Was ist typisch „menschlich“? Was macht den Menschen zum Menschen? Seine überlegene Intelligenz? Seine sprachlichen Fähigkeiten? Seine technischen Errungenschaften? Seine sozialen Organisationsformen? Das alles gehört auch dazu; das Entscheidende ist es aber nicht, denn all das kann offenbar auch für extrem menschenunwürdige Ziele und Vorgehensweisen eingesetzt werden: Zu bestimmten Zeiten in bestimmten Gruppen und Völkern haben Menschen ihre ganze Intelligenz, alle ihre Fähigkeiten und Begabungen, ihr Wissen, ihre Fantasie und die Macht ihrer Sozialsysteme… dazu verwendet, um damit Vorhaben durchzusetzen und auszuführen, die man im Nachhinein „unmenschlich“ oder „bestialisch“ nennt, obwohl man damit auch der reißendsten Bestie großes Unrecht antut. Kein Raubtier wäre zu Handlungsweisen fähig, wie sie z. B. in den „Vernichtungslagern“ der Nazis in Deutschland, in den „Arbeitslagern“ des Stalinismus in der Sowjetunion oder in den „Umerziehungslagern“ im maoistischen China millionenfach angewendet wurden und die Millionen Menschen das Leben kosteten (oder wie man sie man heute z. B. in Rekrutierungslagern für Kindersoldaten oder in den Terrorcamps und Folterkellern der Gegenwart plant und durchführt).
Der Mensch wird zum Ungeheuer, wenn er die Instinkte aus dem „Kampf ums Dasein“ mit den Möglichkeiten seines wissenschaftlich-technischen „Know-how“ im 21. Jahrhundert verbindet und wenn er dabei die natürlichen Tötungs-Hemmungen ersetzt durch Vorstellungen von eigener Überlegenheit und fremder Minderwertigkeit. Wir nennen solche Handlungsweisen gern „unmenschlich“, aber wer könnte uns denn sagen, welches Verhalten „menschlich“, also dem Menschsein angemessen wäre, wer hat einen Maßstab, mit dem sich „Menschlichkeit“ messen ließe? Oder sind etwa doch Gewalt, Mord und Krieg typisch „menschliche“ Verhaltensweisen?
1 Die normative ethische Kraft positiver Erfahrungen
Woher sollte denn eine „Ethik der Mitmenschlichkeit“ kommen, die alle Menschen und alles Leben einschließt, woher sollte sie ihre Maßstäbe nehmen? Nennt nicht der Eine gut, was der andere als böse empfindet? Misst nicht jeder, was gut oder böse sei am eigenen Vorteil? Wie konnten überhaupt gemeinsame ethische Einstellungen entstehen? (Siehe das Thema „Adam“, Beitrag 5 „Die ethische Revolution des Menschseins“)
Ob es den Atheisten unserer Tage gefällt oder nicht: Die Anstöße für eine Ethik, die über den eigenen (individuellen oder kollektiven) Vorteil und Nutzen hinausweist, kamen alle aus religiösen Impulsen (auch wenn manche davon später von atheistischen Ideologien aufgegriffen und abgewandelt worden sind). Das „Gesetz“ des Atheismus (siehe das Thema „Die Ethik des Atheismus“, Abschnitt 3 „Evolution oder Menschlichkeit?“), das davon ausgeht, dass alles Leben im „Kampf ums Dasein“ entwickelt und geformt wurde, könnte nur eine „Ethik“ der individuellen und kollektiven Selbstbehauptung auf Kosten der jeweils „anderen“ hervorbringen, denn jeder Impuls, einem anderen, Schwächeren, beizustehen, würde ja im evolutionären Konkurrenzkampf des Lebens die eigenen Überlebenschancen mindern.
Aber kann denn Religion Maßstäbe für eine Ethik umfassender Mitmenschlichkeit aus dem Nichts herbeizaubern? Nein, natürlich nicht. Wenn Religion nur menschliche Kulturleistung wäre, bliebe auch sie im Spiegellabyrinth des Egoismus gefangen. Gehen wir also der Frage nach, woher die Grundlagen einer Ethik der Mitmenschlichkeit kommen, denn es gibt sie ja offensichtlich, auch wenn sie nicht überall angewandt wird.
Zwar scheint es auf den ersten Blick so, als ob jene Macht, die alles geschaffen hat, den Kräften der Natur (und die schließen notwendigerweise auch Leid und Tod mit ein) bewusst freien Lauf lässt, in Wahrheit aber ist sie es, die dafür sorgt, dass ein Mensch inmitten von Leid und Tod leben kann und manchmal auch Freude und Glück erfährt (siehe auch den Beitrag 2 „Grundlagen des Glaubens“ und das Thema „Die Frage nach dem Leid“).
Gott hebt dabei die Naturgesetze (die er selbst geschaffen hat) normalerweise nicht auf, aber er nutzt die Variationsbreite ihrer Wirkungen und die Spielräume ihres Zusammenwirkens, um den Menschen seine helfende Gegenwart inmitten allen Mühens und Leidens doch erfahrbar zu machen. Zu den Grundtatsachen des Lebens und des Menschseins gehören Erfahrungen von Bewahrung, Begleitung und Geborgenheit in der Gegenwart einer lebenserhaltenden, lebensfördernden, wohltuenden Kraft. Und es sind eben diese Erfahrungen mit der Gegenwart, Zuwendung und Liebe Gottes, die zu einer Quelle normativer ethischer Kraft werden und zu einer Ethik umfassender Mitmenschlichkeit führen können. (Ähnliches erleben wir ja auch im zwischenmenschlichen Bereich: Da, wo Kinder in den ersten Lebensjahren ihr familiäres Umfeld und die Beziehung zu ihren Eltern als warme, liebevoll zugewandte, hilfreich unterstützende und dann doch vertrauensvoll freigebende Gemeinschaft erfahren, können sie später als Erwachsene selbst Wärme, Zuwendung, Hilfsbereitschaft und Vertrauen entwickeln und geben.)
Wenn Menschen über lange Zeit immer wieder die Erfahrung machen, wie eine überlegene Macht eben diese Überlegenheit nicht ausnutzte, um ihnen, den Unterlegenen, zu schaden, sondern sich ihnen liebevoll zuwandte, um in der Not zu helfen, in der Schwäche zu stärken, in der Traurigkeit zu erfreuen … dann stellt das (ohne dass den Beteiligten der Zusammenhang bewusst werden muss) die Menschen vor die Herausforderung, nun selbst gegenüber anderen, die sich jetzt in ähnlichen Notlagen befinden, genau so selbstlos, hilfreich, tröstend und stärkend (mit einem Wort: liebevoll) zu handeln.
Die Erfahrungen der Nähe und Kraft Gottes, die ihnen lebenspendend, helfend, wegweisend und sinngebend entgegenkam, hat zur Folge, dass sich Menschen nun selbst herausgefordert wissen, in der Gemeinschaft des Menschseins ebenso lebenserhaltend, hilfreich, wegbegleitend und sinnstiftend zu wirken. Positive Grundlage aller Religionen der Menschheit sind Erfahrungen mit der Hilfe und Fürsorge Gottes und die jeweils eigene selbstverpflichtende Antwort darauf. Wahre Mitmenschlichkeit ist Nachahmung der Menschen-Liebe Gottes.
Nun kann man natürlich einwenden, dass die Menschen mit den Mächten der Natur und der Über-Macht, die sie dahinter vermuten, nicht nur gute Erfahrungen gemacht haben (und auch heute noch machen). Wie sollen sie Dürrekatastrophen und Überschwemmungen, Wirbelstürme und Feuersbrünste, Erdbeben und Tsunamis und deren schrecklichen Folgen mit der Vorstellung von einem guten Gott in Einklang bringen? Wie passt die Allgegenwart von Leid und Tod zur Allmacht der Liebe? Hätte Gott nicht gleich eine vollkommene Schöpfung ohne Krankheit und Schmerzen, Leid und Tod machen können? Auf diese Fragen können wir hier nicht näher eingehen (siehe dazu das Thema „Die Frage nach dem Leid“, dort werden sie ausführlicher behandelt). Hier muss der Hinweis genügen, dass die Liebe Gottes uns gerade in den notvollen Situationen unseres Lebens am spürbarsten entgegenkommt, denn sie will nicht nur uns selbst trösten, sondern uns anleiten, unseren Mitmenschen auch in deren Not beizustehen.
2 Die Berufung des Menschseins
In allen Gotteserfahrungen der Menschheit spiegelt sich (in vielen Fassetten und Farben) die Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz: Das Menschsein existiert im Gegenüber einer Macht, die ihm (trotz aller Widersprüchlichkeit und Gefährdung des Daseins) im Guten, in hilfreicher Zuwendung und herzlicher Zuneigung (zusammenfassend gesagt: in Liebe) begegnet. Die biblische Offenbarung bestätigt das, führt aber gleichzeitig noch darüber hinaus. Sie zeigt, dass Gott mitten in einer ethisch blinden Schöpfung sich ein Geschöpf erwählt, damit es da eine besondere Berufung empfängt: Es soll zum Ebenbild göttlichen Wesens werden, um sichtbar zu machen, wie Gott ist (und wie die ganze Schöpfung in ihrer Vollendung werden soll). 1.Mose 1, 27: Und Gott schuf das Menschsein sich zum Ebenbild … (siehe dazu auch das Thema „sein und sollen“)
Wer die Gemeinschaft des Menschseins sieht, soll etwas vom Wesen Gottes erkennen. Das Wesen Gottes aber ist die Liebe. 1. Joh 4, 16: Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Das bedeutet: Das Menschsein soll anschaubare und erfahrbare Vergegenwärtigung der Liebe Gottes sein mitten in dieser so schönen und gleichzeitig so leidvollen, bedrohlichen und bedrohten Welt.
Mitten in dieser Welt, in dem das allgemeine „Fressen und Gefressen-Werden“ regiert, mitten in all dem Guten und Bösen, das uns da widerfährt, soll der Mensch ein völlig neues Dasein verwirklichen: eine von der Liebe gestaltete Gemeinschaft. Und damit die Menschen dazu ein Vor-Bild, eine Handlungsanleitung hätten, dazu lässt Gott sie in dieser so schönen und gleichzeitig argen Welt Erfahrungen der Nähe, der Hilfe, der Wegweisung, der Geborgenheit, der Güte, zusammengefasst: Erfahrungen der Liebe machen.
„Wer mich sieht, sieht den Vater“ (Joh 14,9), sagt Jesus. Genauer kann man die Herausforderung des Menschseins (jeden Menschseins!) nicht beschreiben. Wenn man die Menschen anschaut, (ihr Leben, Reden und Handeln, nicht ihr Aussehen!), vor allem, wenn man sieht, wie sie in Gemeinschaft leben und miteinander umgehen, dann soll man eine Ahnung davon bekommen, wie Gott ist (siehe das Themenheft „AHaBaH – das Höchste ist lieben“). Und wir erkennen erschrocken, wie weit wir uns im alltäglichen praktischen Leben, Reden und Handeln davon entfernt haben.
In Jesus ist die Berufung des Menschseins in vollgültiger Weise verwirklicht. Die Begegnung mit Jesus, das Anschauen seines Lebens, Redens und Handelns, wird zur Gottesbegegnung in menschlich unmittelbar wahrnehmbarer Form. Durch ihn wird die ethische Herausforderung des Menschseins deutlich erkennbar: (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18; Mt 22, 37-40): …du sollst JaHWeH, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Und Joh 13, 35: Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Die uneigennützige, hingabebereite Liebe untereinander (ohne Grenzen der Familien-, Volks-, Rasse-, Religionszugehörigkeit…) das ist die „ethische Revolution des Menschseins“, und die soll zum Erkennungszeichen gottgewollter Menschlichkeit werden.
Diesem „Sollen“ steht allerdings oft ein faktisches „Sein“ gegenüber, durch das das Bild wahren Menschseins über Jahrhunderte hinweg verdunkelt wurde: In allen Religionen (einschließlich des Christentums) wurde das Grundanliegen der Mitmenschlichkeit als Nachahmung der Menschenliebe Gottes im Laufe ihrer Entfaltungsgeschichte immer wieder vielschichtig überlagert, und manchmal konnten diese Überlagerungen so stark und undurchdringlich werden, dass durch sie dieses Grundanliegen fast gänzlich verdeckt und verdrängt wurde (siehe Beitrag 5 „Frieden durch Religion?“). So konnte aus dem Impuls zur Mitmenschlichkeit schließlich zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kulturen und Religionen ein Antrieb für Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit, für Fanatismus und Intoleranz, für Hass und Brudermord werden. Religionen können, (vor allem dann, wenn sie groß und mächtig werden) Angst machend, gewalttätig, grausam und mörderisch sein, ja, sie können zu unbarmherzigen und menschenfeindlichen Unterdrückungssystemen erstarren. Allerdings: Viele „Entgleisungen“ des Menschseins, die den Religionen angelastet werden, sind eher auf eine kulturelle Verarmung und Verwahrlosung, auf menschliche Bestrebungen nach Machtgewinn und Machterhalt, bzw. auf ideologische Fehlleitungen zurückzuführen.
Trotzdem: Der ursprüngliche Impuls zur Entstehung der Religionen waren die Erfahrungen der Menschen mit der Menschenfreundlichkeit Gottes. Erst später kamen in manchen Kulturen und zu manchen Zeiten egoistische Motive hinzu, die darauf abzielten, den Glauben als Mittel zum Machtgewinn und als Herrschaftsinstrument zu missbrauchen.
Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt (1.Joh 4, 19). Gegenüber diesem Grundanliegen aller Religionen, das aus den Grunderfahrungen mit der Liebe Gottes hervorgegangen ist, sind die nachträglich gewachsenen und immer wandelbaren Vorstellungen von Gottheiten, Geistern und Dämonen und die Wege und Riten zu ihrer Verehrung von nachrangiger Bedeutung. Die Religionen der Welt sind von ihrem Entstehungsimpuls her wahr, denn sie sind Antwort auf die wahren Gotteserfahrungen der Menschheit durch die Jahrtausende.
Religion ist der Ursprung der Menschlichkeit; sie ist es, die menschliches von tierischem Leben grundsätzlich unterscheidet. Nicht seine Intelligenz oder seine technischen Errungenschaften machen die Menschlichkeit des Menschen aus, sondern seine ethischen Grundüberzeugungen und Handlungsweisen, die aus dem Vorbild der Liebe Gottes kommen. Religion ist (solange sie sich nicht von ihren eigenen Quellen entfernt) die Energiequelle der Menschlichkeit. Ohne sie wäre das Menschsein (so wie alles andere Leben) in seiner ethischen Entwicklung auf der Stufe eines unerbittlichen „Kampfes ums Dasein“ und ständigen „Fressens und Gefressen-Werdens“ stehen geblieben.
Das Verhältnis des biblischen Glaubens zu den Religionen der Völker ist mit Kategorien wie richtig und falsch, wahr und unwahr, gut und böse nicht angemessen zu beschreiben. Vielmehr finden wir in allen Religionen echte und ehrliche (wenn auch immer unvollkommene) Antworten der Völker und Kulturen auf die gemeinsamen Gotteserfahrungen der Menschheit. Für Juden und Christen enthält die Bibel über die allgemeinen Gotteserfahrungen hinaus die Selbstoffenbarung Gottes im Wort, durch die ihnen der biblische Gott, der Schöpfer aller Dinge und allen Lebens, zum personalen Gegenüber einer Liebesbeziehung wird.
Trotzdem: In jeder Religion ist ein Ursprungsimpuls lebendig, der aus den Erfahrungen mit der Liebe Gottes herkommt, die den Menschen in ihrer persönlichen und kollektiven Geschichte begegnet ist. Und jede Religion kann im Glauben und Leben zu ihren Ursprungsimpulsen in der Begegnung mit der Liebe Gottes zurückkehren, denn diese dauern ja an bis heute an.
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Bodo Fiebig Der Ursprung der Menschlichkeit, Version 2021-1
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