Im Johannesevangelium gibt es eine ganze Reihe von Aussagen Jesu, die alle mit der Formel „Ich bin“ beginnen. Eine davon finden wir in Joh 14,6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“
Diese drei Begriffe will ich hier ansprechen: Weg, Wahrheit und Leben, und zwar deshalb, weil die heute (oft auch im „kirchlichen“ Gebrauch) mit Bedeutungen aufgeladen werden, die dem, was Jesus mit diesem Satz meint, grundsätzlich widersprechen. Und weil das Folgen hat für unser Leben als „Gemeinschaft der Heiligen“ (so im „Apostolischen Glaubensbekenntnis“), aber ebenso auch in der sozialen und politischen Gesellschaft.
1) Der Weg
Die meisten kennen den Satz: „Der Weg ist das Ziel”. Dieser Satz ist seit langem für viele, die als achtsam und verantwortungsvoll gelten wollen, zum Standardspruch geworden. Er klingt tiefsinnig und abgeklärt, nachdenklich und fast fast ein wenig weise.
Er will uns darauf hinweisen, dass man doch achtsam mit dem Gegenwärtigen und Konkreten umgehen soll und es nicht zugunsten von etwas Fernem, Zukünftigen, Jenseitigem vernachlässigen darf.
Wie wahr! Aber sehen wir uns trotzdem diesen Satz noch etwas genauer an: Ist er denn sachlich richtig? Kann denn ein Weg ein Ziel sein? Natürlich nicht. Ein Weg ist eine Strecke und ein Ziel ist ein Punkt, und zwar der Punkt, der diese Strecke beendet. Freilich: Unser Lebens-Lauf soll ja keine Sprint-Strecke sein, wo man, wie beim 100-Meter-Lauf in 10 Sekunden das Ziel erreichen soll. Da hat man unterwegs freilich keine Zeit für eine nette Plauderei. Unser Leben ist auch kein Marathonlauf, wo man das Äußerste aus seinem Körper herausholt, um die 42 km durchzuhalten und wo man weder Zeit noch Kraft hat, auf Besonderheiten und Schönheiten der Umgebung zu achten.
Gewiss: Unser Leben ist kein Wettlauf und deshalb können (und sollen) wir uns auf den verschiedenen Stationen unseres Lebens-Weges auch Zeit lassen für Wahrnehmungen und Begegnungen, für Zuwendung und Gemeinschaft … Der Hinweis, achtsam mit dem Gegenwärtigen und Konkreten umzugehen und es nicht zugunsten von etwas Fernem, Jenseitigem, Zukünftigen zu vernachlässigen, ist ja richtig!
Aber es steht da noch etwas anderes dahinter. Es steht dahinter die unausgesprochene Frage, ob wir nicht zugunsten der Schönheit des Weges dieses dauernde Streben nach dem Erreichen eines Zieles ganz aufgeben sollten.
Wir müssen genau hinschauen: Der Satz „Der Weg ist das Ziel” ist in Wahrheit nicht so harmlos gemeint, wie wir ihn oft empfinden: Es geht ja dabei nicht um einen Sonntagnachmittagsspaziergang, sondern um unseren Lebens-Weg. Und da hat dieser Satz eine bewusst anti-christliche und allgemein anti-religiöse Ausrichtung. Seine (oft versteckte) Botschaft heißt:
Es gibt gar kein Ziel am Ende unseres Weges. Das Leben hier und heute ist alles, das wir haben. Es gibt keine Wirklichkeit jenseits unserer irdisch-materiellen Realität. Es gibt keinen Gott, der uns eine Perspektive eröffnen könnte, die über unsere biologische Lebens-Zeit hinausreicht.
Unser so lebensfreundlich klingender Satz („Der Weg ist das Ziel“) ist, genauer betrachtet, ein atheistisches Glaubensbekenntnis. Und das ist (aus der atheistischen Perspektive gesehen) völlig logisch und folgerichtig: Wenn diese Welt etwas zufällig Gewordenes ist (und das ist ja ein Grundansatz des Atheismus), dann kann es in dieser Welt keinen Sinn und kein Ziel geben. Wo sollte der denn herkommen, wenn alles nur Zufall ist? Dann zählt immer nur das Hier und Jetzt. Das Leben ist dann grundsätzlich immer nur ein Unterwegs-sein, niemals ein Ankommen: Der Weg ist das Ziel.
Demgegenüber müssen wir vom biblischen Verständnis her ein zweifaches betonen: Wer dieses Leben hier auf dieser Erde und jetzt in unserer Gegenwart gering achtet um des Kommenden, Jenseitigen willen, der lebt falsch, aber genau so falsch lebt derjenige, der um des Gegenwärtigen willen das Kommende und Vollendete (also das Ziel des Lebens) leugnet. Weg und Ziel unseres Lebens gehören immer zusammen.
Unser so klug klingender Satz „Der Weg ist das Ziel“ ist in Wirklichkeit das Symptom einer Sinn-Krise in einer Gesellschaft, die ihre Zukunftshoffnungen schon aufgegeben hat. „Was solls? Es gibt keinen Sinn und kein Ziel, der Weg ist alles, was wir haben“.
Jesus aber sagt: „Ich bin der Weg“. Nicht ein Weg als Selbstzweck. Sondern der Weg, der ein Ziel hat: Niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich. Ankommen. Ankommen beim Vater, das ist das Ziel unseres Lebens, darum geht es. Wenn unser Leben immer nur ein Unterwegs-Sein wäre, ohne Sinn und ohne Ziel, dann würde dieser Satz stimmen: Der Weg ist das Ziel. Wenn aber unser Leben einen Sinn und ein Ziel hat, weil es in der Nachfolge Jesu hinstrebt zum Vater-Haus Gottes, dann stimmt das andere: Jesus ist der Weg, mit ihm kommen wir zum Ziel, zum Ziel unseres Lebens.
2) Wahrheit
Papst Benedikt hat in seiner Amtszeit immer wieder den Relativismus als eine Bedrohung unserer Zeit angesprochen. Was hat er damit gemeint?
Der Relativismus ist eine philosophische Denkrichtung, die im zwanzigsten Jahrhundert eine große Karriere gemacht und eine erstaunliche Bedeutung und Wirkung erreicht hat, besonders in seiner konsequentesten Form, die man den „radikalen Konstruktivismus“ nennt. Der geht davon aus, dass es dem Menschen grundsätzlich unmöglich sei, so etwas wie die „Wirklichkeit“ der Welt und die „Realität“ seiner eigenen Existenz wahrzunehmen.
Das, was Menschen von den Dingen ihrer Umgebung, von der Welt und von den Verhältnissen und Vorgängen in ihr wahrzunehmen meinen, sei tatsächlich nur ihr eigenes Konstrukt. Die Sicht des Betrachters gibt vor, was er sieht. Es gibt gar keine objektive „Realität“, die unabhängig von einem Betrachter existieren würde, meint der Konstruktivismus, sondern jeder Mensch konstruiert sich seine „Realitäten“ selbst.
Und vielleicht ist das gar nicht so unsinnig, wie es im ersten Moment klingt. Eine ganze, 100%ige Wahrheit kann es bei Menschen nie geben. Unsere Einsichten sind immer begrenzt. Menschen können nie alles wissen bezüglich eines Zustands oder eines Vorgangs in ihrer Umwelt.
Also, wie ist das dann mit der Wahrheit? Ist meine Meinung die einzige Wahrheit, auch wenn andere ganz andere Meinungen haben? Oder: Ist eine Wahrheit auch dann noch wahr, wenn das entsprechende Geschehen schon Vergangenheit ist und niemand mehr etwas davon weiß und es auch keine Dokumente oder sonstige Beweismittel mehr gibt? Wir merken: Die Frage nach der Wahrheit ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wir wissen ja oft so wenig von den Dingen, die wir genau zu kennen meinen und wir haben oft nur sehr einseitige Informationen von Vorgängen, die uns persönlich betreffen. (Siehe dazu auch das Thema „Wirklichkeit und Wahrheit“ im Bereich „Grundlagen der Gesellschaft“).
Und wenn dann jemand hergeht und so eine Wissenslücke, wo Menschen etwas nicht, oder nicht so genau wissen oder wo sie unsicher sind, auffüllt mit einer erfundenen Fantasiegeschichte oder mit einer dreisten Lüge, dann ist eben das die einzige „Wahrheit“, die es in dieser Sache gibt. Ist „Wahrheit“ nicht doch etwas sehr Relatives?
Ja, es scheint so. Es sei denn, es gibt doch einen, wenigstens einen, der die ganze Wahrheit kennt, der nicht auf historische Dokumente angewiesen ist, weil er in allem Sein und allem Geschehen selbst gegenwärtig war und ist, dann gibt es doch die ganze Wahrheit, auch wenn wir Menschen sie nie zu 100 % kennen. Mit anderen Worten gesagt: Wenn Gott existiert, dann kann eine Lüge nie zur Wahrheit werden, denn Gott weiß die ganze Wahrheit. Dann kann etwas frei Erfundenes nie die Wirklichkeit sein, denn Gott kennt die ganze Wirklichkeit. Das heißt, der Relativismus unserer Gegenwart funktioniert nur, wenn es Gott nicht gibt, also in einem atheistischen Denksystem. Und das ist heute (zumindest im ehemals christlichen Europa) das weitgehend anerkannte und gültige Denksystem.
Diese relativistisch-konstruktivistische Sichtweise bedeutet allerdings, und das betonen ihre Vertreter selbst mit stolzer Überzeugung, dass es grundsätzlich keine objektiven Tatsachen geben kann (sachlicher und historischer Relativismus) und keine allgemeingültige Erkenntnis (erkenntnistheoretischer Relativismus), keine allgemeingültigen Wahrheiten (Wahrheitsrelativismus) und keine allgemein verpflichtende Ethik (ethischer Relativismus). Und diese Form des Relativismus ist es, die Papst Benedikt damals angeprangert hat, und zwar deshalb, weil sie heute weltweit das Denken vieler Menschen bestimmt, vor allem vieler Menschen, die Verantwortung haben in der Politik, der Wirtschaft, in der Rechtsprechung und in den Medien, in den Schulen und Universitäten usw.
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Das Phänomen des Relativismus selbst ist sehr alt, neu ist seine weltumspannende und alle Lebensbereiche durchdringende Wirksamkeit. Schon Plato (ein griechischer Philosoph im 4./5. Jahrhundert vor Christus) zweifelte an der Realität seiner Wirklichkeit. In seinem berühmten „Höhlengleichnis“ versuchte er darzustellen, dass unsere „Realitäten“ eigentlich nur Schattenbilder seien von den wahren Dingen, den „Ideen“, die sich nur dem philosophischen Denken erschließen.
Plato war nicht der einzige, der sich solche Gedanken machte. Im Hinduismus und Buddhismus z. B. gelten (bis heute) das Universum und alle in ihm erscheinenden Realitäten als „Maya“ (d. h. Illusion) und gilt als Ziel des Seins „Nirwana“ (Auslöschung des Lebens, das grundsätzlich ein Leiden ist, in ewiger Nicht-Existenz). Das Selbst, die Identität des Menschen heißt Atman und die ist ebenso Illusion, ist in Wirklichkeit Anatman (Nicht-Selbst). Ein innerstes „Ich“, also eine bleibende Identität des Menschen gibt es nicht und das Streben danach kann nur durch „Shoonya“ (Auflösung, Leere) überwunden werden.
Seit Plato hat diese Frage immer wieder nachdenkliche Menschen bewegt: Sind unsere Wahrnehmungen Widerspiegelung von Realitäten oder doch nur Illusion? Solche Fragen blieben (in der westlichen Welt) über viele Jahrhunderte im Innenraum feingeistiger Zirkel und philosophischer Fachgespräche und erreichten kaum je einmal die raue Luft gesellschaftsrelevanter Diskussion. Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich das radikal geändert. Die Ideen des Relativismus und Konstruktivismus wurden von philosophischen Gedankenspielen zu Machtinstrumenten, mit denen man gesellschaftliche und politische Prozesse anstoßen und fast nach Belieben steuern konnte (siehe die folgenden Beispiele).
Heute, im 21. Jahrhundert, sind die Begriffe und das Bewusstsein von Wahrheit und Wirklichkeit in vielen Bereichen aufgelöst und haben ein diffuses Gefühl von Verunsicherung und Ratlosigkeit hinterlassen: Es ist alles relativ. Es gibt keine objektiven Realitäten, sondern nur individuelle Wahrnehmungen, es gibt keine allgemeingültigen Wahrheiten, sondern nur persönliche Interpretationen, es gibt keine historischen Tatsachen, sondern nur interessengesteuerte Deutungen vergangener Vorgänge und Verhältnisse, es gibt keine allgemein verpflichtende Ethik, sondern nur kulturbedingte Moralvorstellungen.
Das klingt so intellektuell und tiefsinnig, so abgehoben und hochgeistig! Die Konsequenzen einer solchen Haltung werden leider erst bei genauerem Hinschauen sichtbar. Hier können sie jeweils nur mit einem Beispiel angedeutet werden, das uns zeigt, wie weit diese Denkweise in unserer Gegenwart schon angekommen und angenommen ist:
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2a Die relativierte Wahrheit
Herr A. war mit dem Auto in der Stadt, hat einige Dinge besorgt und war dann noch in der Bank um etwas Bargeld abzuheben. Einige Zeit später bekommt er einen Brief von der Polizei, dass er sich bei der Wache melden soll. Dort erfährt er, dass eine Anzeige gegen ihn vorliege, weil er einen Unfall verursacht habe, dabei war zwar nur ein Außenspiegel des anderen Fahrzeugs zerstört worden, aber er habe Unfallflucht begangen. Der Geschädigte hatte sich sein Autokennzeichen notiert. Herr A. ist erschrocken und verunsichert; er kann sich an den Vorfall nicht erinnern. Zu Hause sieht er in seinem Kalender nach und stellt fest: Am angegebenen Unfalltag war er gar nicht in der Stadt und er kann das auch beweisen. Die Nachfragen der Polizei ergeben: Der angeblich Geschädigte hatte selbst einen kleinen Unfall verursacht, bei dem der Spiegel kaputt ging und auch am anderen Auto ein kleiner Schaden entstand. Allerdings nicht am angegebenen Tag, sondern einen Tag zuvor. Um von sich selbst abzulenken, hatte er die Nummer eines Autos notiert, das am Unfallort vor der Bank parkte und dann am nächsten Tag den Unfall angezeigt. Wenn Herr A. nicht hätte beweisen können, dass er am angeblichen Unfall-Tag nicht in der Stadt war, hätte er nun ein Problem: Aussage steht gegen Aussage, welche ist wahr? Wem wird man glauben? Jede Rechtsprechung kann nur dann gerecht sein, wenn sie auf der Wahrheit beruht. Was aber, wenn es so etwas wie „Wahrheit“ gar nicht mehr gibt? Die Relativität der Wahrheit hätte für Herrn A. schlimme Folgen. Gerechtigkeit kann nur auf dem Grund von Wahrheiten entstehen.
Wenn aber die Idee des Relativismus recht hat, und es keine objektiven Wahrheiten gibt, (wahr ist dann immer das, was die überwiegende Mehrheit glaubt und für wahr hält, selbst wenn das eine Lüge wäre) dann kann es doch nicht verwerflich sein, „alternative Wahrheiten“ zu erfinden. „Alternative Fakten“ nennt man das heute, dann kann es doch nichts Schlechtes sein, klug ausgedachte „Fake-News“ zu streuen, die in extra dafür eingerichteten Troll-Fabriken und „Think-Tanks“ produziert und mit einem Mausklick millionenfach um die Welt geschickt werden. In St. Petersburg in Russland gibt es z. B. so eine Fake-News-Fabrik des russischen Geheimdienstes, der überall in der Welt Falschmeldungen platziert, um demokratische Gesellschaften zu verunsichern und zu destabilisieren. Und das ist nicht bloß digitale Spielerei. Das ist handfeste politische Realität. Wahrscheinlich wurden die Brexit-Abstimmung in England ebenso wie die Präsidentschaftswahlen in den USA, als Donald Trump gewählt wurde, mit Hilfe bewusster Fake-News-Kampagnen zumindest mit-entschieden. (Und wir merken, wie tief diese Denkweisen schon in unsere reale Welt und in die reale Weltpolitik eingedrungen sind).
Diese Praktiken, die rund um den Globus Wahlen beeinflussen und Demokratien infrage stellen, haben ihre Wurzeln in der Theorie des Relativismus, auch wenn die längst von der Philosophie in die Machtpolitik ausgewandert ist.
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Ein ganz anderes Beispiel:
„Aber es ist doch wahr“ sagt eine Frau, „ich bin meinem Mann nie untreu gewesen, ich habe immer versucht, die Kinder gut zu versorgen und ordentlich zu erziehen, obwohl das schwer genug war, als mein Mann immer öfter bei seiner Geliebten blieb und er immer weniger Zeit und Geld für seine Familie übrig hatte.“ „Das mag wahr sein“, sagt dann der Scheidungsrichter, „aber es ist irrelevant. Die Beiden haben sich auseinandergelebt, die Ehe ist „gescheitert“ (1976 wurde in Deutschland das Schuldprinzip bei Scheidungen abgeschafft und wurde durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt). Also geht es nicht mehr darum, festzustellen, ob jemand schuldhaft das Eheversprechen gebrochen hat, sondern wir müssen nur noch die Zerrüttung der Ehe feststellen und die „Scheidungsfolgen“ (Unterhalt, Sorgerecht usw.) regeln. Die Schuldfrage bringt uns nicht weiter. Außerdem sieht ja sowieso jeder den anderen als Schuldigen. Und eine objektive Wahrheit kann es da nicht geben.“ So bekommt eine sehr seltsame philosophische Denkweise (der Wahrheitsrelativismus) plötzlich gesellschaftspolitische Wirkkraft per Gesetz. Die Schuldfrage, die als Rechtsprinzip immer auch eine Frage nach der Wahrheit sein muss, die kann und darf nicht gestellt mehr werden. Das heißt, es wird Recht gesprochen und es werden Urteile gefällt, die nicht mehr nach der Wahrheit fragen. Und damit hört das Recht auf, der Gerechtigkeit zu dienen, denn Gerechtigkeit kann nur auf Wahrheit aufgebaut werden.
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Noch ein anderes Beispiel:
Kriege (z. B. in Syrien) werden heute grundsätzlich an zwei Fronten geführt. An einer realen Front, an der real gekämpft, geblutet und gestorben wird und an einer Propaganda-Front, wo die realen Ereignisse gedeutet und umgedeutet werden, übermalt und verfälscht, wo die realen Schlachten propagandistisch ausgeschlachtet werden, um die jeweiligen Gegner als monströse und gewissenlose Kindermörder darzustellen und die eigenen Kämpfer als die edlen Verteidiger der Unschuldigen und Verfolgten. Wenn es schon keine objektiven Wirklichkeiten gibt, dann kann ich mir doch meine Wirklichkeiten so zurechtschneidern wie ich sie brauche. Wer wird denn da nach der Wahrheit fragen? Und das gilt nicht nur in Syrien und im Krieg, sondern auch im Frieden, und in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Manchmal auch bei uns. Der Relativismus wirkt heute nicht als philosophische Idee, sondern als Machtinstrument, weltweit tausendfach erfolgreich angewendet!
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Letztes Beispiel:
Die geistlichen Autoritäten des Islam und die weltlichen Herrscher muslimischer Länder haben fast alle die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen anerkannt, haben sie unterschrieben und ratifiziert. (Dabei muss uns bewusst sein, dass diese Menschenrechte im Wesentlichen christlich-jüdische Werte, also eine biblische Ethik als Rechtsgrundsätze formulieren.) Diese Anerkennung der Menschenrechte durch islamische Autoritäten geschah aber immer mit dem Vorbehalt, dass im Falle eines Widerspruchs zwischen den Menschenrechten und der Scharia, immer die Bestimmungen der Scharia den Vorrang haben sollen. Und da die Bestimmungen der Scharia den Menschenrechten der UN in sehr vielen Belangen widersprechen, haben die Menschenrechte in diesen islamischen Ländern praktisch nur eine geringe Bedeutung. Aber in entsprechenden internationalen Konferenzen wird immer wieder betont: „Was wollt ihr denn! Wir haben doch die Menschenrechte anerkannt!“ Hier haben wir das Beispiel für eine relativierte Menschheitsethik.
Jesus formuliert hier einen ganz anderen Wahrheits-Begriff: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Und das heißt: Sein Weg ist der Weg der Wahrheit und nur der Weg der Wahrheit führt zum wahren Leben. Und Garant dieser Wahrheit ist der, der alle Wirklichkeit und Wahrheit selbst geschaffen hat und kennt und deshalb jede Nicht-Wahrheit erkennen und ausschließen kann. Nicht erst in der Ewigkeit, schon hier und jetzt in den ganz normalen Belangen dieser Welt. Und das ist nicht nur fromme Glaubensaussage. Sondern das hat in ganz konkreten Situationen in der Politik, der Wirtschaft, der Rechtsprechung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, ebenso wie für den privaten Bereich ganz handfeste und ganz entscheidende Bedeutung.
3. Leben
Die große Mehrheit der einschlägigen Naturwissenschaftler (z. B. Evolutionsbiologen, aber auch die meisten anderen, Physiker, Chemiker usw.) geht heute davon aus, dass das Leben aus den natürlichen Ressourcen und Energien der Erde in Jahrmillionen dauernden Entwicklungen „von selbst“ (also ohne Eingriff einer schöpferischen Intelligenz) entstanden sei und dass sich das Leben dann aus einfachsten Anfängen „von selbst“, ohne Plan, ohne Absicht, ohne Sinn und Ziel, nur nach den Gesetzen des Zufalls, bis zum heutigen Variantenreichtum der Lebensformen (einschließlich des Menschen) weiterentwickelt habe. (Freilich gibt es auch ernst zu nehmende Wissenschaftler, die das nicht so sehen, aber die sind sehr in der Minderheit.)
Nun ja, kann man da sagen, so ein Gelehrtenstreit muss uns ja nicht weiter berühren – oder doch? Ich fürchte: Ja. Wir müssen ja immer die Konsequenzen mitbedenken: Wenn das Leben aus Zufall entstanden ist, von niemandem gewollt, sinnlos und ziellos, dann hat das Leben ganz selbstverständlich keinen von menschlichen Einschätzungen unabhängigen Eigenwert, wo sollte denn der auch herkommen, wenn da kein Schöpfer ist, der dafür einsteht, der das Leben gewollt hat und wertschätzt, und ihm dadurch seinen Wert gibt? Dann hat mein Leben immer nur den Wert, den ich selber ihm gebe – oder den Wert, den andere meinem Leben zumessen. Und das kann dann ganz verschieden ausfallen.
Was ist schon das Leben eines alten Menschen wert, der nichts mehr für die Allgemeinheit leisten kann? Ein unnützer Esser mehr! Oder das Leben eines Behinderten mit Down-Syndrom? Was ist das Leben eines ungeborenen Kindes wert, wenn es doch die Eltern nicht haben wollen? Was ist dann das Leben eines ertrinkenden Flüchtlings wert im Mittelmeer?
Das sind doch die Fragen, die uns heute beschäftigen. Und da kriegen die scheinbar bloß theoretisch-spekulativen Fragen nach dem Ursprung des Lebens eine sehr praktische Bedeutung. Unsere Denkmuster werden ja oft ganz unbewusst (und doch oft zwangsläufig) zu Handlungsmaximen.
Hitlers Euthanasieprogramm, als in Deutschland Hunderttausende behinderter Menschen umgebracht wurden, ebenso wie der Holocaust an den Juden und ebenso wie das brutale Vorgehen seiner Militärmaschine im zweiten Weltkrieg in Polen, Russland usw. wären nie möglich gewesen ohne eine von der großen Mehrheit der Menschen in Deutschland geglaubte Ideologie, die behauptet: Alles Leben ist im „Kampf ums Dasein“ gebildet worden, ein Kampf, aus dem die Sieger gestärkt hervorgehen und die Verlierer ausgelöscht werden. „Das ist ja auch in der Natur so“, sagte man. „Selektion durch Kampf. Der Krieg ist der Vater aller Dinge“. Die Folgen kennen wir.
Und wir (jetzt in Jahr 2022) leben in einer Welt, in der nicht nur einige überdrehte Ideologen, sondern fast die ganze Wissenschaftswelt, rund um den Globus und der ganz überwiegende Teil aller Menschen auf allen Kontinenten (auch viele Christen) genau so denken: „Es ist alles von selbst entstanden, ungewollt, zufällig und sinnlos. Die biblische Schöpfungsgeschichte ist gewiss ein interessantes Dokument aus der Frühgeschichte der Menschheit, ein Stück Schöpfungslyrik vom Feinsten, ja, aber natürlich ohne jede Bedeutung für ein modernes Weltverständnis (siehe das Thema „Schöpfungsglaube und modernes Weltbild“). In Wirklichkeit ist selbstverständlich alles von selbst aus den Ressourcen und Kräften der Natur entstanden, ohne Sinn und Ziel, nur den Gesetzen des Zufalls folgend.“
Und ich frage mich: Was wird geschehen, wenn die letzten noch aus dem biblischen Glauben stammenden Schranken gar niedergebrochen sind und ideologische oder religiöse Fanatiker sich aufmachen, zu tun, was sie meinen, dann tun zu dürfen?
Wenn das Leben nicht gewollt ist und kein Ziel hat und wenn es für die Wahrheit kein gültiges Fundament gibt und für die Wirklichkeit keine objektive Grundlage, und wenn es keinen Schöpfer gibt, vor dem wir uns verantworten müssen, dann ist alles möglich – und, wenn es ums Ganze geht, um die ganze globale Macht, dann ist auch alles erlaubt. Da könnte man schon Angst kriegen. Wir sehen heute in der Ukraine, wie weit das gehen kann und wie nahe man da an die Menschheits-bedrohende nukleare Katastrophe kommen kann.
Aber Jesus sagt: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Das heißt: Der Gott, der die ganze Wirklichkeit kennt, weil er sie selbst geschaffen hat, und der die ganze Wahrheit weiß, weil er in allem, was existiert und in allem, was geschieht gegenwärtig war und ist, der hält sein Wissen um Wirklichkeit und Wahrheit, Wert und Würde unseres Lebens nicht zurück. Der gibt sich und seinen Weg, seine Wahrheit und sein Leben durch Jesus zu erkennen. Jesus, der von Gott gesandte Retter der Welt, der geht uns den Weg voran, den Weg, auf dem die Wahrheit, die von Gott kommt, die Wirklichkeit unseres Lebens bestimmt (auch wenn wir diese Wirklichkeit und Wahrheit nie ganz erfassen können). Das nennt man unterwegs sein im Glauben, unterwegs sein in der Nachfolge Jesu. Und: Jesus steht vor Gott dafür ein, dass wir, wenn wir bei ihm bleiben und mit ihm mitgehen, das Ziel unseres Lebens nicht verfehlen: Dass wir wirklich und wahrhaftig ankommen beim Vater.
Und das kann uns Mut machen, die wegweisende Bedeutung des Zieles für unseren Weg, die grundlegende Bedeutung der Wahrheit für unser Zusammenleben, die grundsätzliche Unverfügbarkeit des Lebens für menschlich – egoistische Interessen, und die alles entscheidende Wertschätzung dieser Welt als Schöpfung Gottes auch in unserer Zeit immer wieder auszusprechen und zu betonen. Notfalls auch gegen Widerstände.