Bereich: Grundfragen des Glaubens

Thema: – Weltreligionen u. biblischer Glaube

Beitrag 2: Sinn Geschichten (Bodo Fiebig27. September 2020)

Die im ersten Beitrag aufgeführten fünf Thesen zur Frage „Was ist Religion?” sind eigentlich gar keine Antworten auf diese Frage, sondern eher Versuche, die gegenwärtig (im 21. Jahrhundert) gängigen Erklärungsmuster zu benennen. Ob die aber wirklich die Grundlagen des Glaubens beschreiben, die vor vielen Jahrtausenden gelegt wurden, kann bezweifelt werden. Im Wesentlichen zielen diese Erklärungsmuster alle auf die gleiche Grundaussage: „Religionen sind grundsätzlich und ausschließlich etwas von Menschen selbst Erdachtes und selbst Gemachtes. Sie mögen vielleicht in ganz frühen Stadien der Menschheitsentwicklung etwas Nützliches gewesen sein (weil sie den Menschen halfen, mit den unerklärlichen Vorgängen in der Natur besser zurechtzukommen), heute aber sind sie nicht nur überflüssig und sinnlos, sondern eher schädlich und gefährlich.“

Oft wird von modernen Menschen argumentiert, dass doch die naturwissenschaftliche „Aufklärung” und der technische Fortschritt die Religionen überflüssig machen. Warum sollte ein Mensch des 21. Jahrhunderts noch irgendwelche Götter anrufen, wenn er doch weiß, dass hinter den Phänomenen seiner Umwelt wissenschaftlich erklärbare Abläufe stehen (und wo das eine oder andere noch nicht schlüssig erklärbar sei, da müsse man nur noch neuere und weiterführende Erkenntnisse abwarten)?

Dieses Argument ist verständlich. Allerdings muss man sich dabei bewusst sein, dass es sich immer nur auf das Verhältnis des Menschen zu den Gewalten und Phänomenen der Natur beziehen kann. Wir müssen uns ja wirklich nicht mehr vor dem Donner eines Gewitters fürchten und sei er noch so erschreckend laut; zu seiner Erklärung brauchen wir nicht mehr die Vorstellung eines zornigen Gewitter-Gottes, wie den germanischen Thor, der den Hammer schwingt. Wir müssen auch nicht mehr mit magischen Praktiken eine Wunde vom „Medizinmann” beschwören lassen, weil wir wissen, dass eine Entzündung nicht von bösen Geistern kommt, sondern von Bakterien in der Wunde und dass eine entsprechende Salbe eine gefährliche Infektion verhindern kann usw.

Das macht aber keineswegs den Glauben und das Gebet überflüssig, denn wir wissen auch (und auch das wird von keiner Naturwissenschaft in Frage gestellt), dass das Leben und die Gesundheit, die Freude und die Zufriedenheit, die Liebe und das Glück, die Gemeinschaft und der Friede bei den Menschen immer gefährdet sind und keine wissenschaftliche Erkenntnis und keine technische Vorrichtung daran grundsätzlich etwas ändern können.

Bleiben wir also noch bei diesem Thema: Welches sind (vor Jahrtausenden ebenso wie heute) die „Grundlagen des Glaubens”? Sind das alles nur Phantasien, die aus dem Innern des Menschen kommen, oder können die Religionen der Menschheit auch Antwort auf Impulse sein, die Menschen „von außen“ empfangen, berührend, ansprechend und herausfordernd? Freilich wird kaum jemand bestreiten wollen, dass die Entwicklung von Religiosität auch dem Bedürfnis der Menschen nach Absicherung der eigenen Existenz nachkommt angesichts der Undurchschaubarkeit und Unbeeinflussbarkeit jener Mächte, die auf ihr Leben einwirken (siehe das Thema „Die Ethik des Atheismus“, Beitrag 3 „Entwicklung eines religiösen Deutungssystems“). Aber gibt es nicht trotzdem in den Religionen der Welt einen gemeinsamen „Kern“, der auf entscheidende Entstehungsimpulse von außen hinweist (was immer das dann auch sein mag, das „von außen” auf Menschen einwirkt)? Wo mag der entscheidende Wendepunkt gelegen haben, wo Menschen anfingen, sich über das, was sie erlebten „religiöse“ Gedanken zu machen?

Der alles entscheidende Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit war nicht das Erlernen des aufrechten Ganges oder die Zähmung des Feuers, nicht der Gebrauch von Werkzeugen, die Erfindung des Rads, die Herstellung von Bronze und Eisen, nicht die Entwicklung der Landwirtschaft verbunden mit dem Sesshaft-werden in dauerhaften Siedlungen. Das alles waren wesentliche, ja epochale Fortschritte in der Geschichte der Menschen in verschiedenen Volksgruppen mit verschiedenen Kulturen in verschiedenen Siedlungsgebieten auf verschiedenen Kontinenten zu verschiedenen Zeiten. Die entscheidende Wende vollzog sich jedoch durch die allmähliche Entwicklung der Sprachen und die Fähigkeit zum Erzählen von Sinn-Geschichten.

Im Folgenden wird die Entstehung so einer Sinngeschichte dargestellt. Die Rahmenhandlung entspricht dabei den Erzählungen von einer Gruppe von Steinzeit-Menschen, die als Jäger und Sammler in einer Höhle nahe bei einem Bach wohnten (wie sie auf dieser Website auch in anderen Themen verwendet wird, um bestimmte Zusammenhänge deutlich zu machen). Hier soll sie uns helfen, „Sinn-Geschichten“ als Vorstufen von Religion zu verstehen.

Er war einer der Jäger aus der Sippe, die in der Höhle am Bach wohnte. Er saß verborgen in einer kleinen Baumgruppe am Rande einer Wald-Lichtung und beobachtete ein kleines Rudel von Rehen, die auf der Lichtung nach Fressbarem suchten. Es war ein Winter mit viel Schnee und das bedeutete für Mensch und Tier gleichermaßen Hunger und Not. Die Sippe lebte in dieser Zeit fast ausschließlich von dem, was die Jäger von ihren Streifzügen mitbrachten, aber Jagderfolg war in dieser Jahreszeit mühsam und selten. Wenn er nur eines der Tiere erlegen könnte, so hätte seine Sippe für einige Tage zu essen. Aber er wusste: Rehe können viel schneller laufen, als er. Und sie waren wachsam, sie würden ihn nicht so nahe heranlassen, dass sein Speer eines der Tiere erreichen könnte. Normalerweise waren die Jäger bei der Jagd zu dritt oder zu viert (oder bei einer Treibjagd sogar mehr als er Finger an beiden Händen hatte), da war es möglich, so eine kleine Herde einzukreisen und auf ein Zeichen hin gleichzeitig anzugreifen. Wenn man sich klug verteilt hatte, konnte man hoffen, dass eines der fliehenden Tiere einem der Jäger nahe genug kam für einen gezielten Speerwurf.

Er aber war allein. Sehr allein. Am Morgen, als nach der langen Winternacht ein grauer Morgen dämmerte, war es in seiner Sippe zu einem Streit gekommen. Es ging um die Verteilung der  letzten Essensvorräte, die noch vom vergangenen Herbst übrig waren: Verschiedene Samenkörner, getrocknete Beeren und Pilze … Die Männer hatten schon seit Tagen kein größeres Tier mehr erlegt, obwohl sie auf der Suche nach Jagderfolg immer weitere Wanderungen auf sich nahmen. Es gab eine erregte Auseinandersetzung, aus der wurde unversehens ein heftiger Streit und schließlich ein Kampf mit Knüppeln und Steinen. Dabei hatte er einen der Sippenangehörigen so schwer verletzt, dass dieser starb. Der Tote war ein Mitglied der stärksten Familie innerhalb der Gruppe und sofort hatten seine Angehörigen ihn angegriffen.

Der Jäger konnte fliehen, aber jetzt war er allein. Und das bedeutete: Er würde verhungern. Allein zu jagen war sehr selten erfolgreich. Essbare Pflanzen gab es jetzt kaum. Es war Winter und der Schnee lag hoch. Der Bach und der See waren zugefroren.

Oder er würde erfrieren: Allein, ohne den Schutz der Höhle und der Wärme des Feuers, würde er nicht lange überleben. Seine einzige Chance waren diese Rehe. Wenn er eines der Tiere erlegen könnte und es zur Wohn-Höhle der Sippe bringen würde … vielleicht würde man ihn wieder aufnehmen? Er wartete, lange und geduldig, obwohl er merkte, wie die Kälte trotz des Fell-Umhangs und der Fell-Stiefel immer mehr in ihn hineinkroch.

Obwohl er nach außen hin völlig regungslos dasaß, waren seine Sinne und Gedanken in hastiger Bewegung: Der Wind stand gut, so dass ihn die Tiere nicht wittern konnten, aber die Sonne war gegen ihn. Sie leuchtete die Lichtung hell aus, so dass er sich nicht unbemerkt den Tieren nähern könnte. Er erinnerte sich: Die Sonne war gerade aufgegangen, als der Streit außer Kontrolle geriet. Draußen vor der Höhle, am Ufer des Baches war es geschehen: Einen kleinen Augenblick war er von den Sonnenstrahlen geblendet, so dass sein Schlag mit dem Holzknüppel nicht die vom Fellumhang geschützte Schulter des andern traf, sondern seinen Kopf. Der stürzte zu Boden und wenig später starb er. Die Sonne war es, die ihn in diese aussichtslose Lage gebracht hatte; warum wollte sie ihn vernichten?

Nun näherte die Sonne sich schon dem Horizont. Die Schatten der kleinen Baumgruppe wurden länger. Fast sah es so aus, als ob sie nach den äsenden Tieren greifen wollten. Wenn die Sonne mit den Schattenhänden die Tiere vertreiben wollte, dann wäre seine letzte Chance dahin. In diesen Augenblick schreckte eines der Rehe hoch und gab einen lauten Warnruf von sich. Sofort sprangen alle Tiere der Herde auf und liefen in in weiten Sätzen los. Die untergehende Sonne blendete sie. Und so kamen sie direkt auf ihn zu! Der Jäger fasste seinen Speer fester und duckte sich, alle Muskeln und Sehnen angespannt, seine Aufmerksamkeit aufs Äußerste konzentriert. Dann flog der Speer und traf! Als er spät in der Nacht mit dem erlegten Tier auf den Schultern bei der Höhle ankam, schlugen die Wachen Alarm. Die ganze Sippe war auf den Beinen. Feindseliges Schweigen umringte ihn. Aber dann legte er das Tier in die Mitte des Versammlungsplatzes beim Feuer und deutete mit einer Handbewegung an, dass er seine Beute für alle zur Verfügung stellte. Da löste sich die Spannung etwas.

Später musste er immer wieder am Lagerfeuer erzählen, wie er die Rehe beobachtete, wie die Sonne langsam unterging und die Schatten der Bäume wie mit Händen nach den Tieren griffen. Und wie diese ihm dann direkt entgegen liefen, weil sie von der tiefstehenden Sonne geblendet waren, so dass sein Speer eines der Tiere treffen konnte. Da stand eine der jungen Frauen aus der Familie des getöteten Jägers auf, ging in die Mitte des Platzes in der Höhle, wo sich die ganze Sippe versammelt hatte und malte mit einem Stock etwas in den Staub. Alle konnten es erkennen: Es war ein Rehbock mit den spitzen Hörnern. Dann malte sie noch eine große runde Sonne, von der eine Hand ausging, die nach dem Tier griff. Dann setzte sie sich neben den Jäger und später ging sie auch mit zu seinem Schlafplatz.

Noch später wurde er zum Anführer aller Jäger der ganzen Sippe bestimmt, die in der Höhle am Bach wohnte.  Er teilte die Jagdgruppen ein und legte die Jagdstrategie fest. Die mächtige Sonne, die in jedem Frühjahr den Winter besiegte, hatte ihn selbst zum Anführer bestimmt: Sie hatte ihn geblendet, so dass seine Waffe den Gegner tötete; sie hatte auch die Rehe geblendet, so dass sie ihm direkt entgegenliefen. Die Sonne mit der Schatten-Hand, die nach der Jagd-Beute greift, hatte sie alle gerettet. Sie wurde für die Sippe zu einem Zeichen, das sie immer wieder ins Bewusstsein rief. An langen Winterabenden, wenn sie beim gemeinsamen Summ-Gesang am Feuer beisammen saßen, wurde es in die Mitte gemalt und dazu wurde die Geschichte erzählt. Und die Geschichte wurde immer ausführlicher und überzeugender, je öfter man sie erzählte.

Mittelpunkt dieser Erzählungen war die Sonne. Ihr sprach man besondere Bedeutung und Macht zu. Besonders im Frühjahr, wenn die Wärme der Sonne den Schnee taute und das Eis schmolz und das Leben wieder aus der Winter-Starre befreite, aber auch im Sommer, wenn die Hitze die Pflanzen verdorrte und im Winter, wenn die Sonne sich hinter den Bergen verbarg und die Kälte das Leben bedrohte. Da lag es nahe, die mächtige Sonne zu bitten, im Winter doch etwas mehr zu wärmen und im Sommer etwas weniger zu heizen und ihr im Frühjahr für das neue Leben zu danken.

Viel später, nach vielen Generationen, erzählten sich die Menschen in der Höhle am Bach eine Sinn-Geschichte, die etwa so klang: „Vor langer, langer Zeit war alles  finster und kalt und ohne Leben. Aber dann kam die Sonne und schickte ihre großen Kinder „Licht“ und “Wärme“ zu uns und erweckte durch sie alles zum Leben: Bäume und Gras und kleine Tiere und große Tiere. Nur die hohen Felsen-Berge sind noch hart und erstarrt wie das Eis im Winter. Aber der Sieg der Sonne über ihre großen Feindinnen „Finsternis“ und „Kälte“ ist noch nicht vollkommen. Jeden Abend wird sie von der Finsternis in den Abgrund gestürzt, dann wird es kälter und dunkler bei uns. Aber jeden Morgen kämpft sich die Sonne zurück und bringt ihre großen Kinder „Licht“ und „Wärme“ wieder mit zu uns. Aber nach vielen Tagen und nach vielen solchen Kämpfen wird die Sonne schwächer und ihre bösen Feindinnen „Finsternis“ und „Kälte“ werden stärker. Dann wird es Winter bei uns. „Finsternis“ und „Kälte“ nehmen zu und bedrohen alles Leben: Alles soll so werden wie am Anfang: Finster und kalt und ohne Leben. Aber wir können auch im Winter überleben, denn die Sonne hat ihr kleines Kind bei uns gelassen, das Feuer, damit wir im Winter nicht umkommen. Aber das Feuer ist noch klein und muss genährt werden wie ein kleines Kind, nicht mit Muttermilch, sondern mit gutem, trockenen Holz. Das ist unsere Aufgabe, dass wir das kleine Kind der Sonne, das Feuer, nähren und es nicht sterben lassen, denn sonst könnte die Sonne nicht wieder stark werden und sie würde uns ihre Hilfe verweigern, und dann könnte es nach der Nacht nicht wieder hell werden und nach dem Winter nicht wieder warm werden und alles würde so werden wie es war, bevor die Sonne kam: Finster und kalt und ohne Leben. Aber wenn wir das kleine Kind der Sonne, das Feuer, gut nähren und nicht sterben lassen, dann erholt sich die Sonne und wird wieder stärker und bringt ihre großen Kinder „Licht“ und „Wärme“ zurück. Unsere alten Frauen, die wissen noch wie das kleine Sonnenkind, das Feuer, gezeugt wird aus Feuer-Stein-Funken und geboren wird in einem Nest aus Zunder und trockenen Pflanzenfasern. Sie kennen noch das Geheimnis, wie man die Feuer-Funken zu flammenden Leben erweckt. Und sie sind es auch, die das Sonnenkind hüten und nähren, damit es niemals stirbt. Sie verstehen auch die Sprache des Feuers, wenn ihre Flammen wispern und knacken. Und sie können ihre Geheimnisse verstehen und uns erzählen.“

So weit diese Geschichte; wir können sie so verstehen: Religionen entstanden als Sinn-Geschichten der Menschheit über sich selbst, über ihre Umwelt, über deren Vorgänge und Veränderungen, über Entstehen und Vergehen, über Leben und Tod, Sein und Sollen. Aber das ist nur die eine Seite des Geschehens, sozusagen seine menschlich erklärbare Oberfläche.

Graben wir noch eine Schicht tiefer bei der Suche nach dem Entstehen religiöser Vorstellungen und wir finden: Die doppelte Wurzel des Glaubens (siehe Beitrag 3).

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Bodo Fiebig Sinn-Geschichten Version 2021-1

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