Aber jetzt? Jetzt wollte er nichts, aber auch gar nichts mehr aus-schließen. Sie würden sehr vorsichtig sein müssen, morgen, wenn sie wieder in die Stadt gehen würden. Aber hier, im Dunkel des Gartens unter den alten Ölbäumen, waren sie vorläufig sicher. Schimon merkte, wie die Anspannung nachließ und er etwas ruhiger wurde. Ohne sich dessen bewusst zu werden, schlief er ein.
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Bodo Fiebig „Hosianna, dem Sohne Davids“, Version 2020-2
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