Soweit wird man sich auch mit überzeugten Atheisten einigen können: Religionen (und auch jede andere Form von Weltanschauung und Daseinsdeutung) sind Antworten auf Erfahrungen, die Menschen machen. Religionen entstehen nicht einfach aus dem Nichts. Menschen erleben etwas und machen sich Gedanken darüber. Das, was „von außen” (siehe Beitrag 2) auf Menschen einwirkt, sind also zunächst einmal die Erfahrungen mit der eigenen alltäglichen Umwelt und Lebenswirklichkeit. Etwas Schönes, Wohltuendes freut uns und etwas Bedrohliches und Gewalttätiges jagt uns Angst und Schrecken ein. Und selbstverständlich möchten wir gern die guten, wohltuenden und froh machenden Erfahrungen wiederholen und die schlimmen, leidvollen, Angst machenden Erfahrungen meiden. Das ginge aber nur, wenn wir wenigstens in Ansätzen verstehen könnten, woher die guten oder schlimmen Erfahrungen kommen. Solange sie uns völlig zusammenhanglos und unvorhersehbar überraschen, sind wir ihnen hilflos ausgeliefert.
Religionen sind auch Ergebnisse einer deutenden Verarbeitung der individuellen und kollektiven Lebenserfahrung von Menschen durch die Jahrtausende, sind der Versuch, zu verstehen, was geschieht, es verursachenden Kräften zuzuschreiben und diese Kräfte möglichst zum eigenen Gunsten zu beeinflussen. So wie es oben mit der Geschichte vom Jäger angedeutet ist: Religionen entstehen nicht aus selbst erdachten Fantasie-Geschichten. Die Dinge, um die es da geht, sind ja real (die Sonne, der Schnee, die Rehe) und auch die geschilderten Vorgänge sind Wirklichkeit (die Hunger-Krise, der Streit, der Jagderfolg). Es handelt sich also hier nicht um eine Fantasie-Geschichte, sondern um eine Deutungs-Geschichte für reale Gegebenheiten und Vorgänge, durch die reale Ereignisse in einen erklärenden Bedeutungszusammenhang gebracht werden. Dass sich damit allein aber nicht die Entstehung der Religionen erklären lässt, werden wir noch sehen. Trotzdem wollen wir den Erfahrungshintergrund bei der Entstehung religiöser Vorstellungen noch etwas genauer ansehen
1 Bedrohliche, Angst machende Erfahrungen
Meistens geht man davon aus, dass es die bedrohlichen Erfahrungen waren, die den Anstoß zur Entstehung religiöser Vorstellungen gaben: Der Blitz und der Donner, der Sturm, der Hagel, die Dürre und die Überschwemmung, die Hitze und die Kälte und die Finsternis der Nacht, reißende Bestien und giftige Schlangen, Verwundung und Schwäche, Krankheit und Tod. Das waren einige der großen Schrecken der frühen Menschen, die unversehens über sie hereinbrachen. Waren da nicht böse Kräfte am Werk unaufhaltsam, übermächtig? (vgl. den Beitrag 1 „Was ist Religion?“, Abschnitt 1 „Religion als Mittel zur Bewältigung von Angst?”). Und wäre es nicht gut, ja überlebensnotwendig, wenn man diese Kräfte beeinflussen könnte, vielleicht so, dass sie uns verschonen und unseren Feinden schaden? Sollten wir zum Beinspiel, wenn wir ein erlegtes Tier am Feuer braten, ein bestimmtes Teil dieses Tieres doch besser nicht selbst essen, sondern den Flammen als Opfer überlassen? Vielleicht würde dann der große mächtige Feuer-Geist uns verschonen, wenn er als riesiger Steppenbrand Tierherden und ganze Menschengruppen einschließt und verbrennt? Oder allgemeiner gesagt: Welche Verhaltensweisen und Handlungen, welche Beschwörungen und Opfer könnten uns vor den Angriffen des Bösen bewahren?
Aus heutiger Perspektive sieht freilich die Welt ganz anders aus: Die wissenschaftliche Forschung hat die Natur entzaubert. Wir brauchen keine Naturgeister und Dämonen mehr, um die Phänomene unserer natürlichen Umwelt zu verstehen. Dafür sollten wir den Naturwissenschaften dankbar sein! Aber: Ist damit Religion überflüssig und nutzlos geworden?
Soweit könnten sich die meisten Menschen heute wohl einigen: Die Religionen der Völker sind auch so etwas wie „Verarbeitungsprodukte“ lebensbedrohlicher Erfahrungen, sind auch so etwas wie handhabbar gemachte Rettungsphantasien erschrockener, von Lebensangst und Todesfurcht beherrschter Menschen. Aber damit hätten wir bestenfalls eine erste Teilantwort auf unsere Frage nach den „Grundlagen des Glaubens” gefunden. Der zweite (und noch viel wichtigere) Teil dieser Antwort fehlt uns noch.
2 Hilfreiche, wohltuende Erfahrungen
Gab es für die frühen Menschen, die in Sippen und Rudeln das Land auf der Suche nach essbaren Pflanzen und jagbaren Tieren durchstreiften, nicht auch gute, hilfreiche und wohltuende Erfahrungen (so wie der unerwartete Jagderfolg in der im Beitrag 2 erzählten Geschichte)? Ganz gewiss gab es die. Es muss sie gegeben haben, denn sonst hätte wohl keine dieser Sippen und Rudel überlebt. Der Mensch als „Mängelwesen“ (A. Gehlen) ist, langfristig gesehen, kaum lebensfähig ohne Hilfe „von außen“.
Solche „Hilfsbedürftigkeit” besteht aber nicht nur für einzelne Menschen und Menschen-Gruppen, sondern auch für das Leben insgesamt. Die Grundbefindlichkeit der Materie heißt „tot” (wir sprechen ja auch von „toter Materie”). Die Wahrscheinlichkeit, dass mitten in einer Welt aus toter Materie so etwas wie „Leben” überhaupt entstehen und über längere Zeit am Leben bleiben kann, ist so gering, dass die Statistiker sie nur mit Zahlenkolonnen belegen können, die für konkrete Vorstellungen gar nicht mehr zugänglich sind (siehe das Thema „Leben und Tod”). Die Wissenschaft kann nicht sagen, warum das Leben (gegen alle überwältigende Unwahrscheinlichkeit) dennoch entstanden ist und immer noch existiert. Trotzdem gibt es das Leben. Jede Lebensform, von kleinsten Einzeller bis höchstorganisierten Säugetier, ist eine extrem unwahrscheinliche „Trotzdem-Existenz”, welche lebt, obwohl es sie der Wahrscheinlichkeit nach eigentlich gar nicht geben dürfte. Aber das Leben lebt. Lebt seit Millionen von Jahren. Lebt durch die schützende, helfende, rettende Hand einer Macht, die das Leben will. Ohne das beständige Eingreifen „von außen“ zugunsten des Lebens hätte sich das Leben niemals in der unbelebten und lebensfeindlichen Natur entstehen, sich einnisten und ausbreiten können.
Und noch unwahrscheinlicher wäre es, wenn ein Lebewesen, das von Natur aus so schlecht ausgestattet ist wie der Mensch, sich am Leben erhalten, sich im „Kampf ums Dasein” behaupten und sich über alle Kontinente der Erde ausbreiten und durchsetzen könnte.
Die Menschen der Frühzeit sahen sich in ständiger Lebensbedrohung: Da gibt es Tiere, die sind stark und wir sind dagegen schwach; was können wir gegen einen Löwen ausrichten? Und es gibt Tiere, die sind schnell und wir können nicht mithalten; wie sollten wir eine Gazelle fangen? Sie sehen Tiere, die fressen Gras und werden satt davon, und sie selbst brauchen, um zu überleben, eine sehr vielseitige Ernährung, wie sollen sie die beschaffen? Die Menschen sehen Tiere, die haben Hörner und Hauer, Krallen und Klauen zur Verteidigung oder zum Angriff. Und Tiere, ausgestattet mit einem warmen Pelz wenn es kalt wird, oder einem schützenden Panzer wenn es gefährlich wird. Und sie selbst sind nackt, ohne natürlichen Schutz, von Natur aus unbewaffnet und wehrlos.
Die Menschen erleben Hitze und Dürre, Kälte und Schnee, Hagel und Sturm, Sommer und Winter. Sie erleben Mangel, Hunger und Schwäche, Verwundung, Krankheit und Tod. Und trotzdem: Einer sieht sich selbst an und die Familie, in der er lebt und die Sippe, der er angehört und siehe da: Sie leben noch und er sieht einige seiner Kinder tatsächlich groß werden. Wunder über Wunder.
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das etwas (wenigstens ein winziges Etwas) von der Realität seines existenziellen Angewiesenseins bewusst wahrnehmen kann: Dass sein Leben darauf angewiesen und davon abhängig ist, dass da eine „Kraft” ist, die ihn vor manchem Bösen bewahrt und zu manchem Guten verhilft, so dass er leben kann. Genau so erklärt es der Apostel Paulus im Neuen Testament der Bibel den heidnischen Leuten in Lystra in Kleinasien (Apg 14, 16-17): Zwar hat er (Gott) in den vergangenen Zeiten alle Heiden ihre eigenen Wege gehen lassen; und doch hat er sich selbst nicht unbezeugt gelassen, hat viel Gutes getan und euch vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, hat euch ernährt und eure Herzen mit Freude erfüllt.
Nach nüchterner Betrachtung der Fakten müsste man eigentlich davon ausgehen, dass das „Mängelwesen” Mensch in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte (trotz sicher damals schon vorhandener Ansätze besonderer geistiger Fähigkeiten) unmöglich über längere Zeit lebensfähig sein konnte, dass es sich im „Kampf ums Dasein” nicht behaupten konnte, dass es beim täglichen „Fressen und Gefressen-werden” den kürzeren ziehen musste. Eine gleichmäßige Zufallsverteilung von hilfreichen und schädigenden Erfahrungen nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung hätte nicht ausgereicht, um das individuelle Überleben und den allgemeinen Fortbestand des Menschseins zu gewährleisten. Ohne das beständige Eingreifen einer Macht „von außen“ zugunsten des Lebens und zugunsten des Menschseins hätte das Leben nicht entstehen und sich nicht entwickeln können und hätte der Mensch nicht über-leben können und hätte keine Grundlage für einen lebensstärkenden Glauben gefunden. Nur dadurch, dass Menschen immer wieder auch Erfahrungen machen, unerwartet und unverdient, die sich insgesamt so auswirken, dass Menschen überleben, auch manchmal Freude empfinden und Hoffnung entwickeln können, nur dadurch konnten Religionen entstehen, wie wir sie heute kennen. Und solche Erfahrungen gab und gibt es offensichtlich in allen Völkern und Kulturen.
Wir finden tatsächlich in allen Formen von Religiosität einen gemeinsamen Kern: die Begegnung mit einer Kraft, die in allem erhaltend und weiterführend gegenwärtig ist, die Berührung durch eine Nähe, die helfend, wohltuend und schützend erlebt wird, das Gegenüber eines Willens, der unserem Wollen vorausgeht und der für uns das Gute will. Die Natur des Kosmos ist offensichtlich so gestaltet, dass auf einem winzigen Planeten in einem der Milliarden Sonnensysteme in einer der Milliarden Galaxien über einen bestimmten Zeitraum hinweg Umweltbedingungen bestehen, durch die das Leben leben und das Menschsein existieren kann, allerdings nur dann, wenn eine lebensfreundliche Kraft sie schützend und helfend begleitet.
Diese Kraft, diese Nähe, dieser Wille kann dann von den Gläubigen der verschiedenen Religionen in sehr unterschiedlicher Weise wahrgenommen, vorgestellt und angerufen werden: in vielen Gestalten und Formen, in vielen Traditionen und Riten… Das heißt: Die gemeinsame Grundlage der Religionen ist nicht eine gemeinsame religiöse „Idee“, ist keine gemeinsame Gottesvorstellung, sondern besteht in gemeinsamen Gotteserfahrungen, die dann im Laufe der Zeit in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Gottesvorstellungen hervorgebracht haben. In jeder Kultur und jeder Religion haben Menschen Erfahrungen mit der führenden, helfenden, rettenden Gegenwart der Liebe Gottes gemacht und diese Erfahrungen in ihr Weltbild aufgenommen und in ihre Glaubensvorstellungen integriert. Deshalb ist in jeder Kultur und jeder Religion auch etwas vom Wesen und Wollen Gottes gegenwärtig, freilich vermischt mit oft sehr menschlichen Vorstellungen und Motiven, d. h. auch mit Ungöttlichem und Widergöttlichem. (Die Menschen machen ja immer wieder auch negative Erfahrungen, Erfahrungen von Mangel und Not, von Leid und Schmerz durch Naturgewalten und Krankheiten, durch Gewalt und Krieg, durch den allgegenwärtigen Tod. Und sie neigen dazu, auch diese Negativ-Erfarungen zu „vergöttlichen“, obwohl sie ja nur das „Normale“ in einer natürlichen Umwelt sind.)
Diese ganz realen, im alltäglichen Leben aller Völker und Kulturen gegenwärtigen Gotteserfahrungen wurden zur gemeinsamen Grundlage aller Religionen. Meinen wir denn, Gott hätte nicht den Menschen schon Gutes getan, hätte ihnen nicht schon seine Liebe gezeigt, bevor sie noch in der Lage waren, ein religiöses Weltbild zu entwerfen?
Sehen wir uns die möglichen Gotteserfahrungen, die zur positiven Grundlage aller Religionen wurden, noch etwas genauer an.
3 Deutung von „bedeutsamen“ Erfahrungen
Die Frage des ersten Beitrags „Was ist Religion?“ findet hier eine vorläufige Antwort: Die Religionen der Menschheit sind eben nicht nur Verarbeitungsprodukte von Angstträumen und Rettungsphantasien erschrockener Menschen, nicht nur Versuche zur Erklärung des Unerklärlichen oder Ergebnisse einer spirituellen Evolution, nicht nur Kulturleistungen der Völker oder Herrschaftsinstrumente zur dauerhaften Festigung von Macht (das können sie alles nachträglich auch werden), sondern sie sind zuerst und vor allem Deutung und entfaltende Auslegung (auf je eigene Weise innerhalb von bestimmten Kulturgemeinschaften) für die Gotteserfahrung der Menschheit in Jahrtausenden („Gotteserfahrung“ hier noch ganz allgemein verstanden als Erfahrungen mit der Gegenwart und den Auswirkungen von Mächten, die auf das Leben, Erleben und Überleben der Menschen Einfluss nehmen können. Wobei „Gotteserfahrung“ hier nicht nur „Grenzerfahrung menschlichen Lebens“ meint, wo Menschen sich hilflos und ausgeliefert fühlen, sondern die alltägliche Begegnung mit dem Übermächtigen und zugleich hilfreich Gegenwärtigen. Einige solcher Grunderfahrungen der menschenfreundlichen Gottesgegenwart seien hier genannt.
3.1 Allgemeine Gotteserfahrungen
Trotz der Mühsal, der Natur das Lebensnotwendige abzuringen, machen Menschen auch die Erfahrung der Versorgung mit allem Notwendigen. Sie machen Erfahrungen mit der Natur als nährenden und schützenden Lebensraum trotz aller Gefährdung durch ihre unkontrollierbaren Bedrohungen und Gewalten. Sie machen Erfahrungen von Freude und Zufriedenheit trotz aller Entbehrungen und Gefahren.
Sie machen Erfahrungen von Ordnung und Zuverlässigkeit in der Natur (dass auch nach der finstersten Nacht die Sonne wieder aufgeht, dass nach jedem Winter wieder ein Frühling kommt, dass nach jeder Trockenzeit wieder der lebenspendende Regen fällt …) inmitten einer ständig und unberechenbar sich verändernden Umwelt.
Sie machen Erfahrungen von Erneuerung des Lebens inmitten der Allgegenwart von Vergänglichkeit und Tod. Sie machen Erfahrungen von unerwarteter Bewahrung und Errettung in Situationen mit aktueller und existenzieller Gefährdung.
Menschen machen Erfahrungen von Freude mitten im Schmerz, von Gelingen mitten im Versagen, Erfahrungen von unerwarteter Heilung aus schwerer Krankheit, froh machender Befreiung aus lähmender Angst, Erfahrungen von Hoffnung nach tiefer Verzweiflung, von tragendem Trost in schwerer Trauer.
Sie machen Erfahrungen von Zugehörigkeit, Nähe und Zuwendung in der Gemeinschaft trotz des Selbstbehauptungswillens jedes Einzelnen; aber auch von Geborgenheit und Schutz, wenn alle menschlichen Beziehungen zerbrochen sind. Erfahrung von Angenommensein trotz eigenen Versagens, Erfahrungen von Vergebung trotz schuldhafter Belastung der Beziehungen, von Entlastung und Neuanfang in der Gemeinschaft trotz aller menschlichen Eigenheiten und Schwächen der Beteiligten.
Sie machen Erfahrungen von einer Spur von Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit des Lebens inmitten eines unentwirrbaren Zusammenspiels von scheinbaren Zufälligkeiten.
Der Mensch weiß, dass seine Lebenszeit begrenzt ist und er sterben muss. Aber dass er überhaupt Lebenszeit hat und der Tod und der Zerfall ihn und die Seinen eine Zeit lang nicht antasten dürfen, das erfährt er täglich aufs Neue als bewahrendes Wunder. Dass der Mensch eine Zeit lang leben kann und seine Kinder ernähren kann, und eine nächste Generation das Erbe seines Lebens weiterführen kann, das erlebt er als unbegreifliches Geschenk.
Solche ganz realen, im alltäglichen Leben aller Völker und Kulturen gegenwärtigen Gotteserfahrungen wurden zur gemeinsamen Grundlage aller Religionen. Ja, Gott hat den Menschen schon Gutes getan, hat ihnen schon seine Liebe gezeigt, hat ihnen schon Erfahrungen seiner Nähe und Fürsorge geschenkt, bevor sie noch in der Lage waren, ein religiöses Weltbild zu entwerfen. Ja, ganz gewiss: Gott war schon vom Anfang an lebenserhaltend und fürsorgend am Werk und die Menschen haben das schon in sehr frühen Stadien ihrer Entwicklung auch wahrgenommen.
Solche Gotteserfahrungen (wie immer man in den verschiedenen Kulturkreisen sich das Göttliche auch vorzustellen vermochte) waren aber zunächst noch unbenannt und deutungsoffen und wurden deshalb ganz selbstverständlich in verschiedenen Kulturkreisen auch verschieden interpretiert und dementsprechend in menschlich-bildhafte Vorstellungsweisen gefasst. Dabei verbanden sich ganz selbstverständlich die aus den Angst- und Gewalterfahrungen der Völker hervorgegangenen religiösen Phantasien und Wunschträume mit den echten und hilfreichen Erfahrungen der Liebe Gottes. So entstanden ganz verschiedene Deutungsmuster des Göttlichen: Lebenskräfte der Verstorbenen in Dingen, die sie ihren Nachkommen hinterließen (Ahnenkult), machtvolle Geister in Bergen und Bäumen, Wolken und Winden… (Naturreligionen), übermenschliche Mächte, Götter, Geister und Dämonen, mit oft sehr menschlichen Eigenschaften und Motiven (Polytheismus), ein Schöpfergott, der alles bewegt und erhält (Monotheismus) oder allgegenwärtige kosmische Gesetze und Kräfte mit Auswirkungen auf jedes einzelne Leben (Universalismus) und verschiedenste Mischformen aus solchen Vorstellungen. Offenbar nahm der, mit dessen Gegenwart und Zuwendung die Menschen gute und hilfreiche Erfahrungen machten, es in Kauf, in sehr menschlichen und unzulänglichen Bildern erfasst zu werden, um ihnen doch nahe und erfahrbar sein zu können.
Jeder Mensch macht solche Erfahrungen, deswegen ist jeder Mensch auch in irgendeiner Weise religiös. Solche Gotteserfahrungen machen selbstverständlich auch moderne Atheisten; sie weigern sich nur, die verursachende „Macht“ hinter diesen Erfahrungen mit irgendeinem religiös anmutenden Begriff zu benennen. Sie wählen lieber „neutral“ und „wissenschaftlich“ klingende Begriffe wie „Zufall“ oder „Evolution“, schreiben aber dann doch diesen Zufällen, Gesetzen und Entwicklungsvorgängen die gleichen schöpferischen Kräfte zu, wie andere, die dazu „Gott“ sagen.
3.2 persönliche Gotteserfahrungen
Solche allgemeinen Gotteserfahrungen sind aber nur die erste Ebene der Gottesoffenbarung. Es gibt in allen Kulturen und Religionen auch die Erfahrung, dass sich das Göttliche persönlich zu erkennen gibt: in Bildern, in Stimmen, in Berührungen, in Ereignissen und zeichenhaften Vorgängen…, und auch solche Gotteserfahrungen sind nicht einfach nur Einbildung und Selbsttäuschung. Wir könnten sie als „Nah-Gott-Erfahrungen“ bezeichnen. Auch für die Ebene solcher persönlichen Gotteserfahrungen seien einige wesentliche Beispiele genannt:
- Mystische Erfahrungen, wo Menschen in besonderer Weise die Nähe des Göttlichen, ja fast ein Eins-Sein mit ihm empfinden
- Erleuchtende Erfahrungen, wo Menschen unvorbereitet Erkenntnisse und Zusammenhänge bewusst werden, von denen sie bis dahin nichts ahnten
- Normstiftende Erfahrungen, wo Menschen Botschaften empfangen, die zur gesetzgebenden Ordnung für das Miteinander in der Gemeinschaft werden
- Prophetische Erfahrungen, wo Menschen Botschaften empfangen, die ihre Gemeinschaft vor gegenwärtigen Fehlentwicklungen warnen und auf künftige Ereignisse vorbereiten sollen.
Offensichtlich besteht das, was wir bisher als „Kraft“, und „Wille“ oder das „helfend, wohltuend und schützend Gegenwärtige“ bezeichnet haben, nicht nur aus dem Zusammenwirken blinder Wirkungsprinzipien und Naturgesetze, ist nicht nur Ausdruck einer diffusen kosmischen Energie oder universalen Spiritualität, sondern personale Existenz als persönliches Gegenüber des Menschseins, das mit uns Menschen in Kontakt treten und eine Beziehung aufnehmen will. Alle Religionen haben wesentliche Impulse aus solchen „persönlichen Gotteserfahrungen“ empfangen. Für dieses personale Gegenüber, dem Menschen in persönlichen Erfahrungen begegnet sind, haben sie in den verschiedensten Sprachen Begriffe gebildet, die in etwa dem deutschen Begriff „Gottheit“ entsprechen, wobei man sich in den verschiedenen Kulturen und Religionen diese „Gottheit“ (in Einzahl oder Mehrheit) dann ganz verschieden vorstellen konnte.
Wir sehen also: Es gibt zwei Wurzeln, aus denen sich der weitverzweigte „Baum” der Religionen nährt: Zum einen die Erfahrungen, die Menschen mit den bedrohlichen, erschreckenden, lebensgefährdenden Mächten der Natur machen. Von solchen Erfahrungen her kommen eher die dunklen, angstbesetzten und furchterregenden, manchmal auch gewalttätigen Ausdrucksformen des Religiösen. Zweitens (und da mitten drin und trotz aller bleibenden Gefahr) gibt es auch die allgemeinen und persönlichen Erfahrungen mit der helfenden, heilenden, rettenden Nähe, mit der Menschenfreundlichkeit und Zuwendung einer väterlichen Macht, der dem einzelnen Menschen Gutes tun will und der aufs Ganze gesehen das von ihm Geschaffene bewahrt, begleitet und zur Vollendung führt. Ohne diese positiven Gotteserfahrungen gäbe es keine Religion, deren ethischen Maßstäbe auf eine helfende, schützende, menschenfreundliche Zuwendung zum Mitmenschen hinweisen. Beide Erfahrungsbereiche, die positiven wie die negativen, sind in allen Religionen gegenwärtig, und selbstverständlich auch in den biblisch begründeten Religionen, Judentum und Christentum.
Ja gewiss, Religionen sind auch Mittel zur Bewältigung der Angst, auch Versuche zur Erklärung des Unerklärlichen, auch Entwicklungen und Leistungen innerhalb eines bestimmten kulturellen Umfelds, auch Mittel zur Erlangung und Absicherung von Macht. Aber sie sind eben immer auch mehr als das. Sie sind, soweit sie sich auf die Erfahrungen der Menschen mit den Wohltaten der Liebe Gottes gründen, die Quelle aller ethischen Maßstäbe und Einstellungen und Verhaltensweisen. Die erfahrene hilfreiche Zuwendung Gottes wird zur Herausforderung, sich nun auch selbst seinem „Nächsten” hilfreich zuzuwenden (siehe siehe den Beitrag 5 „Der Ursprung der Menschlichkeit“).
Zunächst aber muss auf eine dritte Weise von „Gottesoffenbarung“ (hinzukommend zu den oben genannten „allgemeinen und persönlichen Gotteserfahrungen”) hingewiesen werden, die den Menschen begegnen kann: Die Selbstoffenbarung Gottes.
.
Bodo Fiebig Die doppelte Wurzel des Glaubens Version 2021-1
© 2021 Herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.
Vervielfältigung, auch auszugsweise, Übersetzung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen und jede Form von kommerzieller Verwertung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers