Sind Religionen grundsätzlich eher friedensfördernd oder friedensfeindlich? Führt die Verschiedenheit der Religionen zwangsläufig zu Rivalitäten, Kämpfen und Kriegen? Gewiss, es gab in der Geschichte der Menschheit viele Auseinandersetzungen, Kämpfe und Kriege, bei denen religiöse Motive eine große Rolle gespielt haben. Allerdings können wir beim genaueren Hinsehen fast immer feststellen, dass dabei (verborgen hinter den vorgeschobenen religiösen Motiven) ganz massive (und sehr menschliche!) egoistische Machtinteressen, Besitzansprüche, Eroberungsabsichten, Rachegelüste… und nicht die religiösen Motive von entscheidender Bedeutung waren (z. B. die machtpolitischen Interessen der europäischen Fürsten beim Dreißigjährigen Krieg, den man immer noch und großteils zu Unrecht einen „Religionskrieg” nennt). Offensichtlich ist das eine besondere Gefahr aller Religionen, dass sie sich allzuleicht als Treibmittel und Motivationskraft für Gewaltpolitik missbrauchen lassen.
Nicht ohne Grund: Religion ist die Energiequelle des Menschseins, ist humaner Antrieb von ungeheurer Wirkungskraft, und zwar deshalb, weil sie den Handlungsimpulsen und Handlungsoptionen der Einzelnen wie der Völker eine Sinnperspektive gibt. Aber die Energien und Wirkkräfte, die aus der Religion kommen, sind lenkbar, ihre Ausrichtung und ihre Zielperspektiven sind beeinflussbar. Die Motivationskraft der Religion kann auch für religionsfremde Zwecke instrumentalisiert werden. Fast alle Despoten der Menschheitsgeschichte, von der Antike bis zur Gegenwart, haben versucht, das Energiepotenzial der Religionen für sich zu nutzen und ihre Motivationskraft für die eigenen Machtinteressen einzusetzen, haben versucht, die religiöse oder ideologische Ansprechbarkeit der Menschen zu missbrauchen, um ihre eigensüchtigen Ziele zu verfolgen. Keine Religion ist dagegen immun.
Das gilt selbstverständlich auch für unsere Gegenwart. Das gegenwärtig auffälligste Beispiel für den Missbrauch der Religion für machtpolitische Auseinandersetzungen ist der fanatische Islamismus, der im Namen Allahs mordend durch die Länder zieht und dessen Terrorattacken Angst und Schrecken verbreiten. Aber auch da kann man nachweisen, dass da sehr egoistische und gruppenegoistische, machtpolitische und gesellschaftspolitische, wirtschaftliche und finanzielle Ziele und Motive im Hintergrund die Vorgänge lenken. (Siehe das Thema „Konfliktherd Heiliges Land?”)
Es würde auch nichts helfen, die Religionen insgesamt abzuschaffen, wie viele Atheisten meinen, als könne man damit der Menschheit endlich und endgültig den Frieden bringen. Nein, die Antriebsenergie und Motivationskraft des Glaubens ist im Menschsein unauslöschbar gegenwärtig und sie ist als spirituelle Energiequelle des Menschseins auch unbedingt notwendig. Aber wenn die aus der Sehnsucht nach Sinn entstehenden Energien nicht in die (wie es sein sollte) ethisch gebundenen Handlungsimpulse und Lebensformen der Religionen umgesetzt werden, dann verselbständigen sie sich in ungebändigten Ideologien und ungehindertem Vernichtungswillen.
Wir haben im vergangenen zwanzigsten Jahrhundert (dem Jahrhundert der großen religionsfeindlichen Ideologien) erlebt, wie Ideologien zum Religionsersatz wurden. Wenn aber die Motivationskraft der Religion durch von Menschen selbst gemachte Ersatzreligionen in Anspruch genommen wird, wie zum Beispiel vom Kommunismus oder Nationalismus des zwanzigsten Jahrhunderts (siehe das Thema „Die Revolution und ihre Kinder“), dann wird die Unmenschlichkeit zum alles beherrschenden System. Und so wurde das zwanzigste Jahrhundert zum grausamsten und blutigsten Kapitel der ganzen Menschheitsgeschichte (in den Konzentrations- und Vernichtungslagern und in den Mordorgien der „Sondereinsatztruppen” der deutschen Nationalisten unter Hitler ebenso wie in den Arbeitslagern des GULAG der Sowjetunion unter Stalin oder in den „Umerziehungslagern” der „Kulturrevolution” in China unter Mao oder auf den „Killing Fields” der kommunistischen Revolution in Kambodscha usw., usw.) Niemand weiß, wie viele Millionen Menschen im 20. Jahrhundert den mit religiöser Energie aufgeladenen atheistischen Ideologien und dem Versuch ihrer staatlichen Verwirklichung zum Opfer gefallen sind.
Nein, Frieden ist auf Dauer nur möglich, wenn die Antriebsenergie und Motivationskraft des Glaubens auf solche Ziele ausgerichtet sind, welche die Erfahrung mit der Liebe Gottes ihnen vorgegeben hat (siehe den Beitrag 2 „Grundlagen des Glaubens“). Jede Religion hat (weil ihre Grundlagen alle aus den Ur-Erfahrungen mit der Wirklichkeit und Wirksamkeit der Liebe Gottes kommen) einen Grundbestand von praktizierbarer Mitmenschlichkeit, der zur Grundlage eines (immer angefochtenen und nie vollkommenen, aber doch wirksamen und weltumspannenden) Friedensprozesses werden kann.
Nein, die Religionen sind nicht die Kriegstreiber der Menschheitsgeschichte, wie die Atheisten landauf landab behaupten. In Wirklichkeit haben die Religionen der Welt (wenn sie nicht zu machtpolitischen Zwecken missbraucht werden) zwei ganz eigene Ziele, wenn es um ihr Miteinander geht:
a) Frieden zwischen den Religionen der Welt,
b) Frieden durch die Religionen der Welt!
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Zu a) Frieden zwischen den Religionen der Welt
Die „Grundlagen des Glaubens” (siehe Beitrag 2) sind nicht konkurrierende Göttervorstellungen und Kulthandlungen, sondern übereinstimmende und sich gegenseitig bestätigende Erfahrungen mit der Liebe Gottes (siehe auch Beitrag 3 „Der Ursprung der Menschlichkeit”). Deshalb kann auch (wenn alle Religionen sich auf diese eigene Quelle ihrer Spiritualität und Glaubenspraxis rückbesinnen) der Friede zwischen den Religionen zum Vor-Bild einer kultur- und religionsübergreifenden Mitmenschlichkeit werden.
Der Friede zwischen den Religionen ist allerdings immer dann gefährdet, wenn eine bestimmte Gruppe innerhalb einer Religionsgemeinschaft politisch und militärisch stark ist und zugleich spirituell verunsichert und verarmt. Diese Gruppe ist dann in der Versuchung, die innere Schwäche durch Demonstration äußerer Stärke zu überdecken. Eine Glaubenshaltung, die sich ihrer eigenen Überzeugungen nicht mehr sicher ist, kann sehr leicht vor den Karren machtpolitischer Ambitionen und Aggressionen gespannt werden. Nur wer sich seines eigenen Glaubens gewiss ist (relativ, eine absolute Gewissheit kann es im Glauben nicht geben) hat die innere Kraft, dem Fremden offen und ohne Voreingenommenheit entgegen zu gehen.
Die Balance zwischen Offenheit und Entschiedenheit im Glauben (siehe Beitrag 6, Abschnitt 2) gelingt dann besser, wenn man selbst mit den eigenen Überzeugungen auf sicherem Grund steht und nicht auf dem schwankenden Drahtseil religiöser Indifferenz. Offenheit in Glaubensdingen ohne Entschiedenheit in der eigenen Position führt zu Verunsicherung und versteckter Aggressivität (oder zur Selbstaufgabe). Entschiedenheit im Glauben ohne Offenheit für andere Formen religiösen Lebens führt zu Erstarrung und Feindseligkeit. Nur eine Offenheit, die von eigener Entschiedenheit, von einem eigenen sicheren und gefestigten Standort ausgeht, ist auf Dauer auch friedensfähig.
Zu b) „Frieden durch die Religionen der Welt”
Die Religionen sind die einzigen menschlichen Lebensformen, die aus dem Gefängnis der Selbstbehauptung und des Egoismus, aus dem triebgesteuerten Existenzkampf des Lebens ausbrechen können, die den Teufelskreis von Macht und Gegenmacht, Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen vermögen. Das hat seinen Grund: Die Religionen der Welt sind nicht im „Kampf ums Dasein“ begründet und nicht dem Gesetz vom „Fressen und Gefressen-Werden“ unterworfen. Sie haben ihren Entstehungsimpuls und ihre Daseinsberechtigung nicht vom Selbsterhaltungstrieb, der sonst alles Leben beherrscht, auch nicht von der Angst vor den übermächtigen Gewalten der Natur, sondern aus den Erfahrungen der Liebe Gottes, die allein die Kraft hat, den individuellen und kollektiven Egoismus des Lebens zu überwinden.
Es wird den Religionen vorgeworfen, dass sie das „Märtyrertum”, also den Einsatz des eigenen Lebens im Kampf gegen die „Ungläubigen” verherrlichen und mit dem sicheren Einzug ins Paradies belohnen. Das ist aber zumindest im Bezug auf die biblischen Religionen falsch. Im Christentum (und ebenso im Judentum) kann niemals jemand als Märtyrer bezeichnet werden, der aus religiösen Motiven anderen Gewalt antut, sondern nur jemand, der selbst um des Glaubens willen von anderen Gewalt erleidet. Dass z. B. ein radikal-fanatischer Islamismus (der ja nicht den ganzen Islam ausmacht) das zeitweilig anders interpretiert, ist eine schreckliche Verirrung von Religion.
Freilich zeigt uns die Geschichte der Menschheit auch, wie erschreckend leicht die menschenfreundliche Kraft der Religionen für menschenfeindliche Zwecke missbraucht werden kann. Dagegen aber gibt es in allen Religionen ein Heilmittel: die Rückbesinnung auf die ursprünglichen Impulse des Glaubens aus den Erfahrungen mit der helfenden, bewahrenden, rettenden, lebensfördernden und menschenfreundlichen Liebe Gottes. Freilich muss man die in allen Religionen bewusst und manchmal mit Mühen suchen, muss diese Erfahrungen oft unter dicken Schichten von Ablagerungen aus menschlichen Egoismus aufspüren und freilegen. Die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte mit all ihren Feindseligkeiten, Kämpfen und Kriegen haben die Religionen nicht unberührt und unversehrt gelassen.
Wenn aber die Religionen der Welt zurückfinden zur Wahrnehmung der ursprünglichen und noch immer andauernden Impulse ihrer Gotteserfahrungen, in denen sie der Liebe Gottes begegnen, und wenn sie die dadurch frei werdenden Energien einsetzen zur Gestaltung ihrer Mitmenschlichkeit als Abbild und Nachahmung der Menschenliebe Gottes, dann können sie, gemeinsam und in gegenseitiger Hochachtung, zur größten und wirkungsvollsten Friedensbewegung der Menschheit werden. Die biblischen Religionen, Judentum und Christentum, bräuchten so eine Entwicklung nicht zu fürchten, denn sie entspräche ihrem eigenen innersten Anliegen und Auftrag.
Der erste Schritt, der in Bewegung setzende Impuls, die „Gemeinschaft des Glaubens“ immer wieder neu zur Gestaltung des Friedens zu nutzen, kann am ehesten von denen erwartet werden, dessen kommender Herr als Friedefürst die ganze Gemeinschaft des Menschseins zur Einheit der Liebe und des Friedens sammeln will und wird: Juden und Christen und dann auch „alle Welt“.
Lasse ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach! (Ps 34,15)
Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Kinder Gottes heißen (Mt 5,9).
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Bodo Fiebig, Frieden durch Religion Version 2021-1
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