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Thema: B Jesus – der Weg

Beitrag 3: Die Zeit Jesu (Bodo Fiebig26. Februar 2020)

Im vorangehenden Beitrag „Als aber die Zeit erfüllt war …“ haben wir schon nachzuempfinden versucht, in welch spannungsvolle Gesamtsituation die Lebensgeschichte Jesu hineingestellt war. Dies soll im Folgenden noch etwas deutlicher werden.

1 Der Stammbaum Jesu

Das Neue Testament beginnt im Matthäusevangelium mit einem merkwürdigen Widerspruch: Vorangestellt, und damit an besonders herausragender Position präsentiert, ist die Abstammungsurkunde Jesu, sein Stammbaum, der bis zu Abraham, also bis zu den frühesten Wurzeln des Volkes Israel zurückreicht (bei Lukas bis Adam, Lk 3, 23-38). Dieser Stammbaum ist so aufgebaut, dass er Jesus als den David-Nachkommen herausstellt, durch den die Abstammungslinie des davidischen Königshauses zu ihrem verheißenen Zielpunkt kommt. Drei mal vierzehn Generationen werden aufgezählt. Mt 1,17: Alle Glieder („Glieder“ meint hier die Generationen der Vorfahren und Nachkommen Davids. Matthäus greift hier weit – fast 2000 Jahre – in die Vor-Geschichte des Gottesvolkes zurück) von Abraham bis zu David sind vierzehn Glieder. Von David bis zur babylonischen Gefangenschaft sind vierzehn Glieder. Von der babylonischen Gefangenschaft bis zu Christus sind vierzehn Glieder.

Dabei ist die Zahl 14 kein Zufall, sondern es ist die Zahl des Namens „David“. Im Hebräischen zählt man mit Buchstaben, oder umgekehrt ausgedrückt: Die Buchstaben haben auch Zahlenwert. Der Name „David“ wird im Hebräischen dwd geschrieben* . Da die Buchstaben auch Zahlen sind, können wir diesen Namen auch als Zahlenfolge schreiben (d = 4, w = 6): d-w-d entspricht also 4-6-4 und das ergibt als Summe 14. Der Name „David“ ist sozusagen das Maß, nach dem die Abstammung Jesu eingeteilt wird. 3 mal 14 Generationen von Davids-nachkommen, das bedeutet eine Potenzierung des Namens „David“ in der Geschichte des Volkes Israel.

* Die Vokale (hier das „a“ und das „i“ von David“) werden im Hebräischen nicht geschrieben.

Der Mittelpunkt dieser Generationenfolge ist David. Von ihm werden 14 Generationen rückwärts gezählt bis Abraham, dann einmal 14 Generationen nach vorn bis zur babylonischen Gefangenschaft und noch einmal 14 Generationen nach vorn bis Jesus.

Abraham -14 <David >+14 Gefangenschaft + 14 Jesus

Jesus wird hier herausgestellt als der „Davidssohn“, auf den die Abstammungslinie des davidischen Königshauses zuläuft. Er ist der Zielpunkt, auf dessen Erscheinung hin die ganze Geschichte des Volkes Israel angelegt und eingeteilt ist.

Unmittelbar nach diesem Stammbaum steht aber der Bericht von der Geburt Jesu, in dem ausdrücklich betont wird, dass Jesus eben nicht der leibliche Nachkomme Josefs, des letzten Gliedes in dieser Abstammungslinie, ist. Mt 1,12-16: Nach der babylonischen Gefangenschaft zeugte Jojachin Schealtiël. Schealtiël zeugte Serubbabel. Serubbabel zeugte Abihud. Abihud zeugte Eljakim. Eljakim zeugte Asor. Asor zeugte Zadok. Zadok zeugte Achim. Achim zeugte Eliud. Eliud zeugte Eleasar. Eleasar zeugte Mattan. Mattan zeugte Jakob. Jakob zeugte Josef, den Mann der Maria, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus. Und Mt 1,18: Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem heiligen Geist.

Jesus war also nicht leiblicher Sohn Josefs. Was sollte dann aber dieser Stammbaum, wenn Jesus gar nicht Teil der aufgezeichneten Generationenfolge war? Warum war man überhaupt so sehr daran interessiert, dass man die Geschichte Jesu mit einem Stammbaum begann, der sich dann gar nicht als sein eigener herausstellte? Das kann doch nur bedeuten, dass es zur Zeit der Entstehung des Matthäus-Evangeliums Menschen gab (wie Matthäus selbst und diejenigen, für die er sein Evangelium schrieb), für die trotz dieser Widersprüchlichkeit beides wichtig war: Die Einbindung Jesu in die königliche Abstammungslinie der David-Dynastie und die Tatsache, dass Jesus direkt von Gott gezeugt und eingesetzt war. Wir werden später noch im Einzelnen sehen, welche Realität hinter diesem scheinbaren Widerspruch steht.

Und außerdem: Woher hatte man dieses Geschlechtsregister, wo doch das Königshaus Davids seit mehr als einem halben Jahrtausend nicht mehr existierte? Wer hatte dieses Register durch die Jahrhunderte weitergeführt, in Zeiten wo die jeweils Herrschenden größtes Interesse daran hatten, alles auszulöschen, das an das davidische Königsgeschlecht erinnerte, auf dem nicht nur die Hoffnungen der kleinen Leute, sondern auch die Verheißungen Gottes ruhten? Das Königtum der Herrscher, die nicht aus dem davidischen Geschlecht stammten, also der Römer, Herodianer, Hasmonäer, Seleukiden… musste ja angesichts der göttlichen Verheißungen für das Königshaus Davids als unrechtmäßig, ja als widergöttliche Anmaßung empfunden werden, vor allem dann, wenn das Volk sie als bedrückende Fremdherrschaft erlebte.

Diese Herrscher auf fragwürdiger Rechtsbasis hatten allen Grund, sehr wachsam zu sein und Vorkehrungen zu treffen, dass sich im Volk Israel nicht immer wieder eine David-Nostalgie gewaltsam Bahn brach und ihren Thron in Frage stellte. Jeder männliche Untertan,der diesen Herrschern als David-Nachkomme bekannt würde, müsste um sein Leben fürchten. Man muss also davon ausgehen, dass die bei Matthäus und Lukas im Zusammenhang mit der Geburt Jesu verwendeten Geschlechtsregister nicht aus öffentlichen oder gar amtlichen Listen stammten, sondern von Anhängern der David-Dynastie im Geheimen geführt wurden. (Dass man im alten Israel großen Wert darauf legte, die Geschlechtsregister wichtiger Personen möglichst lückenlos zu überliefern, können wir ja an vielen Beispielen im AT erkennen.)

In 2. Könige 24 und 25 und den Parallelstellen wird der Untergang des davidischen Königshauses beschrieben. 587 v. Chr. wird Jerusalem unter Nebukadnezar zerstört, der letzte König Zedekia wird gefangen genommen, seine Söhne getötet, er selbst geblendet und nach Babylon gebracht. Allerdings erfahren wir auch, dass der Vorgänger Zedekias, Jojachin, von den Babyloniern begnadigt wird und am babylonischen Königshofe lebt und dass es in Israel selbst noch Angehörige des Königshauses gibt, die einen Putsch gegen den von Babylon eingesetzten Statthalter unternehmen.

In 2. Sam 77, 12+13 redet Gott den alt gewordenen David an: Wenn nun deine Zeit um ist und du dich zu deinen Vätern schlafen legst, will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; dem will ich sein Königtum bestätigen. Der soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will seinen Königsthron bestätigen ewiglich. Und Psalm 89, 26-30: Seine (Davids) Hand lass ich herrschen über das Meer und seine Rechte über die Ströme. Er wird mich nennen: Du bist mein Vater, mein Gott und Hort, der mir hilft. Und ich will ihn zum erstgeborenen Sohn machen, zum Höchsten unter den Königen auf Erden. Ich will ihm ewiglich bewahren meine Gnade, und mein Bund soll ihm fest bleiben. Ich will ihm ewiglich Nachkommen geben und seinen Thron erhalten, solange der Himmel währt.

Gerade das Matthäusevangelium betont ja, wie der vorläufig letzte dieser Könige, der zur Zeit der Geburt Jesu regierte, Herodes d. Gr., mit brutalsten Mitteln jede Möglichkeit auszuschalten versuchte, dass ein männlicher Davidnachkomme am Leben bleiben könnte. Der Befehl des Herodes, alle Kinder in Bethlehem, die jünger als zwei Jahre waren, umzubringen, war nur eine Untat in der langen Liste der Grausamkeiten dieses Herrschers. Aber auch die Römer würden es niemals dulden, dass in ihrem Herrschaftsbereich, unter einem Nachkommen eines ehemaligen Königshauses, eine messianische Bewegung entstand, die in ihren Augen nur als eine gefährliche nationale Verschwörung gedeutet werden konnte.

Eusebius von Cäsarea (260 – 340 n. Chr.) berichtet (Kirchengeschichtedes Eusebius, drittes Buch, 12), dass (der römische Kaiser) Vespasian nach der Eroberung Jerusalems (im Jahre 70 nach Chr.) wünschte, es solle kein Jude aus dem königlichen Geschlechte mehr am Leben bleiben, und deshalb den Befehl erließ, alle Nachkommen aus dem Geschlechte Davids ausfindig zu machen. Dies habe eine neue, schwere Verfolgung der Juden veranlasst. Etwas später berichtet Eusebius, wie der römische Kaiser Domitian (Regierungszeit 81 – 96 n. Chr.) bemüht war, die Entstehung einer möglichen „David-Bewegung“ im Keim zu ersticken (drittes Buch, 19 und 20,1-2): Auf des Domitian Befehl hin, die Nachkommen Davids hinzurichten, sollen nach einem alten Berichte einige Häretiker die Nachkommen des Judas, eines leiblichen Bruders unseres Erlösers angezeigt haben mit dem Bemerken, sie stammten aus dem Geschlechte Davids und seien mit Christus selbst verwandt. Hegesippus berichtet darüber wörtlich also: „Noch lebten aus der Verwandtschaft des Herrn die Enkel des Judas, der ein leiblicher Bruder des Herrn gewesen sein soll. Diese wurden als Nachkommen Davids gerichtlich angezeigt. Ein Evokatus führte sie vor Kaiser Domitian. Denn gleich Herodes fürchtete sich dieser vor der Ankunft Christi. Domitian fragte jene, ob sie von David abstammen. Sie bestätigten es…

Domitian konnte sich dann zwar von der Harmlosigkeit der Angeklagten überzeugen, aber schon die Tatsache, dass sich der Kaiser selbst um diese Sache bemühte, zeigt, dass die Römer die Gefahr einer Revolte von „David-Getreuen“ sehr ernst nahmen. Jesus und seine Verwandtschaft wurden von den Römern wahrgenommen, als solche, „die von David abstammen“, also eine Gefahr als potentielle Thronanwärter in Israel darstellten. Ebenso ist die Aufregung des Herodes nach der Ankunft der Sternkundigen aus dem Osten, die den „neugeborenen König der Juden“ suchten, nur zu verstehen, wenn Herodes von einer durchaus ernst zu nehmenden Untergrundbewegung in seinem Lande wusste, die nur darauf wartete, dass der „Fürst (aus den Hause Davids), der Israel weiden soll“ (Mt 2,6) end-lich erschien.

2 Die David-Getreuen

Unter denen, für die Matthäus sein Evangelium schrieb, muss es eine wichtige Gruppe gegeben haben, für die die Einordnung Jesu in die Erbfolge des davidischen Königsgeschlechts von entscheidender Bedeutung war. So wichtig, dass ihr Chronist, Matthäus, das Risiko auf sich nahm, mitten im römischen Weltreich, wo der Kaiserkult Staatsreligion war, eine „Frohe Botschaft“ (Evangelium) mit dem Stammbaum eines Davidnachkommen zu beginnen, der unter römischer Herrschaft hingerichtet worden war. Noch dazu, wo der römische Statthalter Pilatus damals als Urteilsbegründung eine Aufschrift mit ans Kreuz nageln ließ, aus der hervorging, dass der Gekreuzigte deshalb hingerichtet wurde, weil er den Anspruch erhob, „König der Juden“ zu sein (INRI = Jesus von Nazareth, König (Rex) der Juden). Wer waren diese Davidanhänger, die fünf Jahrhunderte lang die Hoffnung nicht aufgegeben hatten, Gott würde seine Verheißungen wahrmachen und aus dem Davidgeschlecht einen König erwählen, der sein Volk aus aller Bedrückung herausführen würde? Ein Blick auf die damaligen Verhältnisse gibt die Antwort: Die politische, gesellschaftliche und religiöse Situation in Israel war gegen Ende der Regierungszeit des Herodes d. Gr. aufs äußerste angespannt. Herodes, der von Roms Gnaden eingesetzte Herrscher, selbst nicht jüdischer Abstammung, war bei vielen seiner Untertanen verhasst. Die immer schlimmer werdende Unterdrückung und Ausbeutung durch die Römer und ihre Handlanger, die große Teile der Bevölkerung in zunehmende Verarmung drängte, weckte gärende Unruhe im Volk. Verschiedene Gruppen reagierten auf verschiedene Weise auf die bedrängende Situation:

Die Zeloten riefen zum bewaffneten Kampf auf, die Essener zogen sich (teilweise) in die Wüste zurück, die Sadduzäer versuchten sich mit den herrschenden Verhältnissen zu arrangieren und die Pharisäer suchten ihr Heil in der Vervollkommnung der religiösen Praxis.

Allen gemeinsam aber war die Sehnsucht nach den vergangenen Zeiten, wo das Volk unter dem König David und dessen Sohn Salomon in Unabhängigkeit, Freiheit und relativem Wohlstand gelebt hatte. Man erinnerte sich der Verheißungen, die dem Königsgeschlecht Davids gegeben waren und die sich seitdem zu einer allgemeinen messianischen Heilserwartung ausgeweitet hatten. In der ganzen Bevölkerung breitete sich eine apokalyptisch erregte Messias-Euphorie aus. In den Evangelien wird sie an einigen Stellen sichtbar.

Überraschend daran ist nur, dass sie sich an einem angeblich „harmlosen“ Wanderprediger festmachte, z. B. beim Einzug Jesu in Jerusalem, Mt 21. 6-9: … Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!

Hier wird von einer „sehr großen Menge“ berichtet, die Jesus einen königlichen Empfang bereitete und rief: „Hosianna dem Sohn Davids!“ (d.h. dem rechtmäßigen König Israels)! Nein, Jesus war für die Juden seiner Zeit nicht nur ein Wanderrabbi wie viele andere. Offensichtlich sahen viele einfache Leute in diesem Jesus von Nazareth nicht nur den „harmlosen Wanderprediger“, sondern den „Davidssohn“, den kommenden Herrscher über Israel aus dem Königsgeschlecht Davids. An ihn knüpften sie hochgesteckte politische und religiöse Erwartungen, während andere ihn heftig und entschieden ablehnten.

Die Sehnsucht nach der messianischen Heilszeit durch den verheißenen Davidssohn bewegte offensichtlich viele Menschen in Israel, in allen Gesellschaftsschichten und Gruppierungen. Man kann sich leicht vorstellen, welche Explosiv-Kraft das entfalten konnte, wenn in diese Situation hinein der Ruf ertönte (oder auch nur das geflüsterte Gerücht umging): „Wir haben den Messias gefunden“ (Joh 1,41). Das zündete wie ein Funke im Pulverfass: „Ein Nachkomme Davids ist aufgetaucht, der vollbringt unglaubliche Wunder und er verkündigt das messianische Königreich“. Bei den meisten blieb es wohl trotzdem (vorläufig) bei einer mehr oder weniger diffusen David-Nostalgie ohne konkrete politische Konsequenzen, dazu waren die Zeiten einfach zu gefährlich.

Daneben gab es aber offensichtlich nicht wenige, die nicht nur wehmütig an die alten Zeiten zurückdachten, sondern die ihre Wiederherstellung entsprechend der biblischen Verheißungen als unmittelbar bevorstehend erwarteten, ja die bereit waren, diese Wiederherstellung aktiv zu betreiben und zu unterstützen.

Unter denen, die in angespannter Nah-Erwartung auf die endlich anbrechende Heils-Zeit hofften, muss es auch mindestens eine Gruppierung gegeben haben, deren Anhänger über lange Zeit, ja über viele Generationen hinweg, die Erneuerung des davidischen Königtums als ihre Hoffnung, aber auch als ihre Aufgabe und ihr Ziel angesehen hatten. Durch diese Erneuerung erhofften sie die Erlösung und Befreiung von allem Unheil und aller Bedrückung für sich und das ganze Volk. Ja sie erhofften sich noch viel mehr, nämlich die Errichtung eines „Gottesstaates“ (Reich Gottes) in Israel unter der Führung des „Gesalbten“ aus dem Hause Davids und mit ihm die Überwindung aller gegenwärtigen Not.

Solche versprengte Gruppen von „David-Getreuen“ existierten möglicherweise die ganze Zeit seit dem Untergang des davidischen Königshauses. Vermutlich hatten sie schon bald nach der babylonischen Gefangenschaft und der Rückkehr in die Heimat vereinzelte Nachkommendes davidischen Königshauses, die unerkannt in den Wirren der Herrschaft der Perser, Mazedonier, Ptolemäer, Seleukiden, Hasmonäer, Römer und Herodianer überlebt hatten, begleitet und unterstützt. Sie hatten im Geheimen die Geschlechtsregister der davidischen Dynastie weitergeführt und sie versuchten, anhand der Geschlechterfolgen (3 mal 14 Generationen) zu berechnen, wann die Zeit der Erfüllung gekommen sei.

Im Folgenden werden diese Gruppen (eine Art „Untergrundbewegung der David-Getreuen“), die zwar im Neuen Testament nirgends so bezeichnet werden, auf deren Existenz man aber aus den Evangelien schließen kann, „Davidianer“ genannt. Wobei man sich darunter keinen straff organisierten und zentral geführten „Apparat“ vorstellen muss, sondern eine eher lose Verbindung von Einzelinitiativen und verschworenen Gemeinschaften, deren Bandbreite von religiösem Schwärmertum bis hin zu politisch aktiven Zirkeln reichte. Dass sie in zeitgenössischen Quellen nicht als Gruppe auftauchen, liegt zunächst an dieser zerstreuten Struktur und ist zudem aus ihrer gefährdeten Situation verständlich, denn sie mussten ja völlig im Geheimen existieren, immer in der Gefahr von den jeweils Herrschenden entdeckt und ausgelöscht zu werden.

Im Neuen Testament werden sie trotzdem an verschiedenen Stellen erkennbar, nicht am gemeinsamen Namen (den hatten sie auch nicht), aber an ihren gemeinsamen Vorstellungen und Handlungen. Diese Davidianer lebten offensichtlich in relativ kleinen, nach außen abgeschlossenen Gruppen, die aber zum Teil untereinander Verbindung hatten und die sich in ihrem Glauben und ihren konkreten Handlungen auf die Verheißungen stützten, die dem davidischen Königshaus im AT zugesprochen waren. Sie waren sozusagen der „handfeste Kern“ einer sonst eher diffusen davidisch-messianischen Endzeit-Stimmung, die sich im ganzen Volk ausbreitete.

Ob sie wirklich lückenlos die seit dem Fall der davidischen Monarchie im Untergrund existiert und die Entwicklung der letzten Davidnachkommen verfolgt hatten, ist ungewiss. Jedenfalls verfügten sie über ein lückenloses Abstammungsregister der noch verbliebenen Davididen bis in die Zeit des Herodes (siehe Abschnitt 1 „der Stammbaum Jesu“). Die meisten Davidianer gab es um die Zeitwende offensichtlich in Galiläa. Hier, weit weg von den Machtzentren der Herodianer, konnten sich noch aktive Gruppen halten, die angesichts der Not in der Bevölkerung wieder Zulauf hatten.

Wahrscheinlich kamen mehrere Gründe zusammen, dass einzelne Gruppen der Davidianer-Bewegung zur Zeit Herodes d. Großen etwas aus ihrer Verborgenheit heraustraten und aktiv in die Geschichte Israels einzugreifen versuchten. Der entscheidende Grund wird im Stammbaum Matthäus 1 selbst angegeben: Von Abraham bis David waren 14 Generationen vergangen, von David bis zur babylonischen Gefangenschaft wieder 14 und nun waren, nach dem babylonischen Exil, wieder12 Generationen in der Verborgenheit vergangen. Josef war der Vertreter der 13. Generation; möglicherweise war er sogar der letzte männliche Nachkomme des davidischen Geschlechts überhaupt. An seinem Sohn, durch den die drei mal 14 Generationen vollständig würden, müsste sich entscheiden, ob das davidische Geschlecht und damit die Gültigkeit der göttlichen Verheißungen erhalten blieb oder nicht.

Für die David-Getreuen war die entscheidende Stunde gekommen. Die Zeit war erfüllt. Das Himmelreich, d.h. die Königsherrschaft Gottes durch seinen Gesalbten, den Messias aus dem Hause Davids, war nahe herbeigekommen (Mt 4,17). Drei mal vierzehn Generationen würden im Sohn Josefs zum Höhepunkt, und alle messianischen Verheißungen durch ihn zur Erfüllung kommen.

Man kann sich kaum vorstellen, mit welcher Hochspannung sie die kommenden Ereignisse erwarteten. Es ging um alles: Um die Befreiung vom Joch der römischen Besatzung, um die Wiederherstellung der Macht und des Glanzes des davidischen Königtums in Israel und um die Erfüllung der ziemlich genau tausend Jahre alten Verheißungen Gottes für sein Volk Israel, die sich mit dem davidischen Königshaus verbanden.

Die Mehrzahl der Davidianer waren wohl einfache Leute, z. B. Fischer am See Genezareth. Wir werden aber sehen, dass auch Angehörige „höherer“ Schichten, z.B. aus dem Priestertum zu ihnen gehörten. (Dass mit Matthäus selbst später sogar ein Zolleinnehmer, also ein Angehöriger des römischen Unterdrückungs-Apparates, Jesus-Jünger wurde, ist mit Recht in den Evangelien als Besonderheit vermerkt).

Dort, im Norden des Landes, war die Macht der Römer und des Herodes nicht so nah und nicht so unmittelbar gefährlich wie in Jerusalem und Judäa. Dort, im halb heidnischen Galiläa, konnten eher unbeobachtet Pläne geschmiedet werden, die zur Wiederherstellung des Davidischen Königtums führen sollten. Nun hielt man bei den Davidianern die Zeit gekommen um zu handeln. Dem letzten (noch geheimen) Repräsentanten des davidischen Königshauses, Josef, sollte eine Frau zur Seite gegeben werden, die zur Mutter des messianischen Königs werden sollte. So kann man davon ausgehen, dass man in den Kreisen der Davidianer die Verlobte Josefs sehr sorgfältig ausgesucht hatte. Das war nicht einfach nur eine romantische Liebesbeziehung zwischen zwei jungen Leuten, sondern sollte eine sorgsam vorbereitete Heirat werden zur Erfüllung uralter Verheißungen und gegenwärtiger Erwartungen.

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Bodo Fiebig „Die Zeit Jesu“, Version 2020-2

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