„Die Zeit ist erfüllt, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Mk 1, 15) Erstaunlich fest und stark klang die sonst so leise und brüchige Greisenstimme durch den halbdunklen Raum. Überrascht hoben die etwa 15 Anwesenden die Köpfe und sahen zu Schimon* hinüber. Der hatte sich auf seinen Kissen etwas aufgerichtet und schien mit geschlossenen Augen zu lauschen, als ob er schon die Posaunen des lang ersehnten messianischen Reiches hören könnte. Schließlich unterbrach die erregte Stimme Savdais** die Stille: „Recht hat er,das Reich Gottes ist nahe, und wir sitzen hier herum und reden über vergangene Zeiten. Jetzt ist die Zeit zum Handeln, nicht zum Reden!“ Leises Murmeln schien Zustimmung anzudeuten, aber auch Unsicherheit, vielleicht sogar Angst. „Zeit zum Reden, Zeit zum Handeln! Wer zu viel redet und unüberlegt handelt, für den wird bald Zeit zum Sterben sein!“ Die sonst so ruhige Stimme Secharjas*** hatte einen Unterton von verhaltenem Zorn. „Meinst du, wir wissen die Zeichen der Zeit nicht zu deuten? Meinst du, nur du wartest auf den Messias?“ Er schwieg einen Augenblick, dann klang seine Stimme wieder ausgeglichen und bedächtig.
* Schimon = ursprüngliche hebräische Form von „Simon“ oder „Simeon“, vgl. Lk 2, 25-32
** Savdai = ursprüngliche hebräische Form von „Zebedäus“, vgl. Mk 1, 19-20
*** Secharja = ursprüngliche hebräische Form von „Zacharias“, vgl. Lk 1, 5 ff
„Ihr seid in Galiläa weit weg von den Palästen und Kasernen des Herodes. Ich bin Priester am Tempel hier in Jerusalem. Meint ihr, ich sehe nicht, was vorgeht? Überall Spitzel und Verräter, überall Soldaten. Überall werden Unschuldige verhaftet, gefoltert, ermordet*. Überall Zolleintreiber, die das Letzte aus den Leuten herauspressen. Selbst Familien, die früher zu den reichsten und angesehensten gehörten, sind verarmt und wissen nicht mehr, wie sie die verschiedenen Steuern aufbringen sollen. Der Reichtum des Landes geht nach Rom und mästet dort die reichen Bürger. Unser Volk ist bitter arm, die Straßen sind voll Bettler. Schaut euch doch um: Die Häuser der kleinen Leute verfallen und die Paläste des Herodes wachsen in den Himmel. Überall wird gebaut: In Cäsarea, bei Jericho, in Masada, das Herodion bei Bethlehem, die Prachtbauten in Jerusalem; überall Paläste, überall das Beste und Teuerste – und wer bezahlt das alles? Wir, das Volk, mit Tränen, Schweiß und Blut! Bei euch am See Genezareth kann man noch leben, da wird nicht jeder Schritt überwacht, nicht jeder Lepton** gezählt!“
* Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius, der in der Zeit unmittelbar nach Jesus lebte, berichtet: „Herodes ließ alle seine Untertanen auf das schärfste überwachen und nahm ihnen so jede Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit mit seinem Regime auszudrücken. Er verbot den Bürgern alle Zusammenkünfte, öffentliche wie geheime, und stellte überall Spione an. Wurde jemand bei Übertretungen ertappt, so bestrafte er ihn streng. Viele wurden, offen oder heimlich, in die Festung Hyrkania gebracht und dort hingerichtet. Überall, in der Stadt wie auf den Landstraßen, gab es Leute, die alle Zusammenkünfte zu beobachten hatten. Ja, man sagt, der König habe sich oft bei Nacht in der Kleidung eines Privatmannes unter die Menge begeben, um die Meinung des Volkes übers eine Regierung kennenzulernen. Die Meisten seiner Untertanen fügten sich seinen Befehlen, teils aus wirklicher Zuneigung, teils aus Furcht. Wer jedoch in zähem Widerstand verharrte und sich nicht mit seinen Untaten abfinden konnte, wurde schonungslos beseitigt.” (Josephus Flavius „Jüdische Altertümer” fünfzehntes Buch, 10. Kapitel, Abschnitt 4, nach der Übersetzung von H. Clementz, Fourier-Verlag Wiesbaden)
**Kleine Kupfermünze
„Wir zahlen nicht weniger Steuern als ihr“, entgegnete Savdai hart „und Verräter und Spitzel gibt es bei uns mehr als genug. Nur“, er lachte trocken „einen Vorteil haben wir im Dorf: Wir kennen sie und gehen ihnen aus dem Weg. Aber“, seine Stimme wurde leiser und zugleich drängender „gerade weil es den Menschen so schlecht geht, deshalb müssen wir etwas unternehmen, jetzt, nicht irgendwann! Unser Land muss wieder unserem Volk gehören, nicht den Römern, die sich wie die Herren der Welt aufspielen und nicht landfremden Vasallen, wie Herodes!“
„Willst du es den Zeloten nachmachen, die hier mal eine römische Patruoille überfallen oder da mal einen Zolleintreiber ermorden? Ich sage dir, das bringt gar nichts.“ Secharjas Stimme klang verächtlich. Dann fügte er leise hinzu: „Ich habe schon zu viele von ihnen am Römerkreuz sterben sehen.“
„Gott selbst wird eingreifen und unser Schicksal wenden!“ Schimons Stimme war wieder leise und brüchig wie immer, und doch war sie im ganzen Raum hörbar. Es folgte eine unsichere, ratlose Stille.
Dann ergriff Secharja wieder das Wort: „Schimon hat recht, Gott wird eingreifen, so wie er es verheißen hat. Er wird seinen Gesalbten, den Messias aus dem Geschlecht Davids senden. Dann wird alle unsere Not zu Ende sein.“
„Und bis dahin legen wir die Hände in den Schoß, lassen uns aussaugen und abschlachten, wie es den Herren beliebt!“ Savdais Stimme war heiser vor Wut.
„Ja, wann kommt sie denn, die neue bessere Zeit, wann?“ Einer der jungen Leute, die entlang der Wand auf kleinen Polstern saßen, war aufgesprungen.
„Bald“, Schimons Stimme klang angestrengt, als müsse sie sich erst Bahn schaffen, um frei reden zu können. „Sehr bald.“ Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Hört zu. Ihr wisst, dass in meiner Familie seit Generationen der Stammbaum des Davidsgeschlechts aufbewahrt wird.“ Er holte von einem Bord eine Pergamentrolle, die er dort offensichtlich schon bereitgelegt hatte und rollte sie auf den Knien auf. Die Rolle schien sehr alt zu sein, war aber immer wieder angesetzt und ergänzt worden.
„Seht her, von Abraham bis David waren es 14 Generationen, von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft wieder 14 Generationen aus dem Königsgeschlecht Davids (Mt 1, 1). Dann war das Königtum Davids zu Ende. Die Verheißung abgebrochen. Aber es gab noch Nachkommen Davids! Sie alle mussten um ihr Leben fürchten und ihre Abstammung geheim halten. Unsere Väter haben im Geheimen die Listen des Geschlechts Davids weitergeführt, haben geheime Davidnachkommen versteckt und ihnen geholfen, dass sie nicht umkamen. Fünf Jahrhunderte lang, bis heute. Und nun sind seit der Rückkehr aus den Exil noch einmal 12 Generationen aus dem Hause Davids gekommen, haben gelebt und sind gestorben. Von der 13. Generation ist nur noch ein männlicher Vertreter am Leben: Josef. Sein Sohn wird die 14. Generation vollenden. Versteht ihr: Drei mal 14 Generationen! 14, das ist ja nicht irgendeine Zahl, das ist die Zahl des Namens Davids. Drei mal der Name Davids in der Geschichte Israels! Dann wird die Verheißung erfüllt (siehe Beitrag 2, Abschnitt 1 „Der Stammbaum Jesu) Gott lügt nicht!“ Erschöpft fiel Schimon in die Kissen zurück.
Alle schwiegen. „Wo ist Josef?“ fragte Secharja schließlich, „ich habe schon seit über einem Jahr nichts mehr von ihm gehört. Ist er überhaupt noch am Leben?“ „Er ist in Sicherheit“, antwortete Savdai, „bei uns in Kfar Nahum*. Er arbeitet als Zimmermann. Niemand weiß, wer er wirklich ist. In Beth-Lechem**, so nahebei Jerusalem und beim Herodion wäre es jetzt einfach zu gefährlich.“ „Und du selbst, hast du keine Angst, hierher in die Höhle des Löwen zukommen?“ fragte Secharja ein wenig spöttisch.
* Kfar Nahum (Dorf des Nahum) = hebräische Form von „Kapernaum“
**Beth-Lechem (Haus des Brotes) = hebräische Form von „Bethlehem“
„Wir sind harmlose Pilger, die zum Pessach-Fest nach Jerusalem ziehen und ihre religiöse Pflicht erfüllen“, lachte Savdai und wies mit einer Kopfbewegung auf drei jüngere Männer, die an der Längsseite des Raumes saßen und sich durch ihre Kleidung deutlich von den übrigen Anwesenden unterschieden. „Das ist die einzige Gelegenheit, wo wir uns treffen können, ohne Aufsehen zu erregen. Zu Pessach ist ganz Jerusalem mit Pilgern überschwemmt, da kann nicht einmal Herodes jeden überwachen lassen. Morgen Abend werde ich mit den Verantwortlichen von einigen anderen Gruppen aus verschiedenen Gegenden sprechen, die wie wir auf den Messias warten und die sich auch während des Pessach-Festes hier treffen, da werde ich ihnen weitergeben, was wir hier besprochen und beschlossen haben.“
„Josef muss heiraten, bald!“ Schimons Stimme klang trotz seiner Schwachheit energisch. Secharja wunderte sich, wie gut sich der alte Mann erholt hatte. Noch vor ein paar Wochen hatten alle damit gerechnet, dass er die nächsten Tage nicht überleben würde. Doch es schien, als ob der eiserne Wille des Alten der Hinfälligkeit des Körpers nicht nachgeben wollte und sich einfach weigerte zu sterben. „Ich darf noch nicht sterben“, hatte er immer wieder gemurmelt.„Meine Augen haben den Heilland Gottes noch nicht gesehen.“
„Schimon hat recht. Josef ist alt genug. Er sollte bald heiraten. Sein Sohn wird der verheißene Davidssohn sein, der Hirte, der Israel weiden soll mit Gerechtigkeit.“ Secharja ging in Gedanken die Verheißungen durch, die sich im Tenach* auf den Sohn Davids bezogen, er kannte sie alle auswendig.
* Tenach = Schriften des später so genannten „Alten Testaments“
„Zum Heiraten gehören zwei“, warf Savdai ein. „Da müssten wir erst einmal eine passende Frau finden. Und das kann ja nicht irgendeine sein. Schließlich soll sie die Mutter des Messias werden.“
„Sollten wir da nicht erst einmal Josef fragen, vielleicht hat er sich schon eine ausgesucht, die ihm gefällt“, wandte Secharja ein.
„Gefallen hin, gefallen her“, protestierte Savdai, „die Mutter des zukünftigen Königs von Israel heiratet man nicht einfach so aus Gefallen. Das ist ein Vorgang mit weitreichender Bedeutung, ein Staatsakt sozusagen!“
„Mirjam.“* Leise, kaum verständlich kam dieses eine Wort aus der Ecke, wo der alte Schimon in seinen Kissen fast zusammengesunken war.
„Mirjam? Das ist der häufigste Mädchenname in ganz Israel, da hätten wir ein paar Tausend zur Auswahl.“ Savdai konnte seine Ungeduld gegenüber der wortkargen Art Schimons nicht verbergen.
„Lass das“, Secharja hieß ihn mit einer Handbewegung schweigen und beugte sich vor um Schimon besser zu sehen. „Welche Mirjam meinst du?“
„Die aus Nazareth natürlich“, antwortete dieser.
„Du meinst …?“ Secharja versuchte seine Überraschung im Halbdunkel des Raumes etwas zu verbergen und er merkte, dass auch Savdai sich betroffen aufgerichtet hatte. „Du meinst – unsere Mirjam, die aus der Verwandtschaft meiner Frau und Schwester von Savdais Frau Schlomit**? Warum gerade die? Ist die nicht viel zu jung?“
* Mirjam = ursprüngliche hebräische Form von „Maria“
** Schlomit = hebräische Form von „Salome“. Nach Mt 27, 55-56 und Mk 15,40 kann man annehmen,dass die dort erwähnte Salome die Frau des Zebedäus (Savdai) und Mutter des Jakobus (Ja-akov) und Johannes (Jochanan) war; Matthäus erwähnt, dass die „Mutter der Zebedäussöhne“ mit unter dem Kreuz stand, und Markus erwähnt im gleichen Zusammenhang Salome; nach Joh 19, 25 war die „Schwester der Mutter Jesu“ mit dabei. Aus allen diesen Angaben folgt zwar nicht zwingend, dass diese „Salome/Schlomit“, die „Mutter der Zebedaussöhne“ und die „Schwester der Mutter Jesu“ ein und dieselbe Person war, es besteht aber nach der Zusammenschau dieser Texte eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür. Dann wäre auch der Jesusjünger, der unter dem Kreuz auf die Weisung Jesu hin dessen Mutter zu sich nahm, deren Neffe gewesen.Papias von Hierapolis, Bischof und Schüler des Apostels Johannes, bestätigt (um 130 n. Chr.) dieseAnnahme. (Papiasfragmente Kap. 22 Fragment aus Cod. MS 2397 Bibliothecae Bodleianae, fol. 286, col. 2): „Maria, die Mutter des Herrn; Maria, die Gattin des Cleophas oder Alphäus, die die Mutter des Bischofs und Apostels Jakobus, des Simon, des Thaddäus und ebenso des Josef war; Maria Salome, Gattin des Zebedäus und Mutter des Evangelisten Johannes und des Jakobus; Maria Magdalena. Diese vier macht man im Evangelium ausfindig. Jakobus, Judas und Josef waren Söhne einer Tante des Herrn. Und ebenso waren Jakobus und Johannes die Söhne einer anderen Tante des Herrn. …“
„Älter wird sie von selbst“ Schimon wischte diesen Einwand einfach beiseite und richtete sich etwas auf. Secharja bemerkte wieder dieses Leuchten in seinen Augen, das ihn schon vorhin verblüfft hatte. Auch Schimons Stimme klang wieder fest und klar: „Sie kommt aus der gleichen Priesterfamilie wie deine Frau, man sagt, dass sie sich in direkter Abstammung bis auf Aaron zurückführen lässt. Du weißt, es gibt zwei Gesalbte in Israel: Den König und den Hohepriester. Josefs und Mirjams Sohn wird der zweifach Gesalbte* sein, der doppelte Maschiach: Aus königlicher Abstammung von David her und aus hohepriesterlicher Abstammung von Aaron her. Er wird sein Volk regieren wie David und vor Gott heiligen wie Aaron.“
* Der Gesalbte = hebräisch „Maschiach“ (Messias)
Savdai war begeistert. „Schimon, ich glaube du bist doch ein Prophet!“ rief er und auch unter den jungen Männern entstand eine lebhafte Bewegung: Endlich sollte es losgehen, endlich war die Zeit des verheißenen Davidssohns in Sichtweite, und sie waren dabei!
Nur Secharja war noch zurückhaltend. Die kleine Mirjam, dieses zarte Mädchen, das er ein einziges Mal gesehen hatte, als er im Norden, in Galiläa war, um Verwandte seiner Frau zu besuchen. Sie, die Mutter des messianischen Königs? Er wünschte sich, seine Frau Elischeva* wäre jetzt da und er könnte mit ihr darüber reden. Elischeva hatte oft geistliche Einsichten, die ihn überraschten, sie erkannte Zusammenhänge, die anderen,auch ihm selbst, verborgen blieben.
* Elischeva = hebräische Form von Elisabeth
„Wir müssen mit Josef und Mirjam reden, die Verlobung ansetzen, den Hochzeitstermin festlegen …“ Savdai war in seinem Element. „Dann werden wir in Galiläa eine geheime Armee aufstellen, damit wir die Macht übernehmen können, wenn es so weit ist. So etwas braucht Zeit. Und wenn dann der neue Davidssohn alt genug ist, dann …“ Er holte tief Luft.
„Gott wird das messianische Reich aufrichten, nicht du! Oder bist du Gott?“ Überraschenderweise klang Secharjas Stimme dabei gar nicht spöttisch, sondern sehr ernst.
„Nein“ erwiderte Savdai, „aber David hat sein Reich auch nicht allein erobert, und der Maschiach wird auch Leute brauchen, die ihm helfen und auf die er sich verlassen kann. Und ich werde dabei sein!“ Savdais Stimme klang entschieden und sehr sicher.
„Du nicht, deine Söhne vielleicht.“ Kaum hörbar kam es von Schimon herüber. Aber Savdai hatte gute Ohren. Er schwieg. Mochte der Alte doch reden. Er würde die Sache schon in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass nicht erst seine Söhne …
Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen. Secharja hatte mit lauter Stimme einen der Festtagspsalmen angestimmt. Die anderen waren überrascht, fingen sich aber schnell und fielen nach und nach ein. Es war das vereinbarte Zeichen: Wenn einer etwas Verdächtiges bemerkte, dann sollte er einen der Psalmen anstimmen, die für das Fest vorgeschrieben waren, so wie es eben fromme Pilger tun, die miteinander in Jerusalem Pessach feiern.
* * *
„Wie hat sie es aufgenommen?“ Noch bevor Schlomit den niedrigen Raumbetreten hatte, hielt Savdai seine Frau am Ärmel fest und zog sie zu sich. „Erstaunlich gut, sie schien gar nicht so sehr überrascht, fast als hätte sie so etwas erwartet. Dabei ist sie noch so jung, halb Kind, halb Frau.“
Mühsam ließ sich Schlomit auf ihrem extra dick gepolsterten Kissen nieder. Sie war schwanger, schon im siebenten Monat. In acht-neun Wochen etwa würde es so weit sein. Es war ihr erstes Kind. Ein Junge hoffte sie. Savdai wünschte sich so sehr einen Jungen. Ja-akov* sollte er heißen.
* Ja-akov = hebräische Form von „Jakobus
In Gedanken war sie noch bei der Begegnung mit Mirjam, ihrer „kleinen“ Schwester. Savdai hatte sie geschickt. Ihm schien es besser, wenn Mirjam es von einer Frau erfuhr. Savdai war geradezu euphorisch von der Pilgerreise nach Jerusalem zurück-gekommen. Er hatte viele Leute kennen gelernt, die so dachten wie er, hatte neue Verbindungen geknüpft und er hatte die Nachricht mitgebracht, dass „die Zeit erfüllt war“ wie er sich ausdrückte. Josef sollte heiraten und sein Sohn sollte König in Israel sein, wie es verheißen war.
„Alles wird gut“, hatte Savdai gesagt, „jetzt beginnt eine neue Zeit. Endlich werden wir frei sein und in Frieden leben können.“ Und sie, Schlomit, sollte mit Mirjam reden und sie darauf vorbereiten, dass etwas Wichtiges zu besprechen sei. Heute war die Gelegenheit dazu. Heute war Markttag in Magdala, etwas südwestlich von Kfar Nahum, aber nicht weit. Da kamen Frauen aus der ganzen Umgebung zusammen, um zu verkaufen, was sie anzubieten hatten und zu kaufen, was nötig war. Auch Mirjam war mit ihrer Mutter Channah und einigen anderen Frauen von Nazareth herübergekommen, um kleine Handarbeiten zu verkaufen, die Mirjam mit geschickten Fingern herstellte. Ein weiter,beschwerlicher Weg, aber keine ungewohnte Strapaze für ein junges Mädchen.
Allerdings würden sie nicht am gleichen Tag zurückgehen können, sie würden sich eine Bleibe für die Nacht suchen und morgen oder übermorgen den Weg zurück gehen. Sie würden den ganzen Tag dazu brauchen, denn heimwärts nach Nazareth ging es fast ständig bergauf.
Schlomit hatte im Trubel des Marktes ihre jüngere Schwester auf die Seite genommen und war mit ihr ein Stück weiter weg am See entlang gegangen. Sie hatte noch nicht viel verraten, nur angedeutet, dass Mirjam ja nun alt genug wäre, um an eine Verlobung zu denken. Und dass sich Leute, die es gut mit ihr meinten, schon Gedanken gemacht hätten, wer da in Frage käme, und dass man darüber mit ihr und der Mutter noch etwas ausführlicher reden müsste. Sie beide würden ja bei ihnen in Kfar-Nahum übernachten, da hätte man Zeit …
Schlomit richtete sich wieder auf und ging an die Arbeit. Sie hatte noch eine Menge vorzubereiten für den Abend, es würden ja noch mehr Gäste da sein als sie Mirjam verraten hatte. Während sie einer Magd und einem Mädchen aus der weiteren Verwandtschaft, das mit im Haus lebte, Anweisungen gab und selbst routinemäßig die gewohnten Handgriffe erledigte, gingen ihre Gedanken schon voraus zum kommenden Abend. Wer wird alles da sein? Savdai hatte Boten in verschiedene Richtungen losgeschickt und die Leiter mehrerer Gruppen von „Davidgetreuen“ zu einer Versammlung in seinem Hause gebeten. Da durfte sie als Gastgeberin sich selbst und ihren Mann nicht blamieren. Frischer Fisch, gekocht und gebraten war genug da, Savdai hatte mit seinen Leuten letzte Nacht einen guten Fang gemacht. Verschiedenes Obst und Gemüse aus dem Garten, Fladenbrot, frisches Wasser vom Brunnen… Fast fünf Jahre war sie nun mit Savdai verheiratet und wohnte hier in Kfar Nahum. Vorher hatte sie bei ihrer Familie in Nazareth gelebt …
Ihre Gedanken blieben in der Vergangenheit hängen. Drei – vier Jahre musste es nun her sein, als man ihren, Mirjams und Schlomits, Vater mitnahm. Wie viele Bauern konnte er nach einer schlechten Ernte seine Steuern nicht bezahlen, musste Schulden machen bei skrupellosen Geldwechslern, zu horrenden Zinsen, die die Schuld innerhalb eines Jahres fast verdoppelten. Und als dann im zweiten Jahr hintereinander die Ernte nur mäßig ausfiel, war es vorbei. Die Steuereintreiber verlangten ihr Geld, niemand war bereit, dem verschuldeten Mann noch etwas zu borgen. Eines Morgens kamen die Soldaten, keine Römer, eigene Leute aus Israel, die sich hergaben ihre Landleute zu unterdrücken, ein römischer Zollaufseher mit dabei. Vier Männer aus dem winzigen Nest Nazareth nahmen sie mit. Keinen hatte man seither wiedergesehen.
Für Miriam und ihre Mutter begann eine schlimme Zeit. Sie mussten alles verkaufen, was sie hatten, um ihren Mann und Vater auszulösen. Auch Savdai, Schlomits Mann, versuchte zu helfen so gut er konnte. Aber es reichte bei weitem nicht. Die Mutter verdingte sich als Magd bei einem Nachbarn, Mirjam wurde Bettelkind auf Märkten und vor den Synagogen in der Umgebung. Jetzt war sie zu alt dafür und sie verdiente sich hier und da etwas, indem sie half, wo sie gebraucht wurde oder indem sie feine Handarbeiten nach alten Mustern anfertigte und verkaufte. Ansonsten führte sie den Haushalt, oder das, was davon übrig geblieben war, denn ihre Mutter kam oft erst spät und völlig erschöpft von der Arbeit zurück.
Ein elendes Leben! dachte Schlomit, und dabei stammten sie eigentlich aus einer alten und angesehenen Familie. Sogar Hohepriester soll es unter ihren Vorfahren gegeben haben. Ob der Vater noch am Leben war, wusste niemand, viele starben unter den schrecklichen Bedingungen der Schuldhaft, wenige kehrten zurück, gezeichnet fürs Leben.
Schlomits Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als sie die beiden Gestalten auf der staubigen Straße am Seeufer näher kommen sah. Das waren sie schon, die Mutter und Mirjam. Gut waren die Geschäfte wohl nicht gegangen. Das meiste, was sie aus Nazareth mitgebracht hatten, trugen sie in Beuteln auf dem Kopf – unverkauft. Schlomit ging ihnen ein Stück entgegen. Beide sahen erschöpft und entmutigt aus. „Kommt herein, setzt euch erst mal, esst und trinkt etwas!“ Während die beiden sich etwas erholten, beobachtete Schlomit unauffällig ihre Schwester. Eine schlanke, biegsame Gestalt und ein schön gezeichnetes, ausdrucksstarkes Gesicht, lebhafte Augen und ein kluger, wacher Blick. Mirjam war schon als kleines Mädchen als besonders hübsches und intelligentes Kind aufgefallen. Ja, wenn man sich die ärmliche Kleidung wegdachte und sich ein kostbares Gewand vorstellte … eine wirklich königliche Erscheinung.
In diesem Augenblick kam Savdai hinzu. „Schalom, Channah, Schalom, Mirjam“. Er räusperte sich ein bisschen, als müsste er etwas Zeit gewinnen, ehe er einen neuen Anlauf nahm. „Hat Schlomit schon etwas gesagt?“
„Was gesagt?“ Überrascht hob Channah den Kopf, mit einer Bewegung, die zugleich Erschrecken und Erwartung verriet. „Habt ihr etwa von Vater gehört, lebt er noch?“
Schlomit schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben nichts gehört. Ich habe nur in Magdala mit Mirjam gesprochen. Sie ist ja nun bald alt genug zum Heiraten.“
„Ach ja, meinst du?“ Channahs Stime war kaum mehr als ein Flüstern. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie sah hinüber zu Mirjam. „Sicher hast du recht. Und ich, ich werde schon irgendwie durchkommen ohne sie.“ Channahs Stimme versuchte zuversichtlich zu klingen. Aber Schlomit hörte den Unterton der Hoffnungslosigkeit. Nein, Mutter würde nicht durchkommen ohne die Hilfe Mirjams.
Savdai hatte nichts gemerkt. Er beugte sich etwas vor und senkte die Stimme. „Ich weiß auch schon einen geeigneten Mann für sie.“
Schlomit sah, wie ihre Mutter erschrak und versuchte, die Situation etwas zu entschärfen: „Ganz so eilig ist es ja nicht, Miriam ist ja noch jung.“
Aber Savdai war nicht zu bremsen. „Doch, doch. Die Zeit drängt. Hör zu, Wir haben hier im Dorf einen jungen Mann, der heißt Josef, er ist Zimmermann.“ Savdai sah sich um, als wollte er sich vergewissern, dass es keine unerwünschten Zuhörer gab. „Und er …, äh, wie soll ich sagen … er stammt aus einer berühmten Familie.“
Channah richtete sich auf: „Wir auch, wir brauchen uns nicht zu verstecken, unserer Vorfahren stammen direkt von Aaron ab“. Stolz schwang in Channahs Stimme. Dann ließ sie den Kopf wieder sinken. „Aber das hilft uns jetzt auch nichts“.
„Jetzt geht es auch nicht um unsere Vergangenheit, sondern um die Zukunft Israels“, Savdais Stimme war lauter geworden. Dann beherrschte er sich und sprach leise weiter: „Josef ist ein direkter Nachkomme von König David. Durch ihn wird die Königsherrschaft des Hauses Davids wieder aufgerichtet werden. Sein Sohn wird der Gesalbte Israels sein. Und Mirjam ist aus altem Priestergeschlecht. Josefs und Mirjams Sohn wird der verheißene König und Priester sein auf dem Thron Davids.“ Savdais Stimme klang erregt und begeistert.
„Aber“, er blickte zwischen Channah und Mirjam hin und her.„Wenn irgendjemand etwas davon erfährt, was heute in diesem Hause gesprochen wird, dann kostet das uns allen den Kopf. Uns allen! Heute Abend werden einige Männer hierher kommen, die alle auf den Gesalbten Israels aus dem Hause Davids warten, und die bereit sind, ihr Leben dafür einzusetzen, dass sein Reich kommt. Sie werden auch über Josef und Mirjam sprechen. Es sei denn, ihr beide“ er blickte erst zu Channah und dann zu Mirjam, „ihr sagt, dass ihr nichts mit der Sache zu tun haben wollt und vergesst, was heute hier gesprochen wurde.“
„Ich werde nichts vergessen!“ Zum ersten Mal seit sie in Kfar-Nahum angekommen waren, meldete sich Mirjams klare, helle Mädchenstimme zu Wort. „Ich werde nicht vergessen, was mit unserem Vater geschehen ist, ich werde nicht vergessen, was wir an Not und Armut seitdem erlebt haben, ich werde nicht vergessen, was ich an Unrecht und Unterdrückung jeden Tag sehe. Der Allmächtige wird sich über uns erbarmen und Israel erretten. Er wird die falschen Machthaber vom Thron stoßen und den Erniedrigten wieder aufhelfen, so wie er es den Vätern verheißen hat (vgl. Lk 1, 52).“
Erstaunt sahen die Erwachsenen zu Mirjam hinüber, die sich hoch aufgerichtet hatte und deren Haltung und Ausdruck nun auf einmal gar nicht mehr mädchenhaft – kindlich waren. Auch ihre Stimme klang nun eher fraulich und stark, durch die Erfahrung von Leid und inneren Kämpfen gereift. Keiner der Anwesenden dachte in diesem Augenblick daran, dass es sich ja eigentlich für ein Mädchen ihres Alters nicht schickte, das Wort zu ergreifen, wenn Erwachsene miteinander redeten.
„Seht ihr, ich wusste, Mirjam würde uns verstehen!“ Auch Savdai war aufgestanden. „Die Zeit ist erfüllt und das Reich des Maschiach ist nahe. Josefs Sohn wird König sein auf dem Thron Davids. Und du, Mirjam, wirst Josefs Frau werden und die Mutter des Gesalbten.“ Savdai sah nun direkt Mirjam ins Gesicht. Er wusste: Sie würde entscheiden, ungeachtet aller Gepflogenheiten, durch die es den Familien der Brautleute zukam, die zukünftigen Ehepartner auszusuchen und die Einzelheiten des Heiratsvertrages auszuhandeln. Hier gab es bei beiden Brautleuten keine Familienoberhäupter mehr, die mitzureden und zu entscheiden hatten, und auszuhandeln gab es auch nichts. Es würde eine Ehe auf Hoffnung sein, gegründet auf dem Glauben, dass Gott seine Verheißungen wahr macht und jetzt die Zeit dafür gekommen sei.
„Ja, ich werde Josef heiraten und ihm einen Sohn schenken, den König von Israel.“ Schlicht und selbstverständlich klangen diese Worte aus Mirjams Mund, so als ob sie eine ganz alltägliche Entscheidung mitzuteilen hätte.
„Aber du kennst Josef doch gar nicht“, versuchte ihre Mutter einzuwenden. „Und du bist doch noch viel zu jung!“
„Ich bin nicht jünger als die meisten Mädchen, wenn sie verlobt werden und ich weiß, mein zukünftiger Mann stammt aus dem Geschlecht Davids. Mehr brauche ich nicht zu wissen.“ Mirjams Stimme klang sicher und entschieden. Erst als sie zu ihrer Mutter hinüber sah, merkte sie, wie unsicher und verwirrt sie in Wirklichkeit war und sie musste die Neigung unterdrücken, sich wie früher auf den Schoß der Mutter zu flüchten und sich an ihrem Hals auszuweinen.
„So ist eure Verlobung hiermit besiegelt“, sagte Savdai. „Josef wird heute Abend hier sein, da werde ich es ihm mitteilen.“ Er war sehr zufrieden mit dem Ergebnis des Gesprächs und hielt es seinem Verhandlungsgeschick zugute. „Heute Abend werden die wichtigsten Anführer der David-Bewegung aus ganz Galiläa hier her kommen. Wir werden alle nötigen Schritte beraten, damit die Bewegung wachsen und stark werden kann und damit Israel gerettet wird und jeder frei leben kann unter der Herrschaft des Gesalbten aus dem Hause David. Da heißt es gut überlegen und sorgfältig planen“.
* * *
Bedrücktes Schweigen füllte den Raum. Kaum ein halbes Jahr war es her, seit man in fast gleicher Zusammensetzung hier in Hause Savdais zusammengewesen war. Man hatte gut überlegt und sorgfältig geplant und alles schien auch nach Plan zu laufen. Und jetzt das!
Savdai selbst schwieg. Enttäuschung und Zorn mischten sich in seinen Gefühlen. Er hatte die Idee des alten Schimon aus Jerusalem hier in Galiläa vertreten, hatte sich stark gemacht dafür. Nicht nur, dass er jetzt vor allen als Versager dastand, auch seine eigenen Hoffnungen waren in Frage gestellt. Wie konnte das nur passieren, wie konnte er sich in einem Menschen so täuschen?
Mirjam! Sie schien nach der Verlobung mit Josef nur noch einen Gedanken zu haben: sich auf ihre künftige Rolle als Josefs Frau und Mutter des Maschiach vorzubereiten. Sie war jetzt häufig Gast in Savdais Haus. Savdai war immer wieder überrascht von ihrer Klugkeit und ihrem Wissen. Sie konnte ausgezeichnet lesen und schreiben, was bei einem Mädchen nur selten der Fall war. Sie las in den biblischen Schriften, besonders im Buch der Könige, machte sich Gedanken über die Bücher der Propheten, besonders Jesaja und Daniel, grübelte über biblischen Verheißungen, wollte immer noch mehr wissen über die gegenwärtige politische Lage und das kommende Reich der Königsherrschaft Gottes.
Josef dagegen war für Savdai eher eine Enttäuschung. Er war ein guter Zimmermann, gewiss, aber für seine Rolle als Davidssohn und Vater des zukünftigen Messias schien er sich herzlich wenig zu interessieren. Ja, es schien fast, als würde er allem ausweichen, was ihn daran erinnern konnte. Vielleicht hatte er einfach Angst, dass etwas herauskommen würde, dass irgendeiner der Eingeweihten nicht dicht hielt. Dann war sein Schicksal besiegelt!
Mirjam dagegen war voller Vertrauen und Zuversicht und von einem Mut beseelt, den Savdai vor allem ihrer kindlichen Unerfahrenheit zuschrieb. Sie strahlte Entschiedenheit und Hingabebereitschaft aus, und zugleich auch eine Mischung aus mädchenhafter Scheu und kindlich-träumerischer Erwartung.
Bis vorige Woche. Sie war wieder den weiten Weg von Nazareth herübergekommen, sah blass und elend aus. Sie wollte mit Schlomit reden. Das Gespräch dauerte lange. Danach hatte Schlomit versucht, ihm etwas zu erklären, was er nicht verstand. Er war ungeduldig geworden, schließlich wütend. Am Ende war nur eines bei ihm hängen geblieben: Die kleine Mirjam war schwanger, aber nicht von Josef. Alles andere, das von einem Engel und dem Heiligen Geist, das wollte nicht in seinen Kopf. Was nun, wie sollte es weitergehen?
Er hatte vieles in Bewegung gebracht, auch viel riskiert, von dem Schlomit nichts wusste. Die war durch den kleinen Ja-akov sehr in Anspruch genommen und er wollte sie nicht beunruhigen.
„Wie soll es jetzt weitergehen?“ Jochanan aus Beth-Zaida (siehe Jo 1, 42-43) am Nordufer des Sees sprach die Frage aus, die alle bewegte. Jochanan war eine bekannte Persönlichkeit in der Davids-Bewegung, einer der wusste, was er wollte und der auch stets Wege fand, das was er wollte auch durchzusetzen. Er hatte zwei Söhne, die sein ganzer Stolz waren: Andreas, der Ältere, war ein zurückhaltender, fast etwas verträumter Junge von acht Jahren. Schimon, zwei Jahre jünger, war dafür um so wilder und draufgängerischer, so recht nach dem Herzen des Vaters. „Eines ist klar: Ein Mädchen, das sich in der Verlobungszeit mit einem anderen Mann einlässt, kann nicht Mutter des Messias werden!“
„Eine Hure ist sie, weiter nichts“, kam eine harte, heisere Stimme aus der gegenüberliegenden Ecke. „Wenn eine Frau, die einem Mann fest versprochen ist, es mit anderen Männern treibt, so ist sie eine Hure, sie begeht eine Sünde, die so schwer wiegt wie Ehebruch und wird gesteinigt. So will es das Gesetz!“ Zustimmendes Gemurmel bestätigte diese Ansicht. „Aber sie ist doch fast noch ein Kind“, versuchte Savdai einzuwenden. „Na und?“, kam wieder die heisere Stimme „zum Huren war sie doch alt genug, da ist sie auch alt genug die Strafe zu spüren!“
„Wartet“, Savdai versuchte Zeit zu gewinnen, „sie hat Schlomit etwas erzählt von einem Engel, vielleicht war doch alles ganz anders.“ „Von Engeln wird man nicht schwanger“, knarrte die heisere Stimme mit einem harten Lachen. „Da gehört immer noch ein Mann dazu! Aber dass Frauen, die ihre Haut retten wollen, eine besondere Phantasie entwickeln, das hat man schon öfter gehört.“
Jochanan suchte nach einer Möglichkeit, den offenen Konflikt zu vermeiden und wandte sich an Savdai: „Ruf doch Schlomit, sie soll uns berichten, was Mirjam gesagt hat.“
„Was soll das?“, protestierte der Heisere, „Frauen haben in unserer Versammlung nichts zu suchen und nicht zu reden!“ „Dann werden wir eben jetzt eine Ausnahme machen!“ entschied Savdai, und seine Autorität brachte die anderen zum Verstummen. Er erhob sich, trat vor die Tür und rief seine Frau.
Schlomit kam sofort. Sie blieb in der Tür stehen, ohne den Raum zu betreten und Savdai hielt es für besser, es dabei zu belassen. „Was hat dir Mirjam gesagt, als sie vorige Woche hier war?“ fragte Savdai. Schlomit, die sich in der ungewohnten Männerversammlung unsicher und eingeschüchtert fühlte, versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie wusste, dass es jetzt von ihr abhing, ob Mirjam, ihre kleine Schwester, in den nächsten Tagen eines grausamen Todes sterben würde.
„Mirjam ist ein ehrliches und tugendsames Mädchen“, begann sie, „das kann jeder bestätigen, der sie kennt. Sie kennt die Thora besser als viele Männer, obwohl sie noch so jung ist. Sie würde nie so eine Sünde begehen. Sie war vor ein paar Wochen allein zu Hause, da kam eine Lichtgestalt herein, wie sie nie zuvor etwas Ähnliches gesehen hatte. Die sagte zu ihr: Schalom, Begnadete, Adonai* ist mit dir. Mirjam erschrak sehr und wunderte sich über diese Anrede. Da sagte der Engel: „Fürchte dich nicht Mirjam, du hast Gnade gefunden bei Gott. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären und du sollst ihm den Namen Jeschuah** geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und JHWH, Gott wird ihm den Thron seines Vaters David geben und er wird König sein über das Haus Ja-akov in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.” Mirjam hat dann gesagt, dass das ja gar nicht möglich sein könnte, weil sie ja noch mit keinem Mann zusammen war. Aber der Engel sagte nur: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten, darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Sohn Gottes genannt werden.” Dann sagte der Engel noch, dass auch Elischeva, ihre Verwandte in En Kerem bei Jerusa-lem, die Frau des Priesters Secharja, schwanger sei, obwohl sie doch schon viel zu alt dafür ist. Aber der Engel meinte, dass bei Gott nichts unmöglich sei. Mirjam war so tief beeindruckt von der Erscheinung, und von der Botschaft des Engels, dass sie nur noch sagen konnte: „Siehe, ich bin Adonais Magd, mir soll geschehen, wie du gesagt hast.” Dann war die Erscheinung verschwunden. Später, als dann ihre Monatsblutung ausblieb …“
* Adonai = hebräisch „der Herr“; vgl. Lk 1, 28ff
** Jeschuah = hebräische Form von „Jesus“, bedeutet „Gott rettet“ (vgl. Mt 1, 20-22)
Schlomit unterbrach sich, weil sie es nicht gewohnt war, vor Männern von solchen Dingen zu sprechen, aber sie besann sich, was auf dem Spiel stand und fuhr tapfer fort: „Später merkte sie dann, dass sie wirklich schwanger war, und kam zu mir, um mir alles zu erzählen. Sie war ratlos und verzweifelt. Nicht einmal unsere Mutter weiß etwas davon.“
„Eine schöne Geschichte, die hätte ich mir auch nicht besser ausdenken können“, sagte die heisere Stimme höhnisch.
„Lass das“, Jochanan sah hinüber zu Savdai: „Weiß eigentlich Josef schon Bescheid?“ „Ja“, erwiderte Savdai, „ich habe gestern mit ihm gesprochen.“ „Warum ist Josef nicht hier, es geht doch um seine Verlobte und um seine Berufung als Davidnachkomme“, fragte Jocha-nan. „Er wird gleich hier sein“, antwortete Savdai, „ich habe ihn absichtlich etwas später bestellt, damit wir uns erst einmal in Ruhe aussprechen können. Josef ist oft so unbeweglich, dann wieder verschlossen und zurückgezogen, ich werde nicht schlau aus ihm.“
„Er hat einfach Angst vor der eigenen Größe“, fuhr eine jugendliche Stimme dazwischen, die sich bisher zurückgehalten hatte. Jeder wusste, dass junge Leute sich nicht einmischen sollten, wenn Ältere miteinander redeten, aber nun konnte sich der Sprecher, ein junger Mann aus Kfar-Nahum, nicht länger bremsen. „Ich habe ihn beobachtet: Er traut sich kaum aus dem Haus, redet mit niemandem, und wenn irgendwo ein Fremder auftaucht, macht er sich aus dem Staub.“ Bei aller Hochachtung vor der hohen Abstammung Josefs mischte sich auch ein wenig Skepsis, wenn nicht gar Verachtung in die leidenschaftliche Stimme des Jungen. Er war sicher noch keine zwanzig Jahre alt, aber kräftig gebaut und lebhaft in Bewegung und Ausdruck. „Ich an seiner Stelle …“
„Du bist aber nicht an seiner Stelle!“ wies ihn Savdai zurecht. „Schluss damit! Außerdem kommt Josef gerade.“
Josef trat mit einer hastigen Bewegung in den Raum und schloss die Tür hinter sich. „Schalom!“ Er ging rasch quer durch den Raum und setzte sich auf den freien Platz an der rechten Seite Savdais. „Schalom, Schalom“, kam die Antwort von allen Seiten.
Jetzt erst hatte man die Möglichkeit, den Neuankömmling genauer anzuschauen. Ein junger Mann, etwas über zwanzig vielleicht, von schlanker, für einen Handwerker fast etwas zu zartgliedriger Gestalt, ein fein geschnittenes, intelligentes Gesicht mit dunklen, schön gezeichneten Augen, die aber in ständig unruhiger Bewegung schienen.
„Du weißt, warum wir heute hier zusammen sind“, begann Savdai. „Wir müssen entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Wir haben schon beraten. Die meisten sind dafür, Mirjam öffentlich anzuklagen. Wenn sie verurteilt wird, wird sie sterben.“ „Nein!“ Mit einer schnellen Handbewegung unterbrach ihn Josef. „Ich will keine öffentliche Anklage! Das würde mehr Aufsehen erregen als uns lieb ist. Ihr wisst: Ein Todesurteil muss von den römischen Behörden bestätigt werden. Die würden eine Menge unangenehmer Fragen stellen. Außerdem …“ Josef schwieg einen Augenblick, als müsste er nachdenken, wie er das Folgende plausibel machen könnte. „Ich will nicht, dass man Mirjam öffentlich in Schande bringt.“ Er unterbrach sich wieder, seine klare, wenn auch durch die überhastete Sprechweise etwas beeinträchtigte Stimme wurde leiser. „Ich habe Mirjam ein paar Mal gesehen, hier bei euch im Hause.“ Er sah zu Savdai hin-über. „Sie hat mir gefallen … sehr gefallen“.
Er unterbrach sich wieder, schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort: „ Ich hatte mir überlegt, dass wir die Verlobung heimlich auflösen. Außer uns wusste ja niemand etwas davon. Das wäre die einfachste und unauffälligste Lösung gewesen. Mirjam wäre dann einfach nur ein junges Mädchen, das eben schwanger geworden ist. So etwas kommt ja immer wieder mal vor. Schlimm für sie, aber nicht lebensgefährlich, nicht für sie und nicht für uns. Aber dann …, er sah im Raum umher, als wollte er sich vergewissern, dass ihm alle zuhören, „aber dann ist etwas geschehen … letzte Nacht“ Er stockte wieder und spürte, wie die Spannung im Raum stieg. „Ich hatte einen Traum, aber nicht wie sonst, sondern, wie soll ich sagen, viel realer, wie ein Traum im Wachzustand. Ein Engel Adonais erschien, wie ein Lichtblitz im Dunkeln, und er sprach mich an. Er sagte: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Mirjam, deine Verlobte zu dir zu nehmen, denn was sie empfangen hat, ist vom Heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jeschuah geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden.“
Josef schwieg wieder einen Moment, dann sah er zu Savdai hinüber. „Da ist mir eingefallen, was Mirjam Schlomit von dem Engel berichtet hat. Die gleiche Erscheinung, die gleichen Worte …“ Josef sah hoch und blickte die Anwesenden der Reihe nach an, dann klang seine Stimme ruhig und sicher: „Ich werde Mirjam als meine Frau zu mir nehmen und dieses Kind als meines anerkennen; Gott will es so!“ Die Überraschung machte sich in heftigen Bewegungen Luft, aber niemand sagte etwas. Savdai hatte sich zuerst gefangen. Er richtete sich auf: „Ihr habt Josef gehört. Ich meine, er hat recht. Gott selbst hat eingegriffen. Wer sind wir, dass wir dem Willen Gottes widerstehen?“
„Träumereien, Träumereien, was soll das? Das Reich Gottes ist nicht aus Träumen gemacht! Wollt ihr die Römer mit Träumen aus dem Land jagen?“ Die heisere Stimme von vorhin kündigte entschiedenen Widerstand an und zustimmendes Gemurmel im Raum ließ erkennen, dass die Stimmung unter den Anwesenden gespalten war.
In diesem Augenblick klopfte es heftig gegen die Tür. Alle erschraken. Wer wollte etwas von ihnen, jetzt, wo es schon dunkel war? War das der gefürchtete Augenblick? Waren sie verraten worden? Wer war draußen? Ein Trupp Soldaten des Herodes, eine römische Patrouille? Jochanan aus Beth-Zaida hatte sich als erster gefasst: „Wir sind Fischer und reden über den Fischfang im See und den Kauf neuer Netze“, flüsterte er.
Savdai nickte und erhob sich um die Tür zu öffnen. Er schob den Riegel zurück und schwang die Tür auf. Draußen stand, staubüberdeckt, verschwitzt und zerlumpt, mit letzter Kraft sich auf den Füßen haltend, Channah, Mirjams und Schlomits Mutter. „Channah, was machst du hier, jetzt in der Nacht, wo kommst du her?“
Savdai zog die völlig erschöpfte Frau herein und verriegelte die Tür wieder. „Rede schon, was ist passiert?“ Channah schien kaum zu wissen, wo sie sich befand, sah mit leerem Blick durch den Raum, schwankte. Schließlich kam es unter Schluchzen aus ihr heraus: „Mir-jam …, Mirjam ist fort!“ Dann brach sie zusammen, lag in der Mitte des Raumes wie ein Bündel zerrissener, schmutziger Lumpen. Savdai öffnete die Tür wieder und ging hinaus. Er rief seine Frau Schlomit. Es dauerte eine Weile, dann kam sie. Sie erfasste schnell die Situation und bat ihren Mann mit anzufassen. Gemeinsam trugen sie die zusammengesunkene Gestalt hinaus.
Die Zurückgebliebenen schwiegen. Zu stark saß der Schreck noch in den Knochen. Es dauerte nicht lange bis Savdai zurückkam. „Sie ist aufgewacht. Schlomit kümmert sich um sie. Sie wird mit ihr reden, dann werden wir erfahren, was los ist.“
Sie mussten ziemlich lange warten, bis Schlomit kam. „Was ist mit Mirjam?“ fragte Savdai. „Sie ist verschwunden, seit heute früh“, antwortete Schlomit. „Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein. Mutter dachte schon, sie hätte sich etwas angetan, suchte sie überall. Schließlich fiel ihr ein, dass sie am Abend vorher etwas von Elischeva, unserer Verwandten aus En Kerem bei Je-rusalem gesagt hatte, dass sie da hingehen müsste, weil Elischeva schwanger sei. Du kennst doch ihren Mann Secharja, den Priester, deshalb hat Mutter gemeint, dass du vielleicht etwas weißt. Also ist sie den weiten Weg hierher gelaufen, fast ohne Essen und Trinken. Sie ist völlig erschöpft und ausgetrocknet. So etwas kann lebensgefährlich sein.“
Savdai schüttelte den Kopf. „Mirjam kann doch nicht zu Elischeva laufen, als wohnte sie nur um die Ecke. Ein Mädchen in ihrem Alter kann nicht ein paar Tagesreisen weit allein durch wilde, unbekannte Gegenden ziehen, als wär’s der eigene Garten. Wenn wir zu Pessach nach Jerusalem pilgern, sind wir in Gruppen von 40 bis 50 Leuten und auch dann kann es noch passieren,dass man von Räuberbanden überfallen wird. Er schwieg, schüttelte nochmals den Kopf. „Wenn Mirjam wirklich versuchen sollte, allein nach En Kerem zugehen, um Elischeva aufzusuchen, dann ist das reiner Wahnsinn, Selbstmord. Und überhaupt, was will sie da?“
„Ich kann es mir denken“, antwortete Schlomit, „begreift ihr denn nicht, wie es um sie steht? Sie ist verlobt, nicht mit irgendjemandem, sondern mit Josef aus der Familie Davids. Sie soll Josef heiraten, soll die Mutter des Messias werden. Darauf war seit einem halben Jahr ihr ganzes Denken und Fühlen ausgerichtet, das hat sie ausgefüllt bis in die letzten Fasern ihres Herzens. Und dann auf einmal diese Geschichte mit dem Engel und dieser unerklärlichen Schwangerschaft. Sie ist alt genug, dass sie weiß, was mit einer Frau geschieht, die in der Verlobungszeit von einem anderen Mann schwanger wird. Die Erscheinung des Engels wird ihr niemand glauben. Sie muss völlig verzweifelt gewesen sein. Die Schande und die Steine warten auf sie und ich glaube, sie fürchtet die Schande noch mehr als die Steine. Sie sah wohl nur noch einen Ausweg. Ihr erinnert euch, dass der Engel gesagt hat, auch Elischeva sei schwanger, obwohl sie schon viel zu alt ist, um noch Kinder zu kriegen. Mirjam musste zu Elischeva und sehen, ob der Engel recht hatte. Denn wenn Elischeva wirklich schwanger ist, dann war ihre Engelsvision kein Traum, keine Einbildung eines überspannten Mädchens. Und vor allem: Wenn Elischeva ein Kind bekommen kann, obwohl sie dafür viel zu alt ist, dann kann Mirjam auch ein Kind bekommen, obwohl sie noch Jungfrau ist. Versteht ihr jetzt? Freilich ist es Wahnsinn, aber es ist ihre einzige Chance, sich selbst und Josef und allen anderen zu beweisen, dass sie weder untreu noch verrückt ist.“ Schlomit schwieg einen Augenblick, dann fügte sie leise hinzu: „Hoffentlich geht alles gut. Wir können nichts anderes tun als beten, dass der Allmächtige sie behütet.“
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Bodo Fiebig „Als aber die Zeit erfüllt war“, Version 2020-2
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