Sind „nur wir“ die wahren Gläubigen? Feiern „nur wir“ den richtigen Gottesdienst? Haben „nur wir“ die richtige richtige Religion und die richtige Theologie? Sind „nur wir“ von Gott geliebt, erwählt, errettet (wobei sich das „nur wir“ auf eine bestimmte Konfession innerhalb des Christentums beziehen kann oder auch auf das Verhältnis zu anderen Religionen)? Und alle anderen sind verworfen, verloren und verdammt? Die Antwort auf diese Fragen ist einfach: Solange wir sagen „nur wir“, liegen wir auf jeden Fall falsch. Es muss heißen: „Nur Gott“. Nur Gott liebt, erwählt und errettet und wer will ihm Vorschriften machen, wen er lieben, erwählen und erretten darf und wen nicht? Die Liebe Gottes ist unbegrenzt.
Jesus sagt: „So sehr hat Gott die Welt geliebt …“ Die Welt, nicht nur die Gläubigen ( und dann auch noch die mit einer ganz bestimmten Glaubensbekenntnis-Formulierung). Ja, die Liebe Gottes gilt der „Welt“, also der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung. Die Frage ist allerdings, was kann der „Welt“ helfen, diese Liebe zu erkennen und anzunehmen? Oder wer? „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde“ (Jo 3, 16-17). Jesus ist nicht gekommen, um die Menschheit in „Gerettete“ und „Verdammte“ einzuteilen, sondern um allen Menschen die Liebe Gottes vor Augen zu führen, die alle retten will und kann (siehe dazu weiter unten den Abschnitt „Offenheit und Entschiedenheit im Glauben“).
Wie sollen wir nun das Verhältnis zwischen den Religionen der Welt und dem biblischen Glauben verstehen und gestalten? Sind sie eher Konkurrenten im Kampf um die „Seelen“ der Menschen oder eher Verbündete für die Bewahrung einer spirituell begründeten Menschlichkeit in einer glaubensfeindlicher werdenden Zeit? Wir werden sehen: Weder eine ängstliche oder gar feindselige Ablehnung noch eine gedankenlose Vermischung bis hin zur Selbstaufgabe wären angemessen und entsprächen dem Weg und dem Willen Gottes mit den Völkern und Kulturen durch die Jahrtausende. Wir müssen beides zugleich bedenken: Wir sind als Angehörige der verschiedensten Religionen alle eine „Gemeinschaft des Glaubens“, die aus den Erfahrungen der Menschheit mit der schützenden und helfenden Liebe Gottes hervorgegangen ist (siehe den Beitrag „Grundlagen des Glaubens“). Und wir sind als biblisch Gläubige zugleich herausgefordert, die Offenheit für die Anderen und das Andere mit der Entschiedenheit für das Eine und den Einzigen zu verbinden. Nur diese gleichzeitige Offenheit für das Fremde und die Entschiedenheit für das Eigene kann den Menschen die Liebe Gottes vor Augen führen und zugänglich machen.
1 Die Gemeinschaft des Glaubens
Entscheidend für die Entstehung und Ausformung der heutigen „Weltreligionen“ waren nicht die Gottesbilder und Kultformen, die wir heute da vorfinden, sondern die Gotteserfahrungen der Völker durch die Jahrtausende des Menschseins (siehe den Beitrag 2 „Grundlagen des Glaubens“). Diese allem Glauben vorausgehenden Gotteserfahrungen haben ihre Wurzeln bei Gott selbst, also vor und außerhalb aller kulturellen Prägungen. Erst die Deutung und Verarbeitung dieser Erfahrungen im je konkreten kulturellen Umfeld haben im Laufe von langen Zeiträumen die je besonderen Gottesvorstellungen, Glaubenshaltungen und Kultformen der verschiedenen Religionen hervorgebracht. Wobei man mit einbeziehen muss, dass ja nicht nur die hilfreichen, wohltuenden und froh machenden Erfahrungen mit der Liebe Gottes in solche Deutungsversuche mit einflossen, sondern auch die lebensbedrohlichen, schädigenden und Angst machenden Erfahrungen mit den Gewalten der Natur und der Bosheit der Mitmenschen.
Die Verschiedenheit der Deutung und Verarbeitung der Erfahrungen in den verschiedenen Religionen liegt unter anderem daran, dass unsere Wahrnehmung immer begrenzt und einseitig ist. Wir nehmen von der schier unbegrenzten Fülle von Gegebenheiten und Ereignissen jeden Augenblicks immer nur einen schmalen Ausschnitt wahr und dieser Ausschnitt wird nicht nur bestimmt von der begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit unserer Sinnesorgane, sondern auch von unseren Vorerfahrungen, unserer Interessenlage, unseren Erwartungen und Ängsten. Das gilt nicht nur für die persönliche Wahrnehmung einzelner Menschen, sondern auch für die kollektive Wahrnehmung großer Gemeinschaften. Auch deren Wahrnehmung und deren Interpretation der möglichen Gotteserfahrungen (die ja grundsätzlich für alle Menschen in allen Kulturen gleich waren und sind) ist innerhalb eines bestimmten kulturellen Milieus in dieser Weise begrenzt und gesteuert. Oder anders formuliert: Nicht verschiedene Gotteserfahrungen begründen die Verschiedenheit der Religionen, sondern die kulturbedingte Verschiedenheit ihrer Wahrnehmung und Interpretation.
Man könnte nun daran gehen, für die verschiedenen Religionen nachzufragen, welche jeweils besonderen kulturell bedingten Wahrnehmungsoptionen, Verstehensweisen und Deutungsmuster von den grundlegenden Gotteserfahrungen zu den heute bekannten Formen des Glaubens und Lebens geführt haben. Das wäre eine gewaltige Aufgabe, die Generationen von Religionswissenschaftlern beschäftigen könnte. Für den Zusammenhang dieser Darstellung hier sollen wenige (und zwangsläufig sehr ungenügende) Andeutungen das Gemeinte verständlich machen:
Für die Entstehung des Hinduismus z. B. könnte man davon ausgehen, dass die Wahrnehmung eines Weltgesetzes (Dharma), also einer inneren Ordnung und Sinnhaftigkeit aller Dinge und Vorgänge von entscheidender Bedeutung war. Eine weitere für den Hinduismus prägende Gotteserfahrung war wohl die Wahrnehmung einer Verantwortung des einzelnen Menschen für die ethische Gestaltung seines Lebens und Handelns (die sich dann später mit der Vorstellung von Seelenwanderung und Wiedergeburt je nach moralischer Qualität des vorangegangenen Lebens und mit der Herausbildung verschiedener sozialer „Kasten“ verbunden hat) usw.
In der Entstehung des Buddhismus spiegelt sich (auf dem Boden und im religiösen Umfeld des Hinduismus) die Erfahrung von Fragwürdigkeit, Leid und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, die hier jedoch nicht (wie z. B. in den biblischen Religionen) mit den ja auch vorhandenen Gotteserfahrungen von sinngebender Zielausrichtung, von Heilung und Erneuerung verknüpft werden, sondern als Herausforderung des Menschseins ungelöst stehen bleiben. Dieser Herausforderung soll durch eine weise, alle Gemütsaffekte, Leidenschaften und Begierden überwindende Geisteshaltung und eine meditative und ethisch hochstehende Lebensführung begegnet werden, die schließlich, nach vielen Reinkarnationen, in einen Zustand der Erlösung von allem Irdischen (Nirvana) führen.
Die traditionellen chinesischen Religionen Konfuzianismus (nach dem Staatsmann und Gelehrten Kung-fu-tse) und Daoismus (nach dem Weisen und Mystiker Lao-tse) antworten auf die Impulse von Gotteserfahrungen, die eine Einheit und Harmonie zwischen Himmel und Erde einerseits und der sittlichen Verfasstheit des Menschseins andererseits wahrnehmbar machten. Aus der Erfahrung von der Zusammengehörigkeit scheinbar gegensätzlicher Erscheinungen entfaltet sich in der chinesischen Religion das Grundprinzip von Yang und Yin, mit dem sich abwechselnden und gegenseitig ergänzenden Prinzipien des Yang (dem lichten, aktiven, männlichen, schöpferischen Prinzip) und des Yin (dem verhüllenden, passiven, weiblichen, empfangenden Prinzip), in denen das grundlegende Weltgesetz als Weg (Dao) zur Geltung kommt.
Das Judentum erlebt seine prägende Gotteserfahrung als persönliche Zuwendung Gottes an einzelne besonders berufene Menschen (Abraham, Jakob, Joseph, Mose…). Es nimmt in den Ereignissen und Abläufen seiner Geschichte wahr, wie Gott zunächst solche einzelne Menschen, dann ein ganzes Volk erwählt und beruft, es aus der Sklaverei befreit und entsprechend seinen Zusagen durch die Wüste in ein verheißenes Land führt, um mit ihnen vorbereitend und stellvertretend für alle Menschen einen Weg des Glaubens und Vertrauens zu gehen, der aufs Ganze gesehen zum Heilsweg für den Einzelnen, für das Volk, ja (in seiner Zielausrichtung) für die ganze Menschheit und Schöpfung werden soll. Der Glaube Israels ist Ergebnis der Gotteserfahrung und Gottesoffenbarung in der Geschichte Israels.
Das Christentum verdankt seine Entstehung nicht einer jahrhundertelangen Gottesgeschichte (obwohl die Gotteserfahrung des Judentums der unverzichtbare Nährboden für die Entstehung des Christentums war und bleibt), sondern der einmaligen, überwältigenden Erfahrung eines Menschenlebens (Jesu von Nazareth), in dem die Gegenwart und die rettende Liebe Gottes im Menschsein anschaubar und erlebbar wurden; eine Erfahrung, die sich besonders und entscheidend im Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu verdichtete. Es empfängt die Botschaft vom nahen Gottesreich, das mit dem Kommen Jesu „wie im Himmel, so auf Erden“ anfängt, erfahrbare Wirklichkeit zu werden (wie ein Same aufgeht auf dornigem, felsigem Grund, wie ein wenig Sauerteig, das einen großen Teigklumpen durchsäuert, wie ein Senfkorn, aus dem ein Baum wird) und das mit dem Wiederkommen Jesu eine Erfüllung erfahren soll, durch die die ganze Schöpfung zu ihrer Vollendung kommt. Erst nach dem Anfangsimpuls durch das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu entfaltete sich die Geschichte der Christenheit als Gottesgeschichte mit Menschen aus verschiedensten Völkern und Kulturen, eine Geschichte, die trotz zeitweiliger tiefgreifender Fehlentwicklungen doch als Schritt-Folge auf das verheißene Ziel hin empfunden wird.
Bei der Entstehung des Islam haben sich religiöse Motive aus dem Judentum und dem Christentum (in Weiterführung oder entschiedener Ablehnung) verbunden mit einer aktuellen Wahrnehmung Gottes als den Einen, den Gerechten und Zuverlässigen, der wenige einfache Gebote gibt und auf die gehorsame Hingabe (Islam) der Menschen achtet und antwortet.
Allen diesen (und vielen anderen) Religionen ist gemeinsam, dass sie als Antwort auf die Begegnung mit einer „universellen Kraft“, die ihnen lebenspendend, helfend, wegweisend und sinngebend entgegenkam, sich nun selbst verpflichtet wissen, in der Gemeinschaft des Menschseins ebenso lebenserhaltend, helfend, wegbegleitend und sinnvoll zu wirken. Die Erfahrung der Liebe Gottes zum Menschen wird zur Herausforderung der Liebe des Menschen zum Mitmenschen. (Das gilt trotz mancher Fehlentwicklungen und schuldhaften Verirrungen, die zu bestimmten Zeiten in bestimmten Religionen eher menschen- und lebensfeindliche Erscheinungen hervorgebracht haben.) Die Religionen der Welt bilden trotz aller grundsätzlichen Unterschiede eine Gemeinschaft des Glaubens, in der sie sich sowohl von ihrem Ursprung her als auch von ihrer ethischen Anspruch her grundsätzlich entsprechen.
So wie in der Weltgeschichte der verschiedenen Völker und Kulturen der Menschheit auch die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen (verborgen, aber für die Gläubigen doch in Ansätzen wahrnehmbar) gegenwärtig ist, so ist auch in der Geschichte der Religionen eine Bewegung verborgen gegenwärtig, die den Glaubensweg Gottes mit den Menschen durch die Jahrtausende beschreibt. Das bedeutet nicht, dass die Religionen beliebig austauschbar wären oder dass sie nur verschiedene Wege zum gleichen Ziel wären. Sie haben sich (von ihren Ursprungsimpulsen ausgehend) in verschiedene Richtungen entwickelt und sehr verschiedene Inhalte und Formen angenommen, die nicht für alle die gleiche Bedeutung und Gültigkeit haben können (siehe unten: „Offenheit und Entschiedenheit im Glauben“). Wenn uns alle Formen von Religion gleich gültig wären, so wären sie uns alle gleichgültig.
Wie schon erwähnt, stellt sich diese Schrift selbst auf das Fundament des biblischen Glaubens. Trotzdem erkennt sie an, dass einerseits in allen Religionen der Impuls grundlegender Gotteserfahrungen (in einem je besonderen kulturellen Umfeld) wirksam geworden ist und dass andererseits auch die biblische Gottesoffenbarung nicht in einem kulturfreien und voraussetzungslosen Vakuum empfangen wurde. Auch die biblische Überlieferung der Gotteserfahrung Israels ist vom kulturellen Milieu ihrer Empfänger beeinflusst. So finden wir in der Bibel einerseits die weitestgehende Selbstoffenbarung Gottes vor (vgl. den Beitrag „Grundlagen des Glaubens“, Abschnitt „Selbstoffenbarung Gottes im Wort“), müssen aber andererseits wahrnehmen, dass sie uns auch dort in der besonderen Färbung einer besonderen kulturellen und historischen Umweltsituation begegnet.
2 Offenheit und Entschiedenheit im Glauben
Christen (und Juden ebenso) können für die Kulturen und Lebensformen und auch für die verschiedenen Ausdrucksweisen des Glaubens in den verschiedenen Völkern ganz offen sein. Sie müssen sich vor keiner Begegnung, vor keiner Berührung und inhaltlichen Auseinandersetzung fürchten. Aber es ist ihnen bleibend verwehrt, selbst fremde religiöse Mächte zu verehren, ihnen Macht über das eigene Leben (über das eigene Denken und Reden, Entscheiden und Handeln) einzuräumen, sich emotional und spirituell an sie zu binden und ihnen zu dienen, indem sie ihnen die eigenen körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte zur Verfügung stellen:
- Mose 20, 2-5: Ich bin JaHWeH, dein Gott, der ich dich (…) aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. (…) Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!
- Mose 6, 4-5: Höre Israel, JaHWeH ist unser Gott, JaHWeH allein. Und du sollst JaHWeH, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Jo 17,3: Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.
Ebenso aber, wie es Christen verwehrt ist, sich an fremde Mächte zu binden, ebenso ist es ihnen verwehrt, fremde Kulturen und Religionen gering zu achten. So wird in der Bibel z. B. der heidnische Magier Bileam von Gott dazu gebracht, Israel zu segnen, ohne dass er zuvor den Glauben Israels annehmen muss (4. Mose 22-24). Der heidnische König Kyrus wird „Gesalbter“ Gottes genannt, obwohl er den Gott der Bibel gar nicht kennt (Jes 45, 1-7). Heidnische Sterndeuter beten Jesus an, ohne vom Messias-Glauben Israels etwas zu wissen und ohne sich zuvor zum biblischen Glauben bekehren zu müssen (Mt 2, 1-12). Gott ist größer als unsere Religionen, das gilt auch für die biblisch begründeten Religionen Judentum und Christentum. Auch die nehmen den Gott, „der Himmel und Erde geschaffen hat“ nur unvollkommen wahr, auch deren Gotteserkenntnis und Glaubenspraxis sind begrenzt.
Die Vielfalt der Kulturen und Religionen ist aus den Erfahrungen der Menschheit mit der Nähe und Zuwendung Gottes hervorgegangen (vgl. Beitrag 2 „Grundlagen des Glaubens”). In jeder von ihnen sind (unabhängig von der jeweils besonderen Art der Gottesvorstellung und des Kultes) ethische und soziale Grundwerte enthalten, die zu den kostbarsten Errungenschaften in der Kulturgeschichte der Menschheit gehören.
Wenn es um das Verhältnis des biblischen Glaubens zu den Religionen der Welt geht, dürfen wir einen wichtigen Aspekt nicht übersehen: Nirgendwo macht der Gott der Bibel Menschen aus fremden Völkern und Kulturen den Vorwurf, dass sie fremde Religionen und fremde Götter haben. Das wird überall im Alten und Neuen Testament als selbstverständlich vorausgesetzt. Nur Israel (und später die Christenheit), also das Volk, dem der Schöpfer des Himmels und der Erde sich selbst und seinen Willen offenbart hat (und das diese Offenbarung bewusst und ausdrücklich angenommen hat), und mit dem er einen bleibenden Bund geschlossen hat, darf keinen fremden Göttern nachlaufen und fremde Kulte praktizieren. Micha 4,5: Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich!
Es geht hier nicht darum, einer Vermischung religiöser Vorstellungen oder gar einer „patch-work-Religiosität“ das Wort zu reden. Es geht darum, die „Klangfarben“ des Glaubens (d. h. die in Jahrtausenden gewachsenen geistigen Haltungen und ethischen Einstellungen, soweit diese den Grunderfahrungen mit der Liebe Gottes entsprechen) für die Fülle des Menschseins zu bewahren, nicht aber einzelne Glaubensinhalte und Gottesvorstellungen (z. B. den Glauben an bestimmte Götter und Dämonen und die entsprechenden Kulthandlungen) zu übernehmen. Wir müssen ja immer auch im Blick behalten, dass nicht nur die Erfahrungen mit der Liebe Gottes im Glaubenshorizont der Religionen ihre Spuren hinterlassen haben, sondern auch die quälenden, ängstigenden und oft auch aggressiv machenden Erfahrungen mit Leid und Not und Tod, mit dem „Kampf ums Dasein” und dem Gesetz vom „Fressen und Gefressen werden” in der Natur. Ohne die Selbstoffenbarung Gottes im Wort der Bibel hätten auch wir als Juden oder Christen keine Maßstäbe dafür, wie wir die Erfahrungen unseres Lebens angemessen deuten können.
Die Erfahrungen der Liebe Gottes sind in allen Religionen echt. Die Gottesvorstellungen und Kulthandlungen aber, die sich in verschiedenen Kulturen daraus entwickelt haben, nennt die Bibel „unnütz“, weil sie nicht helfen und retten (Jes 44, 9-20). Das Volk der biblischen Offenbarung aber soll Zeuge sein für die helfende und rettende Macht seines Gottes: Ihr (das Volk Israel) seid meine Zeugen: (…) Ich bin der Herr und außer mir ist kein Heiland (Jes 43, 10-11).
Das betrifft aber nicht nur Israel, sondern (seit der Entstehung der ersten christlichen Gemeinden) auch die Christenheit. Auch Christen gehen (mit der Taufe) eine Selbstverpflichtung ein, die sie an die biblische Offenbarung bindet. Diese Selbstverpflichtung beinhaltet aber nur die eigene Bindung, niemals aber die Verachtung und Verurteilung anderer Glaubensweisen. Der Gott der Bibel will, dass diejenigen, die sich freiwillig ihm zugeordnet haben und mit denen er von sich aus einen Bund geschlossen hat, (einzelne Menschen, Gruppen und Völker) ihm und seinen Weisungen treu bleiben und seinen Zusagen und Verheißungen vertrauen. Wenn sie aber treu bleiben, dann wird das auch die Herzen derer berühren, die anderen Formen von Religion und Kult angehören, sodass sie gern kommen und teilhaben wollen am Segen Israels und der Christenheit.
Für Christen bleibt der Anspruch Jesu unverrückbar gültig: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich (Jo 14, 6). Die Bibel beschreibt den Glauben als Weg, dessen Ziel es ist, beim „Vater“ anzukommen. Entscheidend ist demnach, wo wir hinkommen, nicht wo wir herkommen. Durch Jesus können und werden auch Angehörige verschiedenster Kulturen und Religionen den Weg zum Vater finden (das ist ja in den vergangen zwei Jahrtausenden millionenfach, ja aufs Ganze gesehen milliardenfach geschehen).
Christen haben für Menschen aus anderen Religionen eine „Mission“. Sie haben ihnen etwas zu bringen, nämlich die Botschaft von der Liebe Gottes, die sie selbst erfahren haben, die ihnen in Jesus, ihren Heiland, begegnet ist und die ihnen durch die Offenbarung des Wortes Gottes in der Bibel bewusst geworden ist. Diese Liebe kann Menschen verändern und zu dem einen Gott, der sich JHWH nennt, führen, egal, aus welchem religiösen Hintergrund sie kommen. Eine Haltung, die das verhindern könnte, wäre ein christliches Überlegenheits-Bewusstsein, das ihnen mit Hochmut und Geringschätzung, mit Lieblosigkeit und Ablehnung entgegenkommt.
„Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“ (Mk 16,15). Das heißt: Christen sollen den Menschen fremder Länder und Kulturen etwas bringen (das Evangelium), sie sollen ihnen nichts wegnehmen (ihre ethnische, historische und kulturelle Identität). Die Annahme der Botschaft Jesu vom nahegekommenen Gottesreich und der Botschaft von Jesus als dem gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden Weltenheiland beinhaltet die Befreiung von allen Angst auslösenden Mächten, die Menschen knechten können, und deshalb werden Menschen, die (aus dem Heidentum kommend) sich dem biblischen Glauben zuwenden, sich auch von bestimmten Gottesbildern, von bisherigen Vorstellungen von Geistern, Göttern und Dämonen lossagen, werden bestimmte Lebensweisen und Kulthandlungen ablegen, die bisher ihr Leben und Denken beherrscht haben. Aber sie werden dabei nicht ihre kulturelle Identität und ihre spirituellen Grundhaltungen aufgeben müssen, denn die speisen sich letztlich aus der Quelle der Erfahrungen mit dem liebenden Gott, der alles Menschsein geschaffen hat und noch erhält.
Nirgendwo in der Bibel wird gesagt, dass Angehörige anderer Kulturen und Religionen nach ihrem Tod ewig in der Hölle schmoren werden. Nirgendwo wird gesagt, dass Menschen, die in ihrem Leben nie die Gelegenheit hatten, den biblischen Glauben kennen zu lernen, deshalb für immer verdammt sind. Die „Götzendiener“ z. B. in Eph 5, 3-6, die „kein Erbteil haben im Reich Gottes“, sind Glieder der christlichen Gemeinde, die sich mit heidnischen Praktiken beschäftigen und der „reiche Mann“ (Lk 16, 19-31), der nach seinem Tod Qualen leidet, war Angehöriger des „auserwählten Volkes“, der die Barmherzigkeit Gottes erfahren hatte, selbst aber unbarmherzig handelte. In 2. Thess 1, 6-10 redet Paulus von heidnischen Leuten, die aktiv die Gemeinde Christi bedrängen und auf diese Weise dem Evangelium Widerstand leisten (vgl. auch Jer 10,25). Sie werden wegen der Verfolgung der christlichen Gemeinde (bzw. Israels) angeklagt, nicht wegen ihres heidnischen Glaubens.
Im 1. Petrusbrief (1.Petr 3,19) gibt es eine vorsichtige Andeutung, der wir entnehmen können, dass Christus auch noch den Verstorbenen, die im Tod noch wie in einem „Gefängnis“ sind, weil sie im Leben nicht den Weg zum rettenden Glauben gefunden haben, das Evangelium verkündigt. Wer sind wir, dass wir meinen, Menschen aus anderen Kulturen und Religionen vor dem Zorn (unseres!) Gottes retten zu müssen? Meinen wir denn, unsere Liebe zu ihnen sei so viel größer als die Liebe, mit der Gott selbst, der sie geschaffen hat, sie liebt? Was für ein Gottesbild hätten wir dann?
Der Antrieb zur christlichen Mission für Menschen aus anderen Religionen kann doch nicht sein, sie aus dem Rachen der Hölle zu reißen, weil wir meinen, dass der Gott der Bibel sie für die Ungläubigen oder Falschgläubigen bereithält! Die Motivation für christliche Mission ist die Gewissheit, dass Menschen nirgendwo die Liebe Gottes so direkt und heilsam, so hilfreich und befreiend, so bewahrend und stärkend erfahren können, wie in der Beziehung mit Jesus, dem von Gott eingesetzten Heiland und Erlöser, und dass sie durch die Beziehung mit Jesus über den leiblichen Tod hinaus im Lebensraum der Liebe Gottes sein und bleiben können. Wer selbst die Strahlkraft der Liebe Gottes in seinem eigenen Leben erfahren hat, und wessen alltägliches Leben getragen ist von der Gewissheit des ewigen Lebens bei Gott, der wird jeden Menschen aus jeder Kultur und Religion zu eben dieser Erfahrung und Gewissheit helfen wollen.
Eines müssen wir aber im Gehorsam gegenüber der Gesamtbotschaft der Bibel unmissverständlich betonen: Menschen und Gruppen, die schon zum Volk Gottes (Alten- oder Neuen Testaments) gehören, die von der helfenden, befreienden und rettenden Liebe Gottes gehört haben und von ihr im Innern berührt worden sind, die sich persönlich, freiwillig und bewusst für ein Leben unter der Herrschaft Gottes, unter der erfahrbar gewordenen Gnade Gottes durch Jesus, den Messais und Erlöser, und unter der Führung Gottes durch den Heiligen Geist entschieden haben, die aber dann all das bewusst zurückweisen und sich von Gott lossagen, oder Menschen, die zu ihren Lebzeiten das Evangelium von der Versöhnung durch Jesus Christus gehört haben und erkannt haben, dass es auch sie meint, dass es ihr Leben verändern, ihre Liebe erneuern und ihrem Dasein eine Heilsgewissheit und Ewigkeitsperspektive geben will, und die das bewusst angenommen und öffentlich bestätigt haben, und die dann doch dieses Angebot gering achten und aus Gleichgültigkeit oder aus Feindschaft von sich weisen, die gehen (sofern sie nicht wieder umkehren und zu Gott zurückfinden) einen Weg in eine weite Gottesferne (freiwillig, nicht als Strafe Gottes!).
Niemand, kein Gott und auch kein Teufel, wird je einen Menschen gegen dessen Willen in den Himmel oder in die Hölle zwingen (Gott will es nicht und der Teufel kann es nicht). Aber Jesus selbst beschreibt in seinen Predigten (z. B. im Gleichnis vom verlorenen Schaf oder vom verlorenen Sohn) die unerschütterliche Liebe Gottes, die auch denen noch nachgeht, die sich von ihm entfernt haben und die auch jene wieder bei sich aufnimmt, die an ihm und an den Menschen schuldig geworden sind. Auch dafür ist die Geschichte Israels ein Vor-Bild. Israel musste (nachdem sie den Bund mit Gott gebrochen hatten), als Volks-Ganzes Krieg, Not und Verbannung erleiden. Und doch hat eben dieser Gott ihnen von sich aus (nicht um ihrer Verdienste willen) die Rückkehr in das Land der Verheißung und in den Nahbereich seiner Liebe ermöglicht. Wenn Jesus (z. B. in Mt 25,46 im Gleichnis vom „Weltgericht“) von „ewiger Strafe“ spricht, dann ist mit „ewig“ nicht der griechisch-philosophische Begriff von „Ewigkeit“ als unendliche Zeitausdehnung gemeint (Jesus hat in seinen Gleichnissen ja nicht griechisch gesprochen), sondern der hebräische Begriff „olam“, der eine Zeit beschreibt, deren Dauer für uns verborgen bleibt (von hebr. „alam“ verborgen). Und mit dem Wort, das im Deutschen mit „Strafe“ übersetzt wird, bezieht sich Jesus auf den hebräischen Begriff „awon“, der sowohl die Schuld selbst, als auch die Folgen der Schuld meint (im Sinne von „unter den Folgen der eigenen Schuld leiden“). Jesus sagt also hier (im Gleichnis vom „Weltgericht“) dass Menschen, die nicht aus der Liebe heraus leben und handeln, selbst eine „verborgene“ Zeit lang unter den Folgen ihrer Lieblosigkeit leiden werden. (Siehe dazu auch das Thema „Schuld und Vergebung“)
Der erste Satz der Bibel heißt: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Er heißt nicht: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde und Hölle“. Die Hölle ist nicht Teil des göttlichen Schöpfungsplanes!
Jesus wird auch von vielen Angehörigen nichtbiblischer Religionen als Vorbild des Glaubens in gelebter Mitmenschlichkeit anerkannt. Seine Gleichnisse von der Liebe Gottes, die das Verlorene sucht, seine Zuwendung, durch die Menschen an Leib und Seele heil wurden, seine Botschaft (z. B. die Bergpredigt oder das „Doppel-Gebot der Liebe“) beeindrucken Menschen aus verschiedensten Kulturkreisen und Religionen, auch wenn sie ihn (noch?) nicht als ihren persönlichen Heiland erkennen und annehmen können. Wieviel mehr aber könnten sie durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben und durch seine Auferstehung gesegnet werden und wieviel unmittelbarer könnten sie die Liebe Gottes erfahren, wenn sie selbst Jesus als Heiland und Erlöser annehmen würden!
Jesus sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14, 6). Das gilt zunächst für alle Christen. Das gilt grundsätzlich auch für alle Nichtchristen. Für die kann diese Gültigkeit aber erst dann konkret werden, wenn sie selbst Jesus als den Weg und die Wahrheit ihres Lebens kennen gelernt haben. Bis dahin gelten für sie die Wege und Wahrheiten ihrer jeweiligen Religion, und niemand hat das Recht, sie dafür zu tadeln. Wohl aber haben jeder Christ und jede christliche Gemeinschaft die Verpflichtung, so zu leben, dass die Wahrheit des Evangeliums in ihrem Miteinander erkennbar und anziehend vorgelebt wird.
Es wäre unsinnig, die bestehenden (oder auch vergangene) Religionen in eine Rangskala von Wertigkeit einordnen zu wollen. Jede Kultur hat im Laufe von Jahrhunderten ihre Gotteserfahrungen gesammelt und gedeutet und in ein Gesamtbild der Welt, des Lebens und der eigenen Existenz eingeordnet. Und fraglos sind dabei Denk- und Glaubensweisen entstanden, die zu den großartigsten Zeugnissen menschlichen Geistes gehören (und wer dürfte sich anmaßen, über den Maßstab zu verfügen, mit dem man die Glaubenswelt der Kulturen messen und bewerten könnte?). Wer die Kulturen und Religionen der Welt verachtet und verurteilt, weil sie der eigenen Glaubenswelt nicht entsprechen, ist ein religiöser „Blindgänger“ in des Wortes doppelter Bedeutung: Er geht als Blinder durch die Welt des Glaubens und er ist ein potenzieller Sprengsatz, der ungeheure Verwüstungen anrichten kann.
Gott selbst hat es zugelassen, dass die Vielfalt der religiösen Weltdeutungen entstehen konnte. Und er hat die Offenbarung seiner Liebe und seines Heilsplanes bewusst an einer ganz bestimmten Stelle inmitten der Vielzahl von schon bestehenden und sich noch weiter entwickelnden Religionen verwirklicht.
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Bodo Fiebig Nur wir? Version 2021-1
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