Warum nach Jerusalem? Jesus wusste doch genau so wie seine Jünger, dass dies ein lebensgefährliches Unternehmen war. Warum die Reaktion der Mächtigen herausfordern? Ein Ereignis, das nur auf dem ersten Blick gar nichts damit zu tun hatte und das noch ganz weit entfernt von Jerusalem, hoch im Norden von Galiäa, noch nördlich von Cäsarea Philippi stattfand, gibt uns einen ersten Hinweis (Mt 17, 1-9): Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg. Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm. Petrus aber fing an und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine. Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören! Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein. Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.
Dies ist sicher einer der merkwürdigsten und rätselhaftesten Berichte im Neuen Testament und es kann sein, dass es uns damit genau so ergeht wie den drei Jüngern damals: Sie haben nichts, aber auch gar nichts verstanden, von dem, was da geschehen ist und worum es eigentlich ging. Freilich später nach Ostern, nach Jesu Auferstehung, nach seiner Himmelfahrt und nach der Ausgießung des Geistes zu Pfingsten, da haben sie nach und nach angefangen zu verstehen, was damals geschehen ist, und sie haben dann auch entsprechend gehandelt. Wir haben heute einen großen Vorteil gegenüber den drei Jüngern damals, wir wissen ja, wie es weitergegangen ist und deshalb haben wir heute auch die Chance es zu verstehen und zu merken, warum uns dieses Ereignis berichtet wird und welche Herausforderung darin für uns heute liegt. Die Frage ist nur, ob wir dann auch, wie die Jünger damals, das umsetzen und tun was wir verstanden haben.
Der äußere Rahmen dieser Geschichte ist schnell erzählt: Jesus ist mit seinen 12 Jüngern in Cäsarea Phillippi, das ist ganz im Norden von Galiläa, am Fuße des Hermon-Gebirges. Dort sagt er seinen Jüngern, dass er nach Jerusalem gehen wird und dort deutet zum ersten Mal an, dass sein Weg nach Jerusalem ein Weg in das Leiden und in den Tod sein wird. Und dann nimmt Jesus drei seiner Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes (übrigens die gleichen, die später die ersten „Säulen” der Jerusalemer Urgemeinde sein werden) mit sich auf einen hohen Berg. Viele Ausleger nehmen heute an, dass es nicht der Berg Tabor westlich vom See Genezareth war, der traditionell als der Berg der Verklärung gilt, sondern der Hermon oder einer seiner Vorberge, der ja ganz in der Nähe von Cäsarea Phillippi lag, während es zum Tabor mindestens zwei Tagesreisen weit war.
Dort auf diesem Berg (welcher es genau war, spielt dabei keine Rolle) haben sie dann dieses seltsame Gipfel-Erlebnis, von dem unser Text berichtet. Nur diese drei Jünger, seine vertrautesten, nimmt Jesus mit. Die anderen lässt er zurück. Von diesen dreien hofft Jesus, dass wenigstens sie etwas verstehen werden von dem, was jetzt geschieht, und dass sie seinen Weg mitgehen werden, im Wissen, worum es eigentlich geht – vergeblich, wie sich zeigt, Jesus wird seinen Weg gehen und seine Jünger werden nichts verstehen und werden ihn schließlich im Stich lassen.
Es geht jetzt bei der Beschäftigung mit diesem Text nicht um eine vollständige Auslegung, es soll hier aber der Versuch gemacht werden, ihn als eine Nahtstelle zwischen dem befreienden Handeln Gottes im Alten und Neuen Testament zu erkennen.
Vers 2: Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. In diesem Augenblick hätten die drei Jünger schon etwas merken können: Wenn sie nicht so erschrocken und verstört gewesen wären, dann hätten sie sich erinnern können, dass auf einem anderen Berg, etwas ganz ähnliches geschehen war (2. Mose 34,29-32): Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte. Als aber Aaron und ganz Israel sahen, dass die Haut seines Angesichts glänzte, fürchteten sie sich, ihm zu nahen. Da rief sie Mose, und sie wandten sich wieder zu ihm, Aaron und alle Obersten der Gemeinde, und er redete mit ihnen. Danach nahten sich ihm auch alle Israeliten. Und er gebot ihnen alles, was der HERR mit ihm geredet hatte auf dem Berge Sinai.
Der Berg Sinai bei Mose und jetzt der Berg der Verklärung bei Jesus hatten die jeweils gleiche Bedeutung: Es waren Orte der Gottesbegegnung. Mose durfte sich Gott nahen und Gott redete mit ihm. Und die Begegnung mit Gott war es, die sein Angesicht zum Leuchten brachte. Auch der Berg der Verklärung war zunächst und vor allem ein Ort der Gottesbegegnung. Die Verklärung, das Leuchten des Angesichts war beide Male ein Zeichen der Gegenwart Gottes. Auch bei Jesus war es ja die Nähe Gottes,die ihn verklärte, so dass sein Angesicht leuchtete wie die Sonne.
Die Jünger hätten erkennen können: Jetzt ist Gott nahe, jetzt ist ein ganz entscheidender Augenblick, jetzt will uns Gott etwas ganz wichtiges zeigen und sagen.
Wir erinnern uns: Gott hatte durch Mose das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten geführt. Wir nennen diesen Bericht in der Bibel den Exodus, den Auszug aus der Gefangenschaft in die Freiheit. Und dort am Sinai, schon in der Freiheit, aber noch in der Wüste, empfing Israel seine Ordnung als Volk Gottes und seine Berufung.
Am Berg Sinai hatte Gott dem Volk Israel zum ersten Male gesagt, wozu er sich dieses Volk erwählt hatte (2. Mose 19,3): Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst
Dazu also hatte Gott das Volk Israel durch Mose aus Ägypten führen lassen, dass er ein geheilgtes Eigentumsvolk hätte, das in königlich-priesterlicher Fürsprache und Für-Handlung die ganze Menschheit in den Segensstrom Gottes bringt: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (1.Mose 12, 3). So hatte Gott es schon Abraham verheißen. Der Exodus, der Auszug aus Ägypten war ja nicht nur wegen des Volkes Israel, wegen dieser paar tausend Leute geschehen. Nein, durch die Befreiung Israels aus der Knechtschaft will Gott der ganzen Welt zeigen: „Ich, der Gott Israels, will alle Menschen retten und befreien.“
Und nun steht da wieder ein Mann auf einem Berge und sein Angesicht leuchtet wie die Sonne. Diesmal ist es der Berg der Verklärung und der Mann ist aus Nazareth, und sein Name Jesus (Jeschuah) bedeutet „Gott rettet“.
Da hätten die Jünger schon merken können: Hier geht es um etwas, was schon damals bei Mose begonnen hat: Um die Befreiung und Rettung seines Volkes und der ganzen Menschheit. Aber das wird gleich noch deutlicher:
Vers 3: Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm. Da stehen zwei Männer bei dem verklärten Jesus und reden mit ihm und die drei Jünger wissen, angerührt vom Geist Gottes sofort: Das sind Mose und Elia, die Repräsentanten des Alten Testaments.
Mose steht für die Befreiung aus der Gefangenschaft und für die Gabe der Gebote Gottes am Sinai und Elia steht für die Propheten des Alten Testaments, für die Stimme Gottes, der mit seinem Volk redet. Elia ist gleichzeitig auch der Ankündiger der messianischen Zukunft. Er ist der Vorbote des Messias (Mal 3, 23). Auf dem Berg der Verklärung begegnen sich also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Heilsgeschichte Gottes.
Und Jesus und Mose und Elia reden miteinander. Worüber werden sie gesprochen haben? Doch sicher nicht irgendein belangloses Zeug! Das war doch kein Sonntag-Nachmittag-Kaffeeklatsch. Jetzt, wo Jesus sich aufgemacht hatte nach Jerusalem zu gehen, ans Kreuz! Da ging es um etwas ganz Entscheidendes. Da ging es um das innerste Geheimnis des Heilsweges Gottes mit den Menschen. Da möchte man dabeigewesen sein und zugehört haben. Was werden sie gesprochen haben?
Nun, wir brauchen keine Vermutungen anstellen, brauchen uns nichts zusammenfantasieren. In der Parallelstelle bei Lukas, wo über das gleiche Ereignis, über die „Verklärung Jesu” berichtet wird, da steht tatsächlich dabei, worüber Jesus mit Mose und Elia gesprochen hat (Lu-kas 9,30): Und siehe, zwei Männer redeten mit ihm, das waren Mose und Elia. Sie erschienen verklärt und redeten von seinem Ende, das er in Jerusalem erfüllen würde. „Sie redeten von seinem Ende“: In diesem Gespräch geht es darum, was in Jerusalem geschehen wird und was sich später als der entscheidende Durchbruch in der Welt- und Heilsgeschichte erweist. Es geht um den Leidensweg Jesu am Kreuz. So weit scheint alles ganz klar, und doch haben wir damit noch nicht die ganze Bedeutung und Tragweite dieser Textstelle erfasst. Es steckt in diesem kurzen Satz noch mehr.
Wenn man verschiedene Übersetzungen dieses Satzes vergleicht, fällt auf, dass die Übersetzer hier ganz verschiedene Begriffe wählen. Bei Luther heißt es: „Sie redeten von seinem Ende, das er in Jerusalem erfüllen würde“. In der „Einheitsübersetzung“ steht: … sie besprachen seinen Ausgang, den er in Jerusalem erfüllen sollte.“ In der sehr wörtlichen „Konkordanten Übersetzung“ heißt es: „Sie sagten an seinen Auszug, den er sich anschickte zu vervollständigen in Jerusalem.“ Wenn man dann nachsieht, welches Wort im griechischen Urtext an dieser Stelle steht, das mit „Ende“ oder „Ausgang“ oder „Auszug“ übersetzt wird, dann stutzt man unwillkürlich. Da steht: „Exodus“. Und dieses Wort kennen wir ja. „Exodus”, das ist ja die Bezeichnung für den Auszug des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten unter der Führung Moses.
Wörtlich steht da also: Mose und Elia sprachen mit Jesus über den Exodus, den er in Jerusalem vervollständigen, vollenden, erfüllen sollte.
Nein, das war wahrhaftig keine belanglos-gemütliche Unterhaltung da auf dem Berge der Verklärung! Es ging um die Vollendung des Exodus! Das, was damals mit der Befreiung Israels aus der Sklaverei angefangen hatte, das sollte nun vervollständigt, vollendet, erfüllt werden. Und diese Erfüllung sollte weit über das hinausgehen, was damals bei Mose begonnen hat. Damals ging es „nur“ um die Befreiung des Volkes Israel (und das war ja schon etwas Gewaltiges), diesmal ging es um die Befreiung der ganzen Menschheit. Damals ging es um die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, diesmal ging es um die Befreiung aus allen Abhängigkeiten, allen Bedrückungen, auch aus der Sklaverei unter der Macht der Sünde und des Todes. Die Befreiung der Menschen war ja noch nicht fertig, der Exodus, der Auszug aus der Gefangenschaft musste noch vervollständigt, musste noch vollendet werden.
Jesus ist auf dem Wege nach Jerusalem. Dort muss der Exodus vollendet werden. Wir werden in den folgenden Beiträgen sehen, auf welche Weise das geschehen wird.
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Bodo Fiebig „Die Vollendung des Exodus“, Version 2020-2
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