Vergeblich versuchte Jochanan* sich ein wenig an dem spärlichen Feuer zu wärmen. Er zog seinen aus Kamelhaar gewebten Umhang eng um die Schultern. Aber die Wüste konnte in dieser Jahreszeit nachts bitter kalt werden. Und heute war so eine Nacht. Er starrte eine Zeit lang gedankenleer in die zuckenden Flammen, dann richtete er sich auf und ging an den Eingang der kleinen Höhle, die ihm nun schon fast seit zwei Wochen als Unterkunft diente. Über ihm funkelte ein prachtvoller Sternenhimmel; vor ihm breitete sich die Jordanebene. Jenseits des Jordan konnte er den steilen Anstieg der judäischen Berge erahnen. Etwas weiter südlich, bei der ergiebigen Elischa-Quelle, aber von hier aus nicht zu sehen, lagen die uralte Stadt Jericho und westlich davon die Palastanlagen, die Herodes der Große dort hatte bauen lassen. Und noch etwas weiter im Süden, am Westufer des Toten Meeres lag Qumran.
* (Jochanan = ursprüngliche hebräische Form von „Johannes“)
Jochanan kannte die Gegend sehr gut, bei Nacht fast noch besser als am Tag. Er liebte die Nächte mehr als die Tage. Für einen wie ihn, der sich besser verborgen hielt, waren die Nächte Beschützer und die Tage Verräter. Oft war er hier unterwegs gewesen. Von Jerusalem aus über den langen Abstieg durch die jüdaische Wüste bis Jericho, dann durch das Jordantal hinauf bis zum See Genezareth; häufiger noch am Toten Meer entlang nach Süden bis Qumran und weiter bis zur Oase En Gedi. Noch weiter im Süden, hoch über dem Ufer des Toten Meeres lag Masada, die Felsenfestung des Herodes. Jochanan kannte sie nur vom Hörensagen. Wenn er je ihre Bekanntschaft machen würde, dann wahrscheinlich als Häftling und Todeskandidat.
Qumran kannte er dafür um so besser. Drei Jahre hatte er dort in der „Jahad“, der „Gemeinschaft der Einheit“, mitgelebt, hatte sich ihren strengen Regeln unterworfen, hatte viele ihrer Ansichten und Gewohnheiten übernommen. Dann war es aber doch zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Verantwortlichen, den „Lehrmeistern“, gekommen. Sie sahen nur ihre Gemeinschaft auf dem rechten Weg. Nur Gläubige, die zu ihr gehörten, hatten Aussicht auf das Erbarmen Gottes. Nur ihnen standen die „Krone des Ruhms“und das „Kleid der Ehre“ zu. Alle anderen würden der ewigen Verdammnis anheimfallen.
Jochanan aber, der in der Tradition frommer Juden aufgewachsen war, die auf das Reich Gottes und auf den „Gesalbten“, den Messias aus dem Hause Davids, warteten, der ganz Israel befreien und erlösen würde, konnte schließlich diese Einengung der Verheißung auf eine einzige Gruppe nicht mitvollziehen. Er verließ Qumran und schloss sich wieder enger verschiedenen Gruppen von „Davidgetreuen“ an. Er versuchte herauszubekommen, wie es mit Jeschuah weitergegangen war. Aber man wusste nichts von ihm, lange war er nirgendwo gesehen worden.
Jochanan kannte Jeschuah, den Sohn Josefs und Mirjams schon lange. Als Zwölfjährige hatten sie sich zum ersten Mal gesehen. Jeschuah war mit seinen Eltern zum Pessach-Fest nach Jerusalem gekommen, und selbstverständlich waren sie auch in En Kerem im Hause Secharjas und Elischevas gewesen. Jochanan hatte damals nicht verstanden, wovon die Erwachsenen redeten. Aber so viel hatte er mitbegkommen, dass es mit diesem Jeschuah, der ein paar Monate jünger war als er selbst, eine besondere Bewandtnis hatte. Jochanan kannte auch die abenteuerliche Geschichte von Mirjam, Jeschuahs Mutter, die als ganz junges Mädchen, allein, fünf Tagesreisen weit durch fremdes Land gelaufen war, hier und da sich etwas erbettelnd, hier und da eine Unterkunft für die Nacht in einem Stall findend, angewiesen auf das Mitleid frommer Leute, aber immer in der Gefahr überfallen, verschleppt, vergewaltigt oder ermordet zu werden. Erst drei Monate später war Josef zusammen mit einigen Männern nach En Kerem gekommen und hatte seine Braut wieder sicher nach Hause gebracht.
Dann, viele Jahre später, er war da schon über zwanzig, war Jochanan drei Jahre lang fast ständig mit Jeschuah zusammen gewesen. Sie hatten gemeinsam die biblischen Schriften studiert, hatten mit Pharisäern und Sadduzäern, Essenern und Zeloten diskutiert. Vor allem aber hatten sie alle ihnen bekannten Gruppen von Davidgetreuen aufgesucht, hatten sich bemüht, sie neu zu motivieren, hatten mit ihnen über das nahe herbeigekommene Reich Gottes gesprochen. Allmählich waren sie in einschlägigen Kreisen bekannt als „der Davidssohn und sein Prophet“.
Das war nicht ungefährlich und sie mussten sich immer wieder für einige Zeit versteckt halten. Dann aber war es zwischen ihnen zum Bruch gekommen. Jeschuahs Verkündigung hatte sich immer deutlicher von den üblichen Vorstellungen der Davidanhänger entfernt. Mittelpunkt war nun nicht mehr die Wiederherstellung der Davidsdynastie und des davidischen Königreiches, sondern das „Reich Gottes“ das „nicht von dieser Welt“ sei, und das Vertrauen zu Gott als Vater, zu dem man wie ein Kind „Abba“(hebräisch „Papa“) sagen könne.
Viele der Davidgetreuen wurden unsicher, ob Jeschuah wirklich der verheißene Davidsohn sei, durch den Gott Israel befreien würde. Und schließlich hatte sich auch Jochanan enttäuscht von ihm abgewendet. Er konnte sich noch gut an die Szene erinnern, die schließlich zur Trennung geführt hatte. Gar nicht weit von hier, auf der gegenüberliegen-den Seite des Jordantales, auf halbem Wege zwischen Jericho und Jerusalem, in der engen, steilen Schlucht des Wadi Quelt gab es eine Reihe von Höhlen, die schon seit Jahrhunderten immer wieder von Menschen benutzt wurden, die sich versteckt halten mussten. Dort hatten sie sich verabredet.
Jochanan hatte darauf gedrängt, dass Jeschuah nun das Reich Gottes öffentlich verkündigen sollte. Er dürfe seine Anhänger nun nicht länger hinhalten. Er müsse die ganze David-Bewegung mobilisieren, müsse sie zum Widerstand aufrufen gegen jede Fremdherrschaft. Er müsse nun ein großes Fasten ausrufen, und die Menschen zur Buße führen, damit sie bereit seien für das Kommendes Himmelreichs, dann werde Gott selbst ihn als Messias bestätigen und seinem Volk Rettung und Heil schaffen im „Königreich der Himmel“.
Jeschuah aber hatte es entschieden abgelehnt zu handeln, bevor nicht Gott selbst ausdrücklich den Auftrag gab. „Der Sohn kann nichts von sich aus tun“, hatte er immer wieder betont, „sondern nur, was er den Vater tun sieht. (Jo 5,19)“ Schließlich hatten sie sich getrennt, ohne einen neuen Treffpunkt zu vereinbaren. Danach hatte sich Jochanan von der Davidsbewegung zurückgezogen, hatte Verbindung zu verschiedensten Gruppen gesucht, sich aber nie irgendwo fest angeschlossen. Bis er die Gemeinschaft von Qumran kennenlernte. Dort fand er viele seiner Ideale verwirklicht; dafür sah er über vieles andere hinweg, das gegen seine Überzeugungen ging.
Aber schließlich war auch diese Verbindung zerbrochen. Er hatte gemerkt: Er kam von Jeschuah nicht los. Irgendetwas verband ihn mit diesem Mann, mehr als mit jedem anderen Menschen. Ohne ihn konnte seine Mission nicht Wirklichkeit werden, konnte seine Berufung nicht Gestalt annehmen, konnten seine Hoffnung und sein Leben nicht zur Erfüllung gelangen.
Er hatte schon lange nichts mehr von Jeschuah gehört. Niemand schien zu wissen, wo er sich aufhielt, oder gar, was er tat und vorhatte. Und viele, die einmal begeisterte Anhänger der Davidsbewegung gewesen waren, hatten sich enttäuscht zurückgezogen.
Jochanan trat wieder ins Dunkel der Höhle zurück, wo eben die letzten Reste des Feuers verglommen. Er zog seinen Umhang über den Kopf wie einen Tallith (Gebetsmantel), kniete nieder und verharrte lange im Gebet. Dann legte er sich in den hinteren, etwas geschützteren Teil der Höhle und versuchte zu schlafen.
Aber er konnte die Gedanken nicht abschalten, die ihn unaufhörlich durch den Kopf gingen. Die letzten beiden Jahre, seit er sich von Qumran getrennt hatte, waren für Jochanan hart gewesen, geprägt von Unsicherheit und Entbehrungen. Er hatte sich weitgehend zurückgezogen, hatte viel gefastet und gebetet. Nur ab und zu hielt er Kontakt zu Gruppen, die wie er eine Buß- und Reinigungsbewegung als Vorbereitung auf das Reich Gottes für wichtig hielten. Schließlich hatte er eine Schar von Anhängern und Schülern um sich gesammelt, die eine feste Gemeinschaft bildeten, allerdings nicht wie in Qumran an einem bestimmten Ort konzentriert, sondern verstreut in ganz Judäa. Ihn selbst nannten sie „Jochanan den Täufer“, und manche fragten sich insgeheim, ob nicht er der erhoffte Messias sei.
Vor allem von Gruppen, die noch immer an den Davidverheißungen festhielten und auf ihre Erfüllung in der unmittelbaren Zukunft hofften, wurde er immer wieder gedrängt, doch nun die Initiative zu übernehmen. Er sei sich doch mit Jeschuah einig gewesen, dass das „Reich Gottes“ mit einer Bußbewegung beginnen müsse. „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Mt 3,2/4,17) Das war doch auch Jeschuahs Botschaft gewesen. Wenn er, Jochanan, nun diese Bußbewegung in Gang setzte, dann würde Gott handeln und das Reich des Messias, die „Königsherrschaft der Himmel“ aufrichten. Nun, da Jeschuah verschollen, vielleicht gar nicht mehr am Leben sei, müsse er, Jochanan, die Führung der Bewegung übernehmen.
Jochanan drehte sich um und suchte eine bequemere Lage. „Morgen“, dachte er „morgen ist es so weit“. Er war entschlossen, nun ein Zeichen zu setzen, ein unübersehbares Startsignal für das herannahende messianische Reich. Er würde eine Bußpredigt halten, die den Menschen den Ernst der Entscheidungsstunde vor Augen führen sollte. Er würde sie angesichts des kommenden Gottesreiches zur Umkehr und Reinigung auffordern. Und wer bereit war, den würde er im Jordan taufen. Dann, so hoffte er, würde Gott seinen Messias offenbaren und die Heilszeit seines Reiches beginnen. Und vielleicht … vielleicht war ja doch Jeschuah der verheißene Davidssohn und vielleicht würde er wieder auftauchen und die Herrschaft in seinem Reich übernehmen.
Jochanan hatte seine Anhänger in die umliegenden Dörfer und Gehöfte geschickt, dann in die weitere Umgebung bis hinauf nach Jerusalem. Überall ging die geflüsterte Botschaft um: „Am zweiten Tag nach dem Schabbat … in Beth-Anja* … Jochanan der Täufer, ein Zaddik (Ein „Gerechter“), wird sprechen …das Reich Gottes ist nahe … Jochanan taucht Menschen in den Jordan zur Reinigung und Umkehr … vielleicht ist es der Messias …“
* Beth-Anja, hebräische Form von „Bethanien“; nicht das bei Jerusalem am Ölberg, sondern am Ostufer des Jordan, nördlich von Jericho
Jochanan wälzte sich unruhig. „Ich bin nur die Stimme des Rufers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg … (Jes 40,3). Ja, er wollte dem Herrn den Weg bereiten, aber ob er auch wirklich kommen würde …? Endlich schlief er ein.
* * *
Andreas und Schimon waren schon seit drei Tagen unterwegs. Von Beth-Zaida am Nordufer des Sees Genezareth bis zum Unterlauf des Jordan bei Beth-Anja, das war kein Spaziergang! Schimon war jetzt Mitte dreißig, sein Bruder Andreas zwei Jahre älter. Ihr Vater Jochanan war nun schon über sechzig, grau und gebeugt von Jahrzehnten harter Arbeit, aber immer noch voller Tatendrang. Er selbst konnte sich nicht mehr auf einen so weiten Weg machen, aber er hatte seine Söhne nicht davon abgehalten, Jochanan den Täufer aufzusuchen, obwohl er sie dringend bei der Arbeit brauchte. Auch er wollte wissen, wie es nun weitergehen sollte. Viele ehemalige Anhänger der „Davidgetreuen“hatten sich der Täuferbewegung angeschlossen, seit Jeschuah verschwunden war. Sie hofften, dass von Jochanan dem Täufer doch noch ein Impuls ausgehen würde, der zur Errichtung des messianischen Reiches führen könnte.
Schimon und Andreas hatten schon den größten Teil der Strecke geschafft, waren schon vorbei an Skythopolis, dem alten Beth-Schean, das die Römer jetzt zu einer prächtigen Stadt ausbauten. Morgen würden sie Beth-Anja erreichen.
Obwohl Schimon der Jüngere war, hatte er, nicht Andreas, die Führung übernommen. Das schien ganz selbstverständlich, so wie er sich rings um den See Genezareth ganz selbstverständlich als unbestrittene Führungsgestalt unter den noch übrig gebliebenen Davidanhängern durchgesetzt hatte. Aus dem kindlichen Draufgänger und jugendlichen Feuerkopf von einst war in den vergangenen Jahren eine eindrucksvolle Persönlichkeit geworden, der sich die meisten von selbst unterordneten, ohne zu fragen, warum. Im Innern seiner beherrschten und beherrschenden Gestalt war er aber auch noch als Erwachsener ein Draufgänger und Feuerkopf geblieben.
Die Bewegung der Davidgetreuen war in den letzten Jahren stark geschrumpft. Die frühere Euphorie war verflogen; Enttäuschung machte sich breit. Zuerst hieß es: „David war ein Jüngling, als er den Goliath bezwang. Und Jeschuah, der ‚Davidssohn‘ ist nun schon dreißig, und nichts geschieht.“ Schließlich, als man lange Zeit gar nichts mehr von Jeschuah gehört hatte, kamen die meisten zu der Überzeugung, dass der Sohn Mirjams und Adoptiv-Sohn Josefs nicht mehr am Leben sei.
Schimon war es, der darauf bestanden hatte, nach Beth-Anja an den Jordan zu gehen. Auch Ja-akov und Jochanan, die Söhne des alten Savdai aus Kfar-Nahum würden da sein. Sie wussten schon seit Wochen, dass Jochanan der Täufer dort öffentlich predigen würde. Schließlich hatten sie schon seit längerem enge Verbindungen zur Täuferbewegung geknüpft. Schimon drängte auf eine Entscheidung: Wer, wenn nicht Jochanan sollte wissen, ob nun Jeschuah, der Sohn der Mirjam aus Nazareth wirklich der verheißene Davidssohn war und ob er noch lebte. So konnte es nicht mehr weitergehen, sie mussten endlich Klarheit haben.
Sie übernachteten in einer kleinen Siedlung nahe der Einmündung des Wadi Fara ins Jordantal. Von da aus war es nicht mehr weit. Am nächsten Morgen gingen sie weiter, und schon bald wurde deutlich, dass ein besonderes Ereignis bevorstand.
Von überall her sah man Menschengruppen durch die sonst eher gering bevölkerte Jordanebene ziehen. Die meisten waren einfache Leute, aber auch Priester, Leviten und Schriftgelehrte aus Jerusalem waren da. Man erkannte sie sofort an ihrer auffallenden Kleidung. Sie waren wohl schon am Tag zuvor von Jerusalem herabgekommen und hatten in Jericho übernachtet. Sogar jüdische Zolleintreiber und Soldaten im Dienst des neuen römischen Prokurators Pontius Pilatus waren unterwegs zum Jordan.
Um die dritte Stunde* erreichten sie Beth-Anja. Drei- vierhundert Menschen waren schon da, sie verteilten sich unter schattigen Bäumen am Fluss, und immer noch kamen neue dazu. Schimon bemerkte sofort, dass Jochanan der Täufer den Platz klug gewählt hatte. Beth-Anja selbst bestand nur aus wenigen Häusern in einiger Entfernung vom Jordan, wo die Ebene in das östliche Bergland überging. Von hier aus konnte Jochanan (und andere, die wie er darauf achten mussten, sich immer einen Fluchtweg offen zu halten) leicht nach Osten ins Gebiet des Zehnstädtebundes ausweichen, und Pilatus würde sich hüten, eigenmächtig Soldaten in die Nachbarprovinz zu schicken, um dort flüchtige Rebellen zu verfolgen.
* etwa um 9 Uhr am Vormittag
Kurz darauf entstand eine Bewegung in der Menge „Jochanan kommt!“ Die Menschen strömten auf einem weiten Platz zusammen, der nur mit etwas Gras bewachsen war. Dann sahen sie den Täufer. Er stand auf einer leichten Erhebung nahe am Fluss, so konnten ihn alle sehen und hören: „Kehrt um,denn das Himmelreich ist nahe! Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden. Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen (Lk3, 4b-6).“ Ja, das war allen klar, die gekommen waren: Nur das Him-melreich, die Königsherrschaft Gottes, das Reich seines Messias, konnte wirklich ihre Not wenden. Aber wie sollten sie dem kommenden Messias den Weg bereiten, wenn niemand wusste, wer er war und wo er war?
Die leidenschaftliche Botschaft des Täufers, dass dieses Reich nun nahe gekommen war, versetzte die Menge in Erregung. Zugleich waren aber viele auch verunsichert: Wenn das ersehnte Gottesreich schon so nahe war, warum merkte man nichts davon?Was hielt denn sein Kommen auf? Wie sollte es denn zugehen, dass tatsächlich die Herrschaft Gottes wie im Himmel so auf Erden, also auch hier in ihrer verzweifelten Lage, Realität wurde?
Immer wieder kam die Antwort des Täufers: „Kehrt um, wendet euch ab euren verkehrten Wegen. Wie wollt ihr sonst dem zukünftigen Zorn entrinnen? Seht zu, dass euer Leben und Handeln eine Frucht eurer Umkehr wird.“ Einige fragten: „Aber was sollen wir denn tun?“ Jochanan antwortete: „Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso.“Sogar einige Zolleinnehmer, die sich taufen lassen wollten, weil ihnen die Verwerflichkeit ihres Tuns bewusst geworden war, wollten wissen, wie sie sich nun verhalten sollten. Die Antwort Jochanans war ganz einfach und praktisch: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! Da fragten ihn auch einige Soldaten: „Was sollen denn wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!“(Lk 3, 8+10-13)
Schimon und Andreas versuchten, näher an Jochanan heranzukommen, merkten aber schnell, dass sie heute kaum Aussicht hatten, mit ihm ein persönliches Gespräch zu beginnen.
Die meisten Zuhörer waren erschüttert und auf-gewühlt von seiner Predigt. Andere, vor allem die Abgesandten der Priesterkaste aus Jerusalem, stellten kritische Fragen. Gerade wandte sich Jochananmit scharfen Worten an eine Gruppe Pharisäer und Sadduzäer: „Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Frucht der Buße! Denkt nur nicht, dass ihr bei euch sagen könntet: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum: jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“(Mt 3, 7-10)
Schimon und Andreas hatten sich so weit durch die Menschenmenge gedrängt, das sie jedes Wort verstehen konnten. Und dann kam Jochanan endlich auch auf das Thema zu sprechen, das sie am meisten interessierte: „Ich taufe euch mit Wasser zur Buße; der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin nicht wert, ihm die Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem heiligenGeist und mit Feuer taufen. Er hat seine Worfschaufel in der Hand; er wirdseine Tenne fegen und seinen Weizen in die Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer. (Mt3, 11-12)
Von wem redete Jochanan hier, meinte er Jeschuah, oder hatte er einen anderen im Blick? Schimon und Andreas beschlossen, in der Nähe zu übernachten und morgen noch einmal herzukommen, da würde eher Zeit und Gelegenheit sein, ausführlicher mit dem Täufer zu sprechen. Dann rief Jochanan die Menschen zur Taufe. Wer sein Leben ändern wollte angesichts des nahe gekommenen Himmelreichs, der sollte in den Jordan getaucht werden zum Zeichen der Reinigung. Viele drängten sich zum Wasser. Es war schon Abend als sich die Letzten auf den Heimweg machten.
* * *
Schimon und Andreas hatten in einem abgelegenen Gehöft nördlich von Jericho ein Nachtquartier gefunden und waren am nächsten Tag sehr früh zur Taufstelle zurückgekehrt. Sie merkten schnell, dass sie nicht die Einzigen waren, die in der Nähe geblieben waren. Etwa 30 Männer waren da; manche hatten direkt hier am Taufplatz übernachtet, obwohl das nicht ungefährlich war, denn im Uferdickicht am Fluss gab es noch Löwen und andere Raubtiere. Als sie näher kamen, erkannten Schimon und Andreas Gesichter, die ihnen am Tag zuvor in der Menge nicht aufgefallen waren: Außer Jaakov und Jochanan, den Söhnen des Savdai, mit denen sie gerechnet hatten, waren da auch Phillippus aus ihrem Heimatort Beth-Zaida und Nathanael, den sie vom Fischfang im See Genezareth her kannten. Die meisten übrigen waren wohl Anhänger der Täufer-Bewegung aus Judäa. Alle rechneten damit, dass Jochanan der Täufer noch einmal zu ihnen sprechen würde. Aber sie mussten lange warten. Erst spät, als sich die Sonne schon wieder dem Horizont näherte und Schimon schon mit Nathanael weggegangen war, um eine Unterkunft für die Nacht zu finden, kam Bewegung unter die Wartenden. Jochanan kam.
Alle Gespräche verstummten, alle Augen wandten sich erwartungsvoll ihm zu. Er setzte sich mitten unter die Männer und schwieg eine ganze Weile. Dann sah er auf. „Ich bin nicht der, auf den ihr wartet“, sagte er. „Ich taufe nur mit Wasser, der aber, der Israel erlösen wird, der wird euch mit Heiligem Geist und mit Feuer taufen.“ „Aber wo ist er, wo bleibt er, wann kommt er?“ fragte es aus der Gruppe zurück. Jochanan sah zu Boden. „Ich weiß es nicht“, sagte er leise. „Ich hatte gehofft … gestern … aber er kam nicht.“ Es folgte ein langes bedrücktes Schweigen.
Auf einmal hob Jochanan den Kopf, als hätte eine unhörbare Stimme ihn angerufen. Er sah über die Männer hinweg zu der Erhebung, von der aus er gestern gepredigt hatte. Seine Augen wurden weit vor Überraschung und er sprang auf. „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ rief er (Jo 1, 29).
Auch die anderen waren aufgestanden und umringten Jochanan und den Fremden, der herangekommen war. Jochanan fasste ihn am Arm und wandte sich an die Männer: „Dieser ist es, von dem ich gesagt habe, dass er nach mir kommt, obwohl er schon vor mir war. Auch ich habe ihn lange Zeit verkannt und war mir nicht sicher, ob er wirklich der Messias ist. Aber nun weiß ich es und ich taufe die Menschen, damit er in Israel geoffenbart wird.“ Der Fremde ging wortlos die Uferböschung zum Fluss hinunter, legte das Obergewand ab und stieg ins Wasser. Jochanan folgte ihm aufgeregt: „Aber das geht doch nicht! Ich müsste von dir getauft werden, nicht du von mir!“ Die Männer am Ufer konnten nicht verstehen, was der Fremde antwortete, sahen aber, dass Jochanan nachgab und den Mann zur Taufstelle führte. Dort tauchte er ihn ganz ins Wasser des Jordan, so wie er es am Tag zuvor mit Hunderten von Menschen gemacht hatte.
Als der Fremde wieder auftauchte, blieb er eine Weile im Wasser stehen: Arme, Hände, Gesicht, Augen, ein ganzer Mensch, ganz nach oben gekehrt, ganz dem Himmel zugewandt. Und dann geschah das, was die Männer bis an ihr Lebensende nicht mehr losließ, was von einem Augenblick auf den anderen alle ihre Unsicherheit in nichts auflöste, was sie von einer Minute zur anderen mehr veränderte, als die Jahre seit ihrer frühesten Kindheit es vermocht hatten: Der Himmel tat sich auf.
Wie sieht ein geöffneter Himmel aus? Keiner der Männer hätte das nachher beschreiben können. Aber sie sahen und wussten: Der Himmel ist offen. Und sie hörten die Stimme. Keiner der Männer hatte danach sagen können, ob die Stimme laut oder leise war, sie war weder das Eine noch das Andere, sie war gegenwärtig, gleichzeitig im Innern und von außen kommend, alles überwältigend. Keiner hätte sagen können, ob sie männlich oder weiblich klang. Sie war weder das Eine noch das Andere, sie war ganz anders. Sie war göttlich. Und sie sagte: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (Mt 3, 17)
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Bodo Fiebig „Der offene Himmel“, Version 2020-2
© 2007, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.
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