Die beiden Begriffe „Vergebung“ und „Erlösung“ sind zwar miteinander verwandt, aber doch deutlich zu unterscheiden. Das heißt: Hier, in diesem Beitrag, geht es noch nicht darum, wie Vergebung und Erlösung geschehen (siehe die Beiträge „Die vierte Dimension“ und „Erlösung in der Tiefe“), sondern darum, was diese Begriffe in diesem Zusammenhang bedeuten.
„Vergebung“ ist das Handeln eines „Opfers“, eines Geschädigten, der einem „Täter“, seine Tat oder sein Verhalten nicht mehr als „Schuld“ anrechnen will, der nicht mehr auf „Wiedergutmachung“ in Form einer „Strafe“ besteht, sondern den Täter freispricht von seinem „Schuldig-Sein“.
„Erlösung“ kann die Folge von Vergebung sein (wenn der Täter diese Vergebung annimmt), durch die der Täter frei wird von der Last der Schuld und (dies kann allerdings mehr oder weniger lange dauern) auch frei von dem egoistischen Antrieb, der, wenn er unerlöst bliebe, immer wieder zu neuer Schuld führen würde.
Sehen wir uns die beiden Begriffe „Vergebung“ und „Erlösung“ noch etwas genauer an:
1 Vergebung
„Vergebung? Was soll das? Dadurch kann man doch das Unrecht auch nicht ungeschehen machen!“ So hört man es oft. Aber darum geht es ja gar nicht, etwas ungeschehen zu machen. Es geht darum, die negativen Auswirkungen eines schuldhaft schädigenden Handelns oder Verhaltens zu beenden, damit es nicht immer weiter Unheil hervorbringen kann.
Vergebung geschieht auf zwei Ebenen: Auf einer zwischenmenschlichen Ebene und auf einer gott-menschlichen Ebene. Auf beiden Ebenen spielt sich aber im Prinzip der gleiche Vorgang ab.
Die Folge von Angriff und Gegenangriff (siehe Beitrag 2 „Die Auswirkung von Schuld“) wäre nur dann zu unterbrechen, wenn einer der Beteiligten es fertigbrächte, den giftigen Stachel der bösen Tat eines anderen im eigenen „Fleisch“ stecken zu lassen. Er würde akzeptieren, dass etwas Fremdes ihm weh getan hat und dass diese Erfahrung des Schmerzes nun zu ihm gehört. Er würde diese Schmerzerfahrung in seine Biographie und in sein Selbstbild integrieren und und es zulassen, dass sie da Prozesse in Gang setzt, deren Ausgang er noch gar nicht kennt. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass solchermaßen angenommene Schmerzerfahrungen positive Entwicklungen in Gang setzen können, während abgelehnte, verdrängte oder aggressiv zurückgewiesene Schmerzerfahrungen auch für das Opfer meist zusätzliche negative Auswirkungen haben.
Solches Annehmen des Schmerzes würde dem Angriff des andern im wörtlichen Sinne „die Spitze nehmen“. Es würde das Böse dem Täter nicht zurechnen und nicht zurückgeben, sondern es auf sich nehmen und in sich austragen. Vergebung bedeutet nicht ein oberflächliches Vergessen und billiges „Schwamm drüber“, sondern es bedeutet, als Opfer das erlittene Unrecht anzunehmen und so den Täter davon zu entlasten. Das kann der Täter nicht erwarten und schon gar nicht verlangen. Er kann es höchstens erbitten und als Geschenk empfangen. Der Vergebende unterscheidet und scheidet zwischen der bösen Tat (die böse bleibt und niemals verharmlost werden darf) und dem Menschen, dessen Person trotz der bösen Tat geliebtes Geschöpf Gottes bleibt und der sich durch die Vergebung wieder dem annähern kann, was sein Menschsein von Gott her sein soll und sein kann. Dies alles kann nur durch die Liebe geschehen. Durch eine Liebe, die (Jesaja 53, 4+5) „unsere Krankheit trägt und unsere Schmerzen auf sich lädt, die sich durchbohren lässt von unseren Missetaten und zerschlagen lässt von unseren Verfehlungen, die unser Verhängnis auf sich nimmt, uns zum Frieden und in dessen Wunde unsre Heilung ist“.
Voraussetzung für Vergebung ist allerdings, dass der Täter aufhört mit seinem verletzenden Tun. Vergebung ist dann kaum möglich, wenn jemand sagt: „Vergib mir, dass ich dir wehgetan habe“ … und sofort wieder zuschlägt, wenn er das Gestohlene nicht zurückgibt, die Verleumdung nicht zurücknimmt, die Unterdrückung nicht aufhebt, den Missbrauch nicht beendet … Vergebung ist immer an die Bereitschaft und den festen Vorsatz des Täters gebunden, sein schädigendes Verhalten nicht fortzusetzen oder zu wiederholen (ob das dann immer gelingt, ist eine andere Frage, aber ohne den entschiedenen Willen dazu ist jede Bitte um Vergebung Lug und Betrug). Die Bibel nennt solches Beenden eines falschen, bösen Verhaltens „Umkehr“. Jesus: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Ohne Umkehr wäre es eine Verhöhnung des Opfers, Vergebung zu erbitten oder zu erwarten.
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2 Erlösung
Menschen können einander vergeben, aber sie können einander nicht erlösen. Erlösen (das heißt, einen Menschen wieder von der Schuld trennen, die er durch sein schuldhaftes Verhalten an sich gebunden hat), das kann nur Gott. Im Vaterunser bittet Jesus zunächst: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Jesus spricht hier von Schuld und Vergebung auf zwei Ebenen: Erstens von der Schuld der Menschen untereinander und zweitens von der Schuld der Menschen gegenüber Gott. Beides hat ganz grundlegend miteinander zu tun: Menschen (und besonders angesprochen sind hier die Jünger und Jüngerinnen Jesu) sollen einander vergeben. Und in gleichem Maße, wie sie selbst anderen Menschen deren Schuld vergeben, will Gott ihnen auch ihre Schuld ihm gegenüber erlassen. Das griechische Wort, das an dieser Stelle (im Vaterunser) für „vergeben“ steht (aphiemi) bedeutet wegschicken, verlassen, entlassen.
Der Vergebende schickt die Schuld weg, geht auf Distanz zu ihr, so dass sie das Verhältnis zwischen ihm und dem (früheren) Täter nicht mehr belasten kann. Aber die „Last“ ist ja immer noch da. Auch wenn sie der Vergebende dem Schuldigen nicht mehr anrechnet, sie ist noch nicht „erlöst“, ist sie doch immer noch Teil der Person und der Lebensgeschichte des Täters und des Opfers.
Vergebung ist ein Geschehen das vom Opfer ausgeht, und das die negativen Auswirkungen von Schuld im Verhältnis zum Täter beenden kann.
Erlösung ist ein Geschehen, durch das Gott die Schuld selbst (nicht nur die negativen Auswirkungen) dem Täter abnimmt und ihn dadurch entlastet, so dass die Belastung durch die Schuld beim Täter selbst, beim Opfer und in der Gemeinschaft beendet wird.
Wenn es um „Erlösung“ geht, ist nur Gott der Angesprochene. Jesus im Vaterunser: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse und von dem Bösen. Das griechische Wort für „erlösen“ heißt hier „rhyomai“ und bedeutet herausreißen, befreien, retten. Gemeint ist hier nicht nur das Böse, das von außen auf uns zukommt, sondern vor allen auch das Böse, das durch böses Denken, Reden und Tun Teil unserer Lebensgeschichte und unserer Identität geworden ist. Nur Gott kann uns herausreißen aus der Verstrickung in unsere Schuld, die wir durch egoistisches Handeln und Verhalten an uns gerissen und an uns gebunden haben (wir werden im Abschnitt 4 „Die vierte Dimension der Schuld“ noch mehr davon zu reden haben). Vergebung kann die negativen Folgen der Schuld im Verhältnis zwischen Täter und Opfer beenden. Erlösung kann das schon geschehene Böse aus dem Leben des Täters, des Opfers und der sozialen Gemeinschaft beider herauslösen und unschädlich machen.
Um das zu verdeutlichen, soll das Gemeinte (den Zusammenhang zwischen dem Bösen, das jemand einem anderen antut und der Rückwirkung, die es auf den Täter selbst selbst hat) noch einmal anhand eines bildhaften Vergleichs erklärt werden: Jeder Impuls, der von einer Person ausgehend einen andere „trifft“, erzeugt einen Gegenimpuls, der in die Gegenrichtung, also zurück auf den Ausgangspunkt wirkt. Wenn man z. B. mit einem Gewehr eine Kugel abfeuert, dann spürt man einen deutlichen Rückstoß. Die nach außen gerichtete Aktion wirkt auf den Ursprung zurück (das gilt übrigens nicht nur für negative, verletzende Impulse, auch jeder freundliche bejahende, helfende Impuls hat seine Rückwirkung auf den „Täter“ selbst). Aber, so ist es eben auch bei jedem schuldhaften Tun und Verhalten: Jeder „Schlag“ erzeugt einen „Rückschlag“, der dorthin wirkt, wo der Schlag herkam. Das haben wir schon im Abschnitt 2.2 „Die Auswirkungen der Schuld beim Täter“ festgestellt: „Jedes Böse, das wir gedacht, geplant, gesagt und getan haben, wird untrennbar und unauslöschlich Teil unserer Person, verborgen, verdrängt, vergessen vielleicht, aber doch Bestandteil unserer Lebensgeschichte und unserer Erfahrungswelt, auch Teil unseres Selbstbildes und unserer inneren Ausstattung an Einstellungen und Werthaltungen. Das bedeutet: Jedes schuldhafte Verhalten, das einen anderen verletzt, fügt dem „Täter“ selbst in seinem innersten Ich, eine entsprechende Verletzung zu, die zu einer „Belastung“ und Beeinträchtigung seiner eigenen Lebenskraft und Lebensqualität und Lebensfreude führt. Diese „Selbstbeschädigung“ des „Täters“ durch seine Tat kann durch die Vergebung des „Opfers“ nicht beseitigt werden, sie bedarf einer Erlösung, die nur Gott selbst vollbringen kann.
Vergeben und erlösen – das kann ein Mensch nicht für sich selbst tun. Vergeben und erlösen kann nur die Liebe und Vergebungsbereitschaft des andern, sei es ein Mensch oder Gott. Die Liebe kann nichts für sich selbst tun, aber alles für einen anderen. Sie kann sich nicht selbst den Himmel erobern, aber sie kann einem anderen den Zugang dahin frei machen. Eine gute Tat, die nur deshalb getan würde, um für sich selbst den Himmel zu verdienen, wäre Egoismus pur im scheinheiligen Gewand. Wenn aber jemand ohne irgendwelchen Eigennutz ein Stück der Schuld-Last eines andern, der ihm Böses angetan hat, auf sich nehmen würde, indem er die eigene Schmerzerfahrung annimmt und sie dem Täter nicht mehr als Schuld zurechnet, so wäre für diesen eine Tür aufgetan, durch die er von neuem auf Gott zugehen kann, der ihn ganz erlösen und befreien will.
So geschieht Erlösung durch Vergebung auf zwischenmenschlicher Ebene. Das ist hier natürlich nur sehr vereinfacht und schematisch dargestellt, die Wirklichkeit ist viel komplexer, da geht es z.B. nicht nur um die aktive böse Tat, sondern auch um das Gute (die Zuwendung und Hilfe … ), die wir jemandem verweigert haben usw. Trotzdem: Im zwischenmenschlichen Bereich geschieht Vergebung und Erlösung so. Erlösung auf gott-menschlicher Ebene geschieht im Prinzip auf gleiche Weise, aber sie reicht weiter und geht tiefer. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
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Vergebung und Erlösung, Version 2017-8
© 2017 Bodo Fiebig
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