Bereich: mitgehen

Thema: Aspekte kirchlichen Lebens im 21. Jahrhundert

Beitrag 2: Das neue Du (Bodo Fiebig14. August 2022)

Diesem Beitrag stelle ich den Text aus einen schon vorhandenen Beitrag voran („Kunst im 21. Jahrhundert“ zum Thema „gefährliche Entwicklungen“ im Bereich „Herausforderungen der Gegenwart“). Er bildet sozusagen die Grundlage für das, was dann kommt. Wer diesen Text schon kennt und seinen Inhalt einigermaßen präsent hat, kann gleich mit dem 2. Abschnitt „Das neue Du?“ weitermachen.

1. Kunst im 21. Jahrhundert

Kunst ist eine der ältesten und großartigsten Äußerungen menschlichen Geistes. Schon vor vielen Jahrtausenden schufen Menschen Kunstwerke (musikalische, sprachliche, bildhafte, architektonische …) , die noch heute beeindrucken und begeistern. Und auch heute leisten künstlerisch begabte Menschen Großartiges (obwohl der gegenwärtige „Kunstbetrieb“ vor allem das Spektakuläre sucht und mit Aufmerksamkeit und Geld überhäuft und Kunst als überragendes Können und kreative Gestaltungsfähigkeit oft achtlos übersieht). Hier im Zusammenhang des Themas „gefährliche Entwicklungen“ wird vor allem europäische Kunst in den Blick genommen. In Europa hatte eine Staffel von Kunst-Epochen (Klassik, Romanik, Gotik, Renaissance, Barock …, bis zum „Jugendstil“/ Art Nouveau) grandiose Werke hervorgebracht, jedenfalls bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.

Im 20. Jahrhundert erlebte nicht nur die Politik, sondern auch die Kunst in Europa ihre großen Brüche, Umbrüche, Abbrüche, Zusammenbrüche. Es begann mit dem Ersten Weltkrieg, dem ersten großen Völkermorden dieses bisher mörderischsten aller Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte. Die Idylle von Biedermeier und Gründerzeit (die ja nur für die Privilegierten wirklich idyllisch war) zerbrach und das Entsetzen über das Menschen-Mögliche gebar den Schrei der Verzweiflung, der sich im Expressionismus Ausdruck verschaffte.

Dann kamen die kommunistischen Diktaturen im Osten und die nationalistischen Diktaturen im Westen und der Zweite Weltkrieg. Es kam das große Sterben in den Schützengräben der Fronten und in den Bombennächten der Städte. Es kamen die Atom-Bomben von Hiroshima und Nagasaki und das Bewusstsein, dass alles Leben auf dieser Erde von einem Tag auf den anderen ausgelöscht werden kann. Und es kamen die unfassbaren Nachrichten über die Schrecken von Auschwitz, Treblinka, Maidanek, Babi Yar …, über das Grauen im Archipel Gulag und das Sterben am Kältepol menschlicher Existenz in den Eiswüsten Sibiriens oder in den „Umerziehungslagern“ des maoistischen China, es kamen die Nachrichten über den Tod in den Dschungeln von Vietnam und in den Reisfeldern von Kambodscha, über das Wüten der Stammes-Krieger und Kindersoldaten in den Weiten Afrikas und über das lautlose Sterben von Millionen an Hunger und AIDS.

Der Glaube an Sinn und Würde des Menschseins zerbrach und mit ihm zerbrach die Kunst und zerriss in zwei Teile: die „ernste“ Kunst und die „leichte“ Unterhaltung.

Letztere ging daran, das innere Beben mit dröhnender Lautstärke, ekstatischen Rhythmen und unaufhörlicher Allgegenwart zu übertönen, es mit immer exzessiveren Darstellungen von Gewalt und Pornografie zuzudecken oder mit einer bis ins lächerliche kommerzialisierten „Volkskunst“ rosarot zu übermalen bzw. sich in eine Fantasiewelt als Gegenmodell zur entleerten Wirklichkeit zu flüchten (Harry Potter, Herr der Ringe usw.) und schließlich ging man daran, alles Menschlich-Zwischenmenschliche in absurder Blödelei aufzulösen.

Die sogenannte „ernste“ Kunst zelebrierte den Schrei der Verzweiflung in grellen Farben und zersprengten Formen, in Sprachfetzen und Gewaltszenen, in schrillen Klängen und aggressiven Dissonanzen immer wieder neu. In der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde alles, die Dinge, die Menschen, die Beziehungen… als gestört und zerstört dargestellt. Alles war zerrissen, verzerrt bis zur Unkenntlichkeit, alles war schreiend und grell, erschrocken und erschreckend, kaputt und kaputt machend.

Über Jahrzehnte durfte keiner, der als Künstler ernst genommen werden wollte, es wagen, irgendetwas Schönes, Wohltuendes, Harmonisches darzustellen. Hohn, Spott und Verachtung wären so einem „Heile-Welt-Propheten“ sicher gewesen. Kunst, die ernst genommen werden wollte, wurde zur Selbstinszenierung des eigenen Lebensüberdrusses, zum Erbrechen des eigenen Lebensekels. Sie wollte nicht mehr Mitteilung irgendeinen Inhalts sein, sondern sinnloses Selbstgespräch, das nur noch die eigenen inneren Spannungen hinausschreit und kein hörendes Gegenüber mehr braucht und sucht (das Erstaunliche dabei ist, dass bei aller Negativität dessen, was man „Kunst“ nannte, dennoch hohes Können und kreative Gestaltungskraft lebendig blieben und sich – wenn auch vom „Kunstbetrieb“ an den Rand gedrängt –  erhalten und verwirklichen konnten).

Am Anfang waren das Erschrecken und der Schrei der Verzweiflung bei manchen wirklich echt gewesen; aber auch später, als der Schrecken längst verklungen, die Sinne längst abgestumpft, die verstörte Künstlerseele längst beruhigt war, blieb die große Geste des Negativen, des alles Verneinenden erhalten. Der Schrei der Verzweiflung, der einmal echt gewesen war, wurde zum elektronisch verstärkten Spektakel, wurde zur gefeierten Modeerscheinung. Der Schrecken wurde kommerzialisiert, wurde zum Geschäft, zum Geschäft mit Mord und Gewalt, mit Blut und Tod, mit jeder Form menschlicher Abartigkeit und Verirrung. Es gibt die starke Tendenz, alles, was sich „Kunst“ nennt, von jeder ethischen Wertung und Verantwortung auszunehmen. „Kunst“ darf alles! Und das wirkt geradezu als Herausforderung und Einladung für alle antidemokratischen und menschenfeindlichen Kräfte, ihre Machenschaften „Kunst“ zu nennen und sie so gesellschaftlich unangreifbar zu machen. Im Endeffekt ist das Selbstzerstörung der Demokratie.

Unter dem Deckmantel von „Kunst“ wurden (und werden) Gewalt und Mord gewinnbringend vermarktet, werden Bosheit und menschenverachtende Einstellungen quotensteigernd eingesetzt, werden ethische Perversionen stolz als Markenzeichen der Freiheit präsentiert. Weltweit sitzen Zehntausende, Hunderttausende kluge und kreative Menschen in ihren Büros und an ihren Schreibtischen und Bildschirmen und haben nichts anderes zu tun, als sich Szenen von Gewalt und Mord auszudenken, die noch ein wenig extremer, noch ein wenig grausamer, noch ein wenig brutaler und verrückter sind, als es die in der letzten Folge der Filmserie, des Computerspiels usw. waren (sonst schaut ja niemand mehr hin und die Werbeeinnahmen gehen verloren!!). So endete die Kunst des 20. Jahrhunderts.

Nun, am Beginn des 21. Jahrhunderts, stehen Kunst und Kultur nicht etwa an einem Abgrund, wie manche meinen, sondern eher in einem übel riechenden Morast. Aus der großen Geste der Verneinung (Schopenhauer, Nietzsche …), die im 19. Jahrhundert existenzielles Erschrecken und intellektuelle Begeisterung zugleich hervorrief, ist im Kulturbetrieb der Gegenwart eine müde wegwerfende Bewegung geworden, die ihren Überdruss in bemüht witzigen Pointen portioniert und quotenträchtig vermarktet.

Die modernen Nachfolger der großen pessimistischen Philosophen sind die Spaßmacher von heute, die mit wortwitziger Niedertracht (Niedertracht hier wörtlich gemeint als etwas, das immer nach dem Niedrigsten trachtet) sich über alles und jeden lustig machen, alles und jeden in den Dreck ziehen, denen menschliches Erleben und Erleiden, Wollen und Mühen höchstens eine hämisch-abfällige Bemerkung wert sind und denen selbst das Großartigste und Heiligste gerade noch für einen Beifall heischenden Witz taugt. Das, was da an Komik und Satire über unsere Bildschirme flimmert (Komik und Satire waren einmal zu Zeiten, als es gefährlich war, den Mächtigen unangenehme Wahrheiten direkt zu sagen, eine hohe Kunstform, ein mutiges Mittel, solche Wahrheiten in einer gekonnt verfremdeten Verpackung öffentlich zu darzubieten), ist ja meist nicht das, was es sein will und sein sollte, nämlich eine scharf überzeichnete Karikatur unserer gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit, sondern nur ein ins Lächerliche gezogenes Zerrbild nach den Vorgaben einer geschäftstüchtigen Unterhaltungsindustrie. Nicht einmal billig, sondern wertlos, weil alles entwertend.

Das einundzwanzigste Jahrhundert hat seine Kunst noch nicht gefunden. Es wird sie erst finden, wenn sie aus der egozentrischen Versponnenheit in der eigenen Gefühlswelt wieder herausfindet und sich wieder dem Mitmenschen zuwendet. Die Alternative für die Kunst des 21. Jahrhunderts heißt nicht „Heile-Welt-Illusion“ oder „Verzweiflung„, sondern „Kunst als egomanische Selbstbetrachtung“ oder als „Mitteilung an ein wertschätzend angesehenes Du“.

Die Kunst des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird erst dann das Zwanzigste überwinden, wenn sie bereit ist, das Unbehauste und Entstellte menschlicher Existenz (das es neben allem Guten und Schönen eben auch gibt) ehrlich wahrzunehmen und anzunehmen, aber dann den Schmerz darüber umzuwandeln in ein hingabebereites „Ja“ zum Du. Erst wenn es der Kunst gelingt, das Angesicht des Nächsten wieder zu suchen und anzuschauen, seinen Schmerz und seine Freude wahrzunehmen, seine Wunden und seine Schönheit zu berühren und eine achtsam zugewandte Kommunikation mit ihm zu beginnen, wird sie neue Worte, neue Geschichten, Bilder, Formen, Farben und Klänge finden, wird sie neue, wirklich andere Ausdrucksformen entwickeln als das zutiefst destruktive Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts es vermochte. Kunst ist intellektuelle und spirituelle Energie. Sie kann, wie jede Energie, zerstörend oder aufbauend wirken.

2 Das neue Du?

Oh, ja, das 21. Jahrhundert hat das „Du“ wiedergefunden. Und wie! Freilich weniger in der Kunst, als in der Öffentlichkeit gesellschaftlicher Auseinandersetzung im Internet: „Du Arsch, du Hohlkopf, du Kinderverderber, Menschheits-Verbrecher und Umweltzerstörer. Ja, du bist gemeint! Solche Leute wie du sind es, die diese Welt in den Abgrund treiben! So einen wie dich, den müsste man doch …“

Und so etwas schreibt sich um so leichter, wenn man gar nicht weiß, wer das dann lesen wird (egal, sind sowieso alles Deppen oder Verbrecher oder beides) und wenn man dabei selbst unerkannt bleiben kann in der Anonymität des „Netzes“. (Fast) jeder Kommentar, zu welchem Thema auch immer, fühlt sich haushoch überlegen über diese Ahnungslosen da draußen, spielt sich auf zum Richter über alles und jeden. Wie empörend dumm und falsch findet man da die Argumente und Handlungsweisen der „anderen“. Und wie lustvoll wird die eigene wortgewaltige Schlagkraft zelebriert (die sich beim genaueren Hinsehen als ziemlich primitive Keilerei erweist)! (Ich gebe zu, übertreibe hier, aufs Ganze gesehen, ein bisschen.)

Freilich muss man nun von der Fülle maßloser Erregung und Wut im Internet jenen Anteil an Hasskommentaren abziehen, der von professionellen Schreibern verfasst wird, die in den Büros von manchen verschwiegenen „Think-Tanks“ (und manchen noch verschwiegeneren Geheimdienst-Abteilungen) sitzen und keinen anderen (aber gut bezahlten) Auftrag haben, als einen ständigen und geschickt gelenkten Strom von Hass und Hetze, Verschwörungsmythen und Empörungswellen übers Land zu gießen (jedenfalls über die Länder, wo es noch echte und funktionsfähige Demokratien gibt) und über alles, was noch irgendwie vertrauenswürdig und integer ausschaut, um es zu verdächtigen und um Misstrauen zu schüren gegen alles und jeden.

Aber trotzdem (auch wenn man das mal abzieht) bleibt da noch ein Übermaß an selbstproduzierter Lüge, Verleumdung und Entwürdigung übrig, die tagtäglich über die Konsumenten des Internet ausgeschüttet werden. Und wir fangen jetzt erst an, zu ahnen, was das anrichtet an Schaden und Zerstörung im Miteinander der Menschen, Gruppen und Völker auf dieser armen Erde.

Nein dieses neuentdeckte „Du“ ist wirklich keine menschenwürdige Alternative zum Verlust des „Du“ in der Kunst des 21. Jahrhunderts. Es gilt ein „neues Du“ zu finden, das dem Menschsein in einer zunehmend globalisierten Welt einen unbeschwerten Zugang zum Mitmenschen erschließt.

3 Das neue Du!

Das 20. Jahrhundert hat die Beziehung zum „Du“ verloren; der Beginn des 21. Jahrhunderts hat das „Du“ wiederentdeckt, als Adresse seiner Verachtung und seiner Anklage und hat sich das „Du“ zum Feind gemacht. Es hilft nichts, wir müssen noch einmal umdenken: Das „neue Du“ des 21. Jahrhunderts wird Ausdruck einer positiven Zuwendung zum Mitmenschen sein müssen, wenn die Menschheit dieses Jahrhundert überleben will.

Und dieses „neue Du“ gibt es längst! Wir finden es beispielhaft in einer sprachlichen Zuwendung, die seit mehreren Jahrtausenden (nein, das ist keine Angeberei, sondern nachweisbarer Fakt) in ständigem Gebrauch ist, an jedem einzelnen Tag, bis heute. Ich zitiere hier beispielhaft so eine „sprachliche Zuwendung“:

JHWH (diese 4 Buchstaben sind das Kürzel eines Namens) segne dich und behüte dich;

JHWH lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;

JHWH hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

So klingt das neue (alte) Du. Wir finden es in der Bibel (4. Mose 6, 24-26)

Da wird jemandem (wem werden wir noch sehen) zugesprochen, dass jemand anderes, (hier mit dem Kürzel JHWH genannt), sich ihm zuwenden möge. Was oder wer das sein soll, dieses „JHWH“, das bleibt hier noch offen, aber aus dem Textzusammengang wird deutlich, dass hier jemand gemeint sein muss, der oder die sehr mächtig ist, mindestens so mächtig, wie der Präsident einer Weltmacht oder die Vorstandsvorsitzende eines Weltkonzerns. Und diese Zuwendung wird hier mit Begriffen beschrieben, die vielen von uns kaum mehr zugänglich sind (z. B. „segnen“ und „behüten“). Ich versuche deshalb, diese Jahrtausende alten  Sätze mit Worten des 21. Jahrhunderts (freilich nicht im allerneuesten Jargon) und dennoch so wörtlich wie möglich wiederzugeben:

JHWH tue dir Gutes und er wache über dich, dass dir nichts Böses geschieht.

JHWH wende sein An-Sehen (also nicht das Gesicht, sondern die Art wie er dich ansieht) leuchtend vor Liebe auf dich hin (oder einfacher: schaue freundlich, ja liebevoll auf dich, aber das wäre nicht so wörtlich übersetzt) und sei dir gnädig. (Er verzeihe dir alle Fehler und alles Versagen und auch alles bewusst böse Denken und Reden und Tun.)

JHWH erhebe sein An-Sehen wertschätzend und voll Hoch-Achtung zu dir hin und gebe dir Frieden (wörtlich: Schalom). („Schalom“ bedeutet: Frieden in deinem Innern und Frieden nach außen, mit allem um dich her, und dazu Wohlergehen, Freude, Glück …)

In (fast) jedem jüdischen oder christlichen Gottesdienst wird diese „Du-Zuwendung“ den Teilnehmern zugesprochen, seit Jahrtausenden(!) und das nennt die Bibel „Segen“. Der Segnende ist dieses JHWH, und nur er, aber wer soll denn das sein? Darüber sind schon dicke Bücher geschrieben worden. Hier, in diesem Zusammenhang, muss ein  kurzer Hnweis genügen:

Das Kürzel JHWH meint den, von dem der erste Satz der Bibel sagt: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (obwohl in diesen ersten Satz dieser Name für „Gott“ noch gar nicht verwendet wird). JHWH, das ist die Macht, die alles geschaffen hat und die alles Geschaffene erhält, im Himmel, und auch jetzt und hier auf dieser Erde. Wie diese Buchstabenfolge JHWH ausgesprochen werden muss, weiß niemand mehr. Das hat mit einer Besonderheit der Sprache im ersten Teil der Bibel (Hebräisch) zu tun. Da werden nur die Konsonanten geschrieben (also hier das J, das H und das W, das Jod zählt hier zu den Konsonanten). Die Vokale (a, e, i, o, u) werden zwar gesprochen, aber nicht geschrieben. Und auch das schon seit Jahrtausenden. Deshalb weiß man nicht mehr, welche Vokale zu den 4 Buchstaben des Gottesnamens gehören, also wie der Name Gottes klingt. Die meisten Sprachwissenschaftler meinen, er müsste JaHWeH ausgesprochen werden.

Ausführlich wiedergegeben müsste nun dieser „Du-Zuspruch“ so heißen:

JaHWeH, die lebenspendende „Macht über alles“, tue dir Gutes und wache über dich, dass dir nichts Böses geschieht.

JaHWeH, die lebenserhaltende „Macht über alles“, wende sein An-Sehen leuchtend vor Liebe auf dich hin und er verzeihe dir alle Fehler und alles Versagen und auch alles bewusst böse Denken und Reden und Tun.

JaHWeH, die lebensrettende „Macht über alles“, erhebe sein An-Sehen wertschätzend und voll Hoch-Achtung zu dir hin und schenke dir Schalom, Frieden in deinem Innern und Frieden nach außen, mit allem um dich her, und dazu Wohlergehen, Freude, Glück …

Wir sollten uns bewusst machen, was diese „Du-Formel“ hier zum Ausdruck bringt, denn das könnte über die Zukunft der Menschheit entscheiden: Jemand, der hier noch ungenannt bleibt, spricht ein „Du“ an und spricht ihm oder ihr den Wunsch zu, JaHWeH, die Macht über alles, möge ihm oder ihr Gutes tun, ihn oder sie vor allem Bösen bewahren, möge sein An-Sehen mit leuchtender Liebe auf ihn oder sie richten, ihn oder sie wertschätzend und hochachtungsvoll ansehen und ihm oder ihr Frieden geben.

Das ist das „neue, alte Du“, das wir wiederfinden müssen, damit die globalisierte Menschheit leben kann: Ein „Ich“ redet hier nicht von sich selbst (in selbstverliebter Ego-Manie), sondern spricht einem „Du“ etwas zu, was man „Segen“ nennt und das diesem „Du“ Gutes wünscht. Und weil dieses „Ich“ weiß, wie begrenzt und oft auch brüchig die eigenen Möglichkeiten sind, jemandem Gutes zu tun, gibt dieses „Ich“ seinen Segenswunsch für das Du weiter an jene Instanz, die Macht hat über alles: JHWH. 

Nun weiß ich auch, dass es in unserer Gegenwart im 21. Jahrhundert sehr viele Menschen gibt, die nicht daran glauben (nicht daran glauben wollen oder nicht daran glauben können), dass es so eine „Macht über alles“ tatsächlich gibt, egal wie man sie nennt. Das will ich niemandem zum Vorwurf machen. Gerade ernsthaft fragende Menschen können irre werden an den Realitäten unserer Welt. Aber auch die könnten und sollten diese „Zuwendung zum Du“ mitvollziehen, allein schon deshalb, weil sie sehen, wie die Menschheit auf die Selbstzerstörung zuläuft, wenn sie im „Ich“ steckenbleibt, oder wenn sie das „Du“ als Feind ansieht.

Es könnte also auch so etwas wie eine „atheistische Segensformel“ geben und die könnte dann vielleicht so lauten:

Ich selbst, so machtlos ich auch bin, will mit aller meiner Macht mein Ich öffnen zu dir hin (einem Mitmenschen als mein aktuelles Gegenüber) und dir Gutes wünschen, und dass dir nichts Böses geschieht.

Ich selbst, so machtlos ich auch bin, will meine ganze Aufmerksamkeit (so weit ich kann) freundlich und liebevoll dir zuwenden, und dir (so weit ich kann) alles verzeihen, alle deine Fehler und dein Versagen und auch alles bewusst böse Denken und Reden und Tun.

Ich selbst, so machtlos ich auch bin, will (so weit ich kann) wertschätzend und voll Hoch-Achtung auf dich schauen und dir Frieden wünschen, Frieden in deinem Innern und Frieden nach außen, mit allem um dich her, und dazu Wohlergehen, Freude, Glück … .

Entscheidend ist immer, dass dies nicht nur „Segensformel“ bleibt, sondern echte  Zuwendung und Zuneigung wird für einen echten Menschen in echten (manchmal auch sehr belasteten) Situationen.

Menschen, die an eine „Macht über alles“ glauben und die diesen Glauben an dem biblischen Gott „JaHWeH“ festmachen können, haben es dabei leichter, weil sie die Herausforderung der Segenszuwendung nicht allein sich selbst auflasten müssen. Freilich in einer „atheistischen“ Form bleibt diese „Segens-Formel“, diese „Zuwendung zum Du“ immer an den eigenen „guten Willen“ gebunden und wir wissen alle, wie begrenzt die Möglichkeiten dieses „Guten Willens“ sind und wie brüchig dessen Beständigkeit oft sein kann. Deshalb gibt ein gläubiger Mensch die Verwirklichung des Segenswunsches an den ab, der die Macht hat ihn wirklich zu verwirklichen.

.

Weiter oben habe ich angekündigt, dass ich noch danach fragen werde, wer denn eigentlich der Angesprochene war bei diesem Segenszuspruch in der Bibel. Wer ist das „Du“ für diese guten Wünsche? Ich kann aber den Angesprochenen nicht mit Namen nennen, und zwar deshalb, weil es nicht einer war oder eine, sondern sehr viele, ja ein ganzes Volk. Da heißt es:  „So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: JHWH segne dich (als ganzes Volk) und behüte dich …“ Segensempfänger ist hier das ganze Volk Israel. Segensempfänger können aber auch Einzelne sein, oder mehrere, z. B. ein Paar, eine Familie, eine Gemeinde oder sonst irgendeine Gemeinschaft.

Und wer ist es, der den Segen ausspricht? Nein, JHWH spricht nicht selbst den Menschen seinen Segen zu, sondern er fordert andere Menschen dazu auf, das zu tun. Im biblischen Beispiel heißt es da: Sage Aaron und seinen Söhnen (…): So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: JaHWeH segne dich …

Selbstverständlich könnte Gott (JaHWeH) seinen Segen selbst aussprechen und ihn selbst in Gang setzen und ihn selbst zur Auswirkung bringen, alles ohne Zutun von Menschen. Aber genau das will er nicht. Er will, dass ein Mensch sich anderen Menschen zuwendet, und wahrnimmt, was denen fehlt und wonach sie sich sehnen, und ihnen Gutes wünscht. Und dass er das dann auch ausspricht: JaHWeH segne dich und behüte dich … Und dann will Gott aus der Fülle seiner Macht die Erfüllung des Segens in Gang setzen und zur Auswirkung bringen. Segnen, das ist etwas, was ein Mensch für einen anderen ausspricht, um für ihn oder für sie die Zuwendung Gottes in Gang zu setzen (und Gott fordert uns ausdrücklich auf, das zu tun).

Die freundlich-liebevolle Zuwendung zum Du (wie sie zum Beispiel in einem Segens-Wort zu Ausdruck kommt) ist das Heilmittel, das diese Gefühls-kranke, Vertrauens-geschädigte, Beziehungs-behinderte, Mitmenschlichkeits-blinde, für die Sprachen der Liebe Gehörs-taube und an jeder Art von Lieblosigkeit leidende Menschheit gesund machen könnte, lebens- und überlebensfähig auch im 21. Jahrhundert.

4 Die geschichtsmächtige Kraft des Segens

Die Geschichtsbücher der Völker zählen die Herrscher der Völker auf und deren Kriege und Siege, als wäre die Völkergeschichte nur eine Unheils- und Gewaltgeschichte. Aber das stimmt nicht. Es gibt neben der Unheils-Geschichte der Völker auch eine Heils- und Segensgeschichte. Aber die steht nicht in den Geschichtsbüchern (warum eigentlich nicht?). Ein Kapitel so einer Segens-Geschichte  in der Vergangenheit der Völker Europas will ich andeuten.

Schon seit einigen Jahren gibt Gedichte, die sehr populär sind und gern zitiert werden. Sie haben zwei gemeinsame Merkmale: Sie stammen alle aus einem bestimmten Land in einer bestimmten Zeit und sie sind alle in einer bestimmten Du-Form geschrieben. Beliebt sind sie wahrscheinlich deshalb, weil sie so ganz anders sind als Gedichte unserer Zeit. Gedichte unserer Zeit (nicht alle, aber sehr viele) wollen Ausdruck eines inneren Gefühls oder eines verborgenen Vorganges im „Herzen“ eines Dichters sein. Sie sind Ich-Botschaften, die zumeist gar kein Du brauchen, sondern bei sich selbst bleiben. Diese Gedichte aber, die ich hier meine, sind allesamt Du-Botschaften. Drei Beispiele (von sehr vielen) will ich hier vorstellen. Sie stammen aus Irland.

Z. B. Als Reisesegen für die Lebens-Reise:

Möge deine Straße Dir entgegenkommen
und der Wind in deinem Rücken sein.
Möge die Sonne warm auf dein Gesicht scheinen
und der Regen sanft auf deine Felder fallen.
Und bis wir uns wiedersehen,
halte Gott dich im Frieden seiner Hand.

 

Oder etwas humorvoller:

Mögen deine Sorgen
so wenige sein und so weit voneinander entfernt
wie die Zähne meiner Großmutter.

Und wenn du das Geländer des Lebens hinunter-rutschst,
mögen dann die Splitter nie in die falsche Richtung zeigen.

Und mögest du schon längst im Himmel sein,
bevor der Teufel merkt,

dass du nicht mehr unter den Lebenden bist.

 

Oder als Schutz-Segen:

Der Herr sei vor dir, um dir den rechten Weg zu zeigen.

Der Herr sei neben dir, um dich in die Arme zu schließen und dich zu schützen.

Der Herr sei hinter dir, um dich zu bewahren vor der Heimtücke böser Menschen.

Der Herr sei unter dir, um dich aufzufangen, wenn du fällst

     und dich aus der Schlinge zu ziehen.

Der Herr sei in dir, um dich zu trösten, wenn du traurig bist,

Der Herr sei um dich herum, um dich zu verteidigen,

     wenn andere über dich herfallen.

Der Herr sei über dir, um dich zu segnen.

So segne dich der gütige Gott.

 

Im 5. bis 8. Jahrhundert entstand in Irland eine „Kultur des Segens“. Und das hatte seine Auswirkungen nach innen und nach außen. In Irland selbst entstanden Zentren geistiger und spiritueller Kultur, die Menschen aus allen Ländern Europas anzogen. Und als Folge dessen blieb Irland das einzige Land in Europa, das nicht vom Chaos der Völkerwanderung heimgesucht und verwüstet wurde.

Nach außen waren die Auswirkungen noch deutlicher: Vor allem ab dem 7. Jahrhundert ging ein Strom von hochgebildeten christlichen Missionaren von Irland aus in die Länder Europas, auch nach Deutschland. Von da aus kamen Entwicklungen in Gang, die Europa für viele Jahrhunderte und bis in unsere Gegenwart tiefgreifend verändert und geprägt haben.

Freilich, die Unheilsgeschichte der Kriege und Siege der mächtigen Herrscher hat die Segens-Geschichte der Völker oft so zugeschüttet, dass man Gebirge von Leid und Kampf und Mord und Zerstörung abtragen müsste, um sie (diese Segensgeschichte) wieder freizulegen. Aber vielleicht ist ja das 21. Jahrhundert die richtige Zeit, damit anzufangen.

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