Ja, die Königsherrschaft der Himmel, das Reich Gottes, das Friedensreich des Maschiach war nahe herbeigekommen! Jetzt war es nicht mehr zu übersehen und zu leugnen. Jeschuah lebte! Mochten doch die Unwissenden reden was sie wollten. Mochten doch die Neider und Feinde überall herumerzählen, sein Leichnam wäre gestohlen und irgendwo anders bestattet worden. Sie selbst hatte ihn gesehen, hatte ihn gehört, war mit ihm zusammen gewesen. Wer könnte mit größerer Sicherheit als sie sagen: Das ist Jeschuah, er ist es wirklich! Sie selbst hatte ihn geboren und großgezogen.
Freilich merkte sie auch die Veränderung am deutlichsten, die sich an ihrem Sohn vollzogen hatte. Entsetzlich gezeichnet noch von den furchtbaren Misshandlungen und doch wie einer, der schon einer Welt angehört, wo „Gott alle Tränen abwischen wird von allen Augen, und der Tod wird nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz“ (Off 21.4), demütiger und zurückhaltender als je und doch wie einer, dem „alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden“, Mt 28,18), nahe wie früher, aber doch unberührbar – einer anderen Wirklichkeit zugehörig. Aus jedem Blick, jedem Wort, jeder Geste leuchtete eine mit Worten nicht beschreibbare Gottesgegenwart: Himmel auf Erden; vollkommenes Ebenbild des erhabensten Gottes im geschundensten Menschsein.
Mirjam fühlte sich wieder klein und schwach und ganz und gar unwürdig angesichts dessen, was mit ihr geschah, wie damals als junges Mädchen, als der Engel zu ihr gekommen war: „Fürchte dich nicht, Mirjam, du hast Gnade bei Gott gefunden“. Ja, es war keine Einbildung, kein überspannter Mädchentraum gewesen. Gott hatte an ihr gehandelt. Und jetzt? Jetzt war er wieder dabei zu handeln, unbegreiflich, unwiderstehlich, erschreckend und zugleich beglückend wie nie zuvor, an ihr, an der Gemeinschaft der Jünger, am Volk Israel und an der ganzen Menschheit.
Er war dabei, etwas in ihnen entstehen zu lassen, was nach menschlichem Ermessen gar nicht möglich war. So wie Gott in ihr etwas gezeugt hatte, das viel mehr und ganz anders war, als durch die Vereinigung und Entfaltung menschlicher Möglichkeiten je entstehen könnte. Genau so wollte Gott jetzt im Mutterschoß der Jüngergemeinschaft etwas zum Leben erwecken, das weit über menschliche Möglichkeiten hinausging und das den Keim einer weltverwandelnden Erneuerung in sich trug. Und sie, Mirjam, durfte auch diesmal ihr „Mir geschehe, wie du gesagt hast“ mit dazu beitragen.
Ja, sie hatte Gnade bei Gott gefunden. Aber durch welche Tiefen war Gott mit ihr gegangen bis zu diesem Augenblick glückseliger Gewissheit!
Schimon zuckte zusammen, als hätte ihn ein heftiger Schlag getroffen. Dabei hatte die Stimme Jeschuahs so leise, so sanft geklungen: „Schimon Ben Jochanan, liebst du mich mehr als diese?” (Jo 21, 15) Schimons Blick kam wie von einer weiten Reise zurück. Die letzte Station auf dieser Reise war die Gestalt des jungen Jochanan Ben Savdai, die gleich neben der mit Steinen umlegten Feuerstelle lag, in der noch eine letzte Glut glomm. Auch die anderen Jünger hatten sich gleich am Ufer in den Sand gelegt. Im Hintergrund schimmerte in der Morgensonne silbrig der See Genezareth. Alle waren erschöpft von der vergeblichen Nacht und erregt von der Begegnung mit Jeschuah am frühen Morgen. Jetzt, nachdem sie gegessen hatten und satt waren, hatte die Müdigkeit bei den Männern leichtes Spiel; die meisten waren schon eingeschlafen.
Schimons Blick wanderte von Jochanan zu Jeschuah und wieder zu Jochanan zurück. Er merkte, wie sein innerer Widerstand gegen diesen Jüngling sich wieder regte. Unbekümmert, heiter, liebenswürdig war der, jedenfalls meistens, manchmal auch aufbrausend in schnell entflammter Wut. Alle mochten ihn wegen seiner Jugend und seiner gewinnenden Art und sahen ihm vieles nach,was sie bei anderen störte. Und: Er war der Lieblingsjünger Jeschuahs.
Schimon hatte noch das Bild von jenem Abend vor den Pessach-Fest vor Augen, als sie beim Mahl zu Tisch lagen. Jochanan ganz nah bei Jeschuah, freundschaftlich, vertraut. Und er, Schimon, saß abseits. Freilich, sie waren ja auch verwandt, Jochanan und Jeschuah, ihre Mütter waren Schwestern. Ja, gewiss, Jeschuah hatte ihm, Schimon, eine führende Rolle in der Jüngerschaft zugewiesen, hatte ihn „Kefa”, den Fels genannt oder „Petrus”, wie jetzt viele auf lateinisch sagten.
Schimon hatte diese Rolle sehr ernst genommen, hatte sich eingesetzt, Pläne gemacht, Wege ausgekundschaftet, unterwegs Quartiere beschafft, die Stellen ausgesucht, wo Jeschuah predigen konnte und von vielen Zuhörern gut verstanden wurde, hatte Streit geschlichtet, Enttäuschte motiviert, Ängstliche bestärkt, hatte die Versorgung der Jüngergemeinschaft organisiert, Beziehungen zu anderen Gruppen aufgebaut und gepflegt, hatte ein Nachrichten-Netz geknüpft, so dass er immer informiert war, wenn neue Entwicklungen in Gang kamen oder alte Gefahren drohten…
Aber die Vertrautheit des Umgangs mit Jeschuah, wie sie Jochanan ganz selbstverständlich pflegte, war ihm, Schimon, verschlossen geblieben. Na ja, Verwandtschaft konnte man sich eben nicht verdienen. Zum Arbeiten war er gut genug, Freundschaft stand auf einem anderen Blatt. Und jetzt diese Frage: „Schimon Ben Jochanan, liebst du mich mehr als diese?” Was sollte er denn antworten auf diese Frage? Am liebsten würde er die Gegenfrage stellen: Liebst denn du mich, Jeschuah, oder bin ich für dich nur ein fähiger Organisator, eine Art „Leitender Angestellter”?
Und überhaupt, was sollte diese Frage, Jeschuah wusste doch ohnehin, wie es in ihm aussah. Mühsam, die Augen starr auf den Boden gerichtet, wo seine Zehe wirre Zeichen in den Sand malte, brachte er den Satz hervor: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebhabe.” Erst nach einer Weile löste er den Blick vom Boden und sah Jeschuah an. Und merkte, dass dieser die ganze Zeit auf diesen Blickkontakt gewartet hatte.
Eine Weile sahen sie sich in die Augen und Schimon versuchte, diesem Blick stand zu halten. Dann hörte er die Stimme Jeschuahs: „Weide meine Lämmer.” „Ausgerechnet”, schoss es Schimon durch den Kopf, „ausgerechnet die Lämmer, die Jungtiere, meint er damit solche wie Jochanan?” Wieder einmal bemerkte Schimon, wie gut ihn Jeschuah kannte. Die Lämmer, die jungen, noch unreifen Jesus-Jünger wollte er ihm ans Herz legen, solche, die auch mal Dummheiten machen im jugendlichen Übermut.
Und Schimon wusste, dass Jeschuah jetzt nicht nur Jochanan im Blick hatte, sondern ihn selbst. Er war auch mal so jung gewesen und er hatte nicht nur Dummheiten gemacht da-mals, sondern … Schimons Erinnerung riss plötzlich auf, als ob jemand einen Vorhang weggezogen hätte. Alles, was er so viele Jahre lang verdrängt hatte, war plötzlich wieder sichtbar vor Augen. Gar nicht so weit weg von hier war es gewesen. An der Stelle auf dem Berg oberhalb des Sees, wo sie öfter waren. Wieder einmal waren viele Menschen aus den umliegenden Dörfern zusammengekommen. Pharisäer und Schriftgelehrte aus Tiberias waren dabei, auch einige zwielichtige Gestalten, Steuereintreiber und zweifelhafte Geschäftemacher.
Unter den Zuhörern hatten sich zwei Gruppen gebildet, die auch äußerlich voneinander Abstand hielten: Die „Anständigen und Guten” und die „Fragwürdigen und Bösen”. Da erzählte Jeschuah ein Gleichnis von einem Vater mit zwei Söhnen. Schimon war damals wie auf glühenden Kohlen gesessen. Es war seine Geschichte, die er da hörte. Sein Vater hatte auch zwei Söhne, Andreas und ihn, Schimon. Andreas, der Ältere, war der Anständige, Fleißige, Zuverlässige gewesen und er, Schimon? Er war von zu Hause weggelaufen. Er hatte seinen Anteil am Familienvermögen durchgebracht. Er war zwar nicht bei den Säuen gelandet, wieder „verlorene Sohn” im Gleichnis, aber doch in einer ziemlich üblen Gesellschaft mit ziemlich „säuischen” Gewohnheiten. Erst als er ganz „unten” war, hatte er sich besonnen und war nach Hause zurückgekehrt. Dort hatte sein Vater, der alte Jochanan zwar kein Fest gefeiert, aber er hatte ihn wieder aufgenommen. Und auch mit Andreas, seinem älteren Bruder hatte er sich später wieder versöhnt. Und noch später waren sie beide Jünger Jeschuahs geworden.
Hier am Westufer des Sees wusste niemand etwas von der Geschichte; damals hatten sie noch in Beth-Zaida am Nordufer gewohnt. Jeschuah wusste offensichtlich von diesen Ereignissen, aber er hatte mit keiner Silbe angedeutet, dass seine Gleichnisgeschichte einen realen Hintergrund hatte.
Die Stimme Jeschuahs brachten Schimons Gedanken in die Gegenwart zurück: „Schimon, Sohn des Jochanan, hast du mich lieb?” Schimon bedauerte seine Gedanken von vorhin. Nein, Jeschuah brauchte ihn nicht in erster Linie als Organisator und Oberaufseher; er wollte ihn als Freund, der ihm aus Freundschaft, Zuneigung und Überzeugung nachfolgte. Diesmal sah er Jesusan, als er antwortete: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebhabe”. Die Antwort Jeschuahs war fast die gleiche: „Hüte meine Schafe!” Aber Schimon merkte den Unterschied: Nicht nur die Lämmer sollte er weiden, sondern die ganze Herde und nicht nur füttern sollte er sie, sondern führen, behüten, voranbringen …
Er, der damals bei den „Säuen” gelandet war, er sollte jetzt die menschliche „Herde” des „guten Hirten” führen. Der „verlorene Sohn” sollte nicht nur wieder ins Haus aufgenommen werden, sondern er sollte nun eingesetzt werden in seine Verantwortung als ein Nachfolger des „guten Hirten”.
Schimon spürte wie ihm ein paar Tränen in die Augen steigen wollten, aber er unterdrückte den Impuls und ließ sich nichts anmerken. In diesem Augenblick hörte er zum dritten Mal die Stimme Jeschuahs: „Schimon Ben Jochanan, hast du mich lieb?” Jetzt, als Jeschuah zum dritten Mal diese Frage stellte, konnte Schimon seine Tränen nicht mehr zurückhalten, er schluckte mühsam, dann sagte er leise, fast flüsternd: „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich liebhabe.” Aber noch im Sprechen fiel ihm der Augenblick ein, als der Hahn gekräht hatte, nachdem er Jeschuah drei mal verleugnet hatte.
Er stand auf und wollte weggehen. Aber Jeschuah war ebenfalls aufgestanden und umarmte ihn, war ihm einen Augenblick so nah und so vertraut wie nie. Dann spürte Schimon, wie ihm Jeschuah die rechte Hand auf den Kopf legte: „Von Gott Gesegnete sind alle, die arm sind vor ihm, denn denen gehört das Königreich der Himmel.“ (Mt5, 3)
Mirjam saß auf dem flachen Dach des Hauses von Martha, Mirjam und Lazarus in Beth-Anja und sah nach Osten wo im Widerschein der Abendsonne die Berge Moabs erkennbar waren. Die Senke dazwischen war von leichten Dunst erfüllt, so dass man das Salzmeer nur erahnen konnte.
Gut fünf Wochen waren jetzt schon seit jenem „ersten Tag der Woche“ vergangen, wo Mirjam von Magdala völlig aufgelöst und sprachlos vor Glück und Schrecken zugleich vom Grab zurückkam und ihnen verständlich zu machen versuchte, was sie erlebt hatte: Jeschuah war ihr begegnet.
Nach Stunden entsetzter Verwirrung und doch schon neu aufkeimender Hoffnung war es endlich unabweisbare Wirklichkeit geworden: Jeschuah lebte, er war zu ihnen, den Jüngern und den Frauen, gekommen und hatte mit ihnen geredet. Er hatte ihnen die Wundmale an den Händen und Füßen gezeigt und erst allmählich war ihnen bewusst geworden, dass wirklich etwas nie Dagewesenes geschehen war: Gott hatte sich über den Tod hinaus zu dem bekannt, zu dem er gesagt hatte: „Dies ist mein geliebter Sohn …“
Damit hatte er sich auch zu allem bekannt und alles bestätigt, was Jeschuah verkündigt hatte: Das Reich Gottes war wirklich nahe. Die Jünger, die mit Schimon „Petrus” ein paar Tage nach der Auferstehung Jeschuahs nach Hause an den See Genezareth gegangen waren, waren unterdessen nach Jerusalem zurückgekommen. Gemeinsam durchlebten sie nun eine zweite Reich-Gottes-Verkündigung*, jetzt aber in der Gegenwart des Auferstandenen und im Lichte der Auferstehung.
* Apg. 1,3: Ihnen (den Aposteln) zeigte er sich nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes.
Nicht nur die Tatsache der Auferstehung, sondern auch diese vierzigtägige Reich-Gottes-Schulung mit dem abschließenden Pfingsterlebnis am 50. Tage machte aus der verängstigten Jüngerschar die Gemeinschaft der Apostel, denen der „gute Hirte“ seine „Herde“ anvertrauen konnte.
Viele der Gleichnisse und Lehrvorträge Jeschuahs wurden ihnen jetzt erst in ihrer ganzen Bedeutung bewusst. Ja, das Reich Gottes begann wirklich klein und unauffällig wie ein Senfkorn im Acker oder ein wenig Sauerteig im Backtrog, aber es hatte eine Kraft in sich, die das Leben der Menschen und die Verhältnisse in der Welt völlig verändern konnte.
Den Beginn dieser Veränderung erfuhren sie nun an sich selbst. Mirjam, die anderen Frauen und die Jünger erlebten diese Tage wie eine kurze, aber um so intensivere Wiederholung ihrer dreijährigen Lehrzeit mit Jeschuah seit der Entstehung der Jüngergemeinschaft, jetzt aber nicht mehr aus der Perspektive der Hoffnung, sondern im täglichen Anschauen und Erleben der Erfüllung. Sie hatten den Schatz im Acker, die überaus kostbare Perle gefunden.
In der Gemeinschaft mit Jeschuah und im Miteinander der Jüngerschaft war eine sichtbare und erlebbare Vorerfüllung der Verheißungen vom Reich Gottes Wirklichkeit geworden. Das Reich Gottes, nun aber nicht als Regierungsorganisation, sondern als Dienerorganismus, nicht als Machtapparat, sondern als Liebesgemeinschaft, unüberwindlich nicht durch militärische Stärke, sondern durch die Kraft des Glaubens. Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt (Jo 13, 34-35).
Erst jetzt wurde Mirjam allmählich bewusst, wie sehr die Jünger und auch sie selbst Jeschuah missverstanden hatten. Es ging um etwas viel Größeres als um die Wiederherstellung der Davids-Monarchie und die Befreiung vom Römer-Joch. Es ging um die Erneuerung der ganzen Menschheit und Schöpfung durch den Geist Gottes, der durch die Kraft der Liebe Gottes wirksam wird. Es ging darum, mitten in dieser lebenshungrigen und doch ständig von Not und Tod bedrohten Welt, mitten in dieser sich in Sehnsucht nach Liebe verzehrenden und zugleich so hasserfüllten und gewalttätigen Menschheit, ein unübersehbares Zeichen der kommenden Heilszeit im Reich Gottes zu verwirklichen.
Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst. (Joh 17, 20 – 23)
Einheit aller Menschenkinder durch die Liebe, das war das Programm des messianischen Reiches, und sie erlebten, wie der Same dieses Reiches unter ihnen zu keimen begann. Allerdings: Nur durch die Gegenwart Jeschuahs war dieses Aufkeimen des Gottesreiches unter ihnen möglich. Die Jünger, die anderen Frauen und sie selbst schienen Mirjam völlig ungeeignet dafür.
Mit Jeschuah aber erlebten sie jeden Tag intensiver die beglückende Realität der Königsherrschaft Gottes in ihrem alltäglichen Leben – wie im Himmel, so auf Erden. Sie erlebten, wie dabei ihr je eigenes und besonderes Menschsein mit allen seinen verborgenen Gaben und Möglichkeiten aufblühte, und wie sich gleichzeitig ihr Miteinander als Liebesgemeinschaft und Reich-Gottes-Bürgerschaft entfaltete. Erst jetzt wurde Mirjam nach und nach bewusst, wie sehr sich die Jüngergemeinschaft in diesen Wochen verändert hatte. Am deutlichsten merkte sie es an Jochanan, dem jüngeren der beiden „Donnersöhne“: Mit welch liebevoller Einfühlsamkeit er sie behandelte, mit welch geduldiger Aufmerksamkeit er auf die anderen einging. Ausgerechnet er, der der Unbeherrschteste und Egozentrischste von allen gewesen war.
Die Gegenwart Jeschuahs, der tot gewesen war und wieder lebte, und die Zukunft des Gottesreiches, das schon unter ihnen Gestalt annahm, hatten alles verändert. Was aber, wenn Jeschuah einmal nicht mehr bei ihnen wäre? Auch Schimon Ben Jochanan, den sie jetzt „Petrus“, den Fels nannten, würde sie – allein, ohne Jeschuah – nicht auf diesem Weg weiterführen können.
Bei diesem Gedanken musste Mirjam umwillkürlich ein wenig lächeln. Seit ein paar Tagen schon merkte sie, wie Schimon wieder ungeduldig zu werden begann. Er war immer noch keiner, der lange zuhören konnte. Wenn er etwas verstanden hatte, und es gab viel zu verstehen in diesen Tagen, dann wollte er es sofort in die Tat umsetzen. Schließlich hatte ihn Jeschuah zum „Felsen“ eingesetzt, auf dem er seine Gemeinde aufbauen wollte! Handeln wollte Schimon, nicht hören! Und merkte dann oft erst viel später, dass er dadurch etwas für sein Handeln ganz Entscheidendes überhört hatte.
Das aber hatte er verstanden, dass sein Hirtenauftrag unlösbar mit der Liebe zu Jeschuah und den Brüdern zusammenhing. Wehe, wenn er sich verselbständigte und zum Machtanspruch wurde! Außerdem schien Mirjam Schimons Ungeduld ganz unbegründet. Sie spürte, dass noch eine ganz entscheidende Wende kurz bevorstand. Sie erinnerte sich, wie Jeschuah an dem Tag, bevor er gefangen genommen wurde, von seinem Weggehen und Wiederkommen gesprochen hatte: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile,dann werdet ihr mich sehen. Ich gehe zum Vater.“ (Joh 16,17)
Mirjam hatte das bisher nur auf seinen Tod und seine Auferstehung bezogen. Jetzt aber musste sie daran denken, dass sich diese „kleine Weile“ vielleicht auch auf die Dauer des Wiedersehens beziehen könnte. Der Gedanke, dass Jeschuah sie bald wieder verlassen und endgültig „zum Vater gehen“ könnte, beunruhigte sie sehr. Das, was sie jetzt erlebten, war doch ohne die unmittelbare Gegenwart Jeschuahs gar nicht möglich! Wie sollten sie ohne ihn so leben können, dass es dem Reich Gottes entsprach?
Unvermittelt fielen ihr die vielen Gleichnisse Jeschuahs ein, wo er davon gesprochen hatte, dass ein Hausherr für lange Zeit wegging und den Knechten die Verantwortung für das Haus und die Menschen darin übertrug. Wollte Jeschuah, der „Hausherr“ des Gottesreiches, wieder weggehen, sie wieder alleinlassen, diesmal aber nicht nur bis zum dritten Tag? Sollte sie Jeschuah noch einmal, und diesmal für immer, hergeben müssen? Wollte ihr Gott noch einmal den Schmerz der Trennung zumuten? Und würde ihre Gemeinschaft dann schon so gefestigt sein, dass sie ohne die Gegenwart Jeschuahs ihre Berufung durchhalten könnte? Mirjam schien es, als hätte sie noch den Klang seiner Stimme im Ohr: „Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7).
Mirjam wusste auf einmal, dass Jeschuah tatsächlich nur noch sehr kurze Zeit bei ihnen sein würde. Er würde wieder „weggehen“. – – Würde ihr diesmal das „Ja“ dazu, das „siehe, ich bin des Herren Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast“ leichter fallen als an jenem Rüsttag vor dem Schabbat, draußen vor den Toren Jerusalems, als Jeschuah auf so furchtbare Weise von ihr genommen wurde?
Mirjam wurde auf einmal innerlich ganz ruhig. Ja, es war vollbracht. Jeschuah hatte seine Mission zu Ende geführt. Das erste Samenkorn des Gottesreiches war in den Ackerboden des Menschseins gelegt: er selbst, der Sohn Gottes, der Messias Israels und Heiland der Völker. Jo 12,24: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“
Und es war schon Frucht herausgewachsen aus seinem Sterben: Die Jüngergemeinschaft, die selbst wieder Same werden sollte für die zukünftige Weltgemeinschaft des Gottesvolkes: Und er sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur. (Mk 16,15) … und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen (Mt 24,14).
Die Gemeinschaft der Jünger und der Frauen hielt sich nun wieder oft in Beth-Anja am Ostabhang des Ölberges auf, wo sie die erste Zeit nach der Ankunft in Jerusalem gewohnt hatten. Dazwischen waren sie immer wieder im Obergemach jenes Hauses in Jerusalem beisammen, wo die Jünger das letzte Pessach-Mahl vor der Gefangennahme Jeschuahs gefeiert hatten. Jeschuah hatte ihnen gesagt, dass sie Jerusalem und dessen Umgebung nicht verlassen sollten, bis sie mit dem Heiligen Geist getauft würden. Sie blieben also an den ihnen nun schon vertrauten Orten, wagten aber nicht, sich allzu wahrnehmbar in der Öffentlichkeit zu zeigen. Außerdem nahm sie die neue Reich-Gottes-Lehrzeit mit Jeschuah vollständig in Anspruch. Mirjam sah hinüber, wo das Salzmeer und dahinter die Berge Moabs im Schatten und Dunst des Abendlichts verschwanden.
Noch einmal kamen die Bilder von jenem schrecklichen Tag zurück, und sie hörte noch einmal den letzten Satz, den ihr Sohn gesprochen hatte, schon sterbend, mit kaum noch verständlicher Stimme: „Es ist vollbracht.“ (Jo 18,28) Damals hatte dieser Satz noch einmal eine Flamme von Schmerz in ihr entfacht, und auch einen Ausbruch von wilder, heißer Wut: Jeschuah ist tot, ist tot, ist tot und es ist doch noch nicht vollbracht, wofür er gelebt hatte! Das Reich Gottes ist doch noch nicht gekommen, das Königreich der Himmel, das Reich des Friedens, in dem er der gesalbte Herrscher sein sollte, ist doch noch nicht da! Die Verheißung: Zerbrochen. Die Hoffnung: gelöscht. Die Welt: ein Spielball der Höllenmächte! Mirjam fühlte noch etwas von diesem heißen Schmerz, aber jetzt hörte diesen Satz anders: Ja, es ist vollbracht, es ist etwas in Gang gesetzt, das auch in zweitausend Jahren nicht wieder zerbrechen und gelöscht werden könnte, und das in alle Welt gehen und sie verwandeln würde, trotz aller äußeren Bedrängnis und aller inneren Verfehlungen …
Jetzt hatten sie Jeschuah schon einige Tage nicht mehr gesehen, aber für morgen hatte er sie alle auf den Ölberg bestellt. Mirjam freute sich sehr auf das Wiedersehen, trotz aller bangen Ungewissheit. Sie sah nach oben in das makellose Blau des Himmels. Es erschien ihr wie ein Zeichen für die Vollkommenheit und Herrlichkeit der Welt Gottes. Dorthin sehnte sich ihr Sohn, aber auch ihr eigenes Herz. Und wenn der Allmächtige Jeschuah dorthin holen wollte, würde sie auch diesmal ihr „Ja” nicht zurückhalten: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.” Da fiel ihr ein, was Jeschuah bei ihrem letzten Zusammensein gesagt hatte und sie merkte, dass ihre Angst vor der Trennung völlig unbegründet war: „… siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.”
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