Bereich: Grundfragen des Glaubens

Thema: Schuld und Vergebung

Beitrag 5: Die vierte Dimension (Bodo Fiebig12. Januar 2018)

Soweit Schuld sich auf zwischenmenschlicher Ebene abspielt, erscheint es uns verständlich, dass Schuld nicht einfach folgenlos vergeht, sondern mehr oder weniger schwere Beeinträchtigungen für alle Beteiligten nach sich zieht. Aber was soll das alles mit Gott zu tun haben? Gott ist doch gar nicht betroffen! Ihm kann doch menschliche Schuld nichts anhaben, er ist doch nicht Opfer menschlichen Handelns. Oder doch? Wir haben weiter oben gesehen (siehe Abschnitt 2 „Die dreifache Wirkung der Schuld“), dass schuldhaft verletzendes Handeln immer eine dreifache Auswirkung hat: Auf das Opfer, auf den Täter und auf die soziale, geistige und ethische Gesamtsituation in einer Gemeinschaft. Aber auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Wir müssen eigentlich von einer vierfachen Auswirkung von Schuld reden. Es ist noch ein Vierter beteiligt und betroffen: Gott, der Schöpfer des Universums.

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1 Das Geheimnis von Schuld und Vergebung

Versuchen wir eine menschlich-anschauliche Annäherung an ein göttliches Geheimnis, an das Geheimnis von Schuld und Vergebung: Gott hat ein unfassbar großes Universum geschaffen und in den unermesslichen Weiten des Alls unsere Erde als Träger des Lebens (siehe das Thema „Die Frage nach dem Sinn“). In einer solchen Schöpfung aus Materie und Biologie kann es nichts geben, für das die Begriffe „Schuld“ und „Vergebung“ irgendeine Bedeutung haben könnten. Die Materie existiert und das Leben lebt – beides ohne Bewusstsein, dass es etwas geben könnte, das „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“ zu nennen wäre (wenn eine Katze eine Maus jagt und frisst, ist das nicht böse, sondern ein natürliches, instinktgesteuertes Verhalten). Die Schöpfung ist „von Natur aus“ ohne Ethik und Verantwortung. Aber mitten in dieser natürlichen und damit auch Ethik-freien Schöpfung hat Gott ein Geschöpf berufen und eingesetzt, das es mehr sein soll als nur Materie und Biologie: Den Menschen; den Menschen als Träger einer Berufung, durch die eine völlig neue Daseinsweise in die Schöpfung kommt, die den „Kampf ums Dasein“ und das „Fressen und Gefressen-werden“ der Natur überwindet (siehe das Thema „sein und sollen“).

Aber was ist das für eine Berufung? Das steht schon auf der ersten Seite der Bibel: 1.Mose 1, 26-27 (wörtliche Übersetzung):: Und (es) sprach Gott: Machen wollen wir Menschen in unserem Bild, gemäß unserer Gleichheit. (…) Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bilde Gottes schuf er ihn …

Biblisch gesehen ist dieses auf zwei Beinen aufrecht gehende Lebewesen „Mensch” nicht definiert durch das, was es ist (ein relativ intelligentes Säugetier) sondern durch das, was es sein soll: „Bild” Gottes, Abbild und Darstellung des innersten Wesens dessen, der das Universum geschaffen hat.

Der Mensch ist im Vergleich zu allem Vorangegangenen eine wirkliche Neuschöpfung Gottes, trotz seiner biologischen Nähe zu den Säugetieren. Und dieses „ganz Neue“ ist nicht materieller und nicht biologischer Art, sondern besteht in einer besonderen, nur die Menschen betreffenden Berufung: Die Schöpfung „Mensch“ soll „Bild“ sein, Ikone – Ikone Gottes, das heißt: sichtbare Darstellung des Schöpfers in der Schöpfung, anschaubare Vergegenwärtigung Gottes mitten in einer scheinbar gottlosen Welt. Dabei ist aber der Mensch keine optische Abbildung Gottes, als wäre Gott ein Wesen mit menschenähnlicher Gestalt, mit Armen und Beinen, mit Augen, Mund und Nase… (dann wäre ja Gott ein Abbild des Menschen, und so haben sich Menschen zu allen Zeiten ihre Götter vorzustellen versucht, schauen wir uns doch die Götterbilder der Religionen an).

Nein, der Mensch ist keine optische Abbildung Gottes sondern eine wesentliche. Durch das Menschsein soll das Wesen Gottes in der Schöpfung anwesend sein. Aber, wer ist Gott, was ist denn sein eigentliches Wesen? Und wozu hat er uns geschaffen und was erwartet er von uns? Die Antworten auf solche Fragen sind von uns aus nicht zugänglich. Wir können mit den Mitteln menschlicher Erkenntnisfähigkeit nur so viel von Gott erfassen und mit den Mitteln menschlichen Sprache nur so viel von Gott aussagen, als er selbst sich uns offenbart.

Und Gott hat sich offenbart: In der Schöpfung, in der Geschichte Israels, im Leben, Reden und Handeln Jesu, auch in der Geschichte des Judentums und der Christenheit der vergangenen 2000 Jahre und in der Weltgeschichte und Heilsgeschichte bis heute. Und in dieser Selbstoffenbarung Gottes über Jahrtausende hinweg können wir wahrnehmen, dass die Existenz Gottes wesentlich in einem „In-Beziehung-Sein“ besteht, einem „In-Beziehung-Sein“, das wir mit den Mitteln der menschlichen Sprache (freilich völlig unzureichend, aber wir haben keine Alternative) mit dem Begriff „Liebe“ umschreiben (siehe den Themenbeitrag „AHaBaH – das Höchste ist Lieben).

In der Bibel klingt das so: 1. Joh 4, 7-8: Ihr Lieben, lasst uns einander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Das also (das, was hier mit dem Begriff „Liebe” umschrieben wird), das ist es, was das Gott-Sein Gottes ausmacht, sie ist sein eigentliches „Wesen”, seine „Substanz”, seine „Identität”.

Die Bibel beschreibt (in deutscher Übersetzung) das Wesen Gottes in drei Worten: Gott – ist – Liebe. Damit ist alles Wesentliche über den Gott der Bibel ausgesagt: Sein Wesen ist ein „Für-den-andern-da-sein“ in voraussetzungsloser Annahme und uneingeschränkter Zuwendung, in unerschütterlicher Treue und opferbereiter Hingabe. Und diese Liebe, die das Gott-Sein Gottes ausmacht, die soll nun als sein „Ebenbild” auch das Mensch-Sein des Menschen bestimmen. Das, was das Menschsein des Menschen ausmacht, ist die Fähigkeit zu lieben. Zu lieben aus bewusster Hingabe an ein Du. Zu lieben, auch wenn es für das eigene Ich Nachteile einbringt. Zu lieben, und koste es das eigene Leben.

Solche Liebe, die sich bewusst an ein Gegenüber hingibt, die nicht sich selbst erhöhen, sondern dem andern zur Erfüllung seines Menschseins und zur Freude am Dasein helfen will, die sich aus freiem Willen für eine Gemeinschaft engagiert und die sich sogar selbst unter Zurückstellung des eigenen kreatürlichen Lebenswillens für das Gefährdete und Verlorene einsetzen kann, um es zu retten, das ist das Göttliche, das sich im Menschsein widerspiegeln soll als sein Ebenbild und das durch den Menschen in der Schöpfung gegenwärtig und wirksam sein soll.

Das bedeutet aber: Jede lieblose Redeweise, Handlung und Haltung von Menschen, die in den Beziehungen zwischen Menschen Schaden und Zerstörung anrichtet, beschädigt und zerstört auch das Bild Gottes in der Welt. Wir können Gott nicht direkt irgendeinen Schaden zufügen; er ist Gott und wir sind nur Menschen. Aber wenn wir einem Mitmenschen Schaden zufügen, dann wird das Ebenbild Gottes beschädigt, und damit indirekt Gott selbst. In jeder Stunde, die vergeht, wird millionenfach durch das Leben, Reden und Handeln von Menschen das „Bild“ Gottes, (sein Name, sein Ansehen, seine Achtung und Ehre) verfremdet, verleumdet, entstellt. Ja mehr noch: Es wird das innerste Wesen Gottes, das die Liebe ist, in seinem Ebenbild verdunkelt, beschmutzt, verwüstet, zerstört. Das ist die vierte Dimension der Schuld. Schuldhaft böses Denken, Reden und Tun unter den Menschen fügt Gott Schaden zu, indem es das Menschsein, also Gottes irdisch-wahrnehmbares „Bild“, beschädigt. Und auch das hat Konsequenzen. 

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2 Die Last der Schuld

Ich will noch einmal einen bildhaften Vergleich verwenden, um das Gemeinte zu verdeutlichen: Ein Wanderer hat einen prall gefüllten Rucksack auf dem Rücken, einen Rucksack allerdings mit einer besonderen Eigenart: Dieser Rucksack ist so gebaut, dass der Träger, wenn er ihn einmal auf dem Rücken hat, selbst dessen Verschluss nicht mehr erreichen kann. Er könnte zwar immer neue Inhalte in den Rucksack hineinstopfen, aber abnehmen und ausleeren könnte er ihn nicht. Der „Inhalt“, den der Rucksackträger selbst angesammelt hat (wir nennen diesen Inhalt die „Schuld“), hätte in diesem Gleichnis noch eine ganz besondere Eigenschaft: Er bestünde aus einem Material, das sich im elektromagnetischen Kraftfeld des Sonnenlichts immer stärker auflädt und erhitzt (ähnlich wie bei einem Mikrowellenherd, wo die Speisen im unsichtbaren Kraftfeld der Mikrowellen erhitzt werden), so dass der Inhalt allmählich glühend heiß wird, ja schließlich verdampft und sich auflöst. Solange der Wanderer im Schatten des Waldes bleibt, scheint das nicht weiter schlimm, er spürt zwar das immer drückender werdende Gewicht auf seinem Rücken, aber er hat sich daran gewöhnt, es zu ertragen. (Es gibt ja viele Menschen, die sich lieber im Dunkel oder Halbdunkel ihres schuldbeladenen Lebens aufhalten, anstatt danach zu fragen, wie sie ihre Last wieder loswerden könnten.) Wenn der „Wanderer“ aber in das helle Sonnenlicht tritt, beginnt der Inhalt seines Rucksacks sich immer mehr zu erhitzen. Wenn nun sein Träger diesen nicht rechtzeitig abnehmen und loswerden könnte, so würde die entstehende Glut auch ihn beschädigten, ja er müsste schlimmstenfalls mit verbrennen und verglühen.

Aber was ist das für ein Licht oder „Kraftfeld“, das unseren schuldbeladenen „Rucksack“ so sehr zum Glühen bringt, dass er seinen Träger mit zu verbrennen droht? Die Antwort ist überraschend: Es ist das Licht und das Kraftfeld der Liebe Gottes. Der Liebe?? Ja, das Kraftfeld einer ausnahmslos alle Menschen umfassenden, unendlichen, glühenden Liebe. Eine echte Liebe könnte es ja niemals zulassen, dass irgendetwas Böses, also Liebloses, schuldhaft Ungutes und Zerstörendes sich für immer im Menschsein festsetzt, sich einnistet und ausbreitet. Nein, es ist unmöglich, es ist wirklich völlig unmöglich, dass im Kraftfeld der Liebe Gottes etwas Boshaftes, etwas absichtlich Not, Leid und Schmerz Verursachendes bestehen bleiben kann!

Hier und heute, in der begrenzten Zeitlichkeit des irdischen Lebens, gibt es immer gleichzeitig beides, richtig und falsch, gut und böse als Möglichkeit und Herausforderung zur Entscheidung und Bewährung. Das ist das Geheimnis unserer irdischen Gegenwart, dass es hier immer und überall die Möglichkeit zum Guten und zum Bösen gibt und wir uns entscheiden müssen, jeden Tag hunderte Male, im Kleinen und im Großen. In der Ewigkeit bei Gott aber kann und darf es diese Mischung und Gleichzeitigkeit von gut und böse nicht mehr geben, seine Liebe duldet keine Lieblosigkeit, keine Bosheit, keinen Betrug, keinen Hass, keine Gewalttat. Im Kraftfeld der Liebe Gottes kann und soll der Mensch zuerst eine irdisch vorläufige und noch unvollkommene Bleibe finden und dann eine himmlisch-ewige und vollkommene Heimat, in der ihm nichts Böses mehr etwas anhaben kann. Wenn nur dieser „Rucksack“ nicht wäre!

Die Belastung durch den immer schwerer werden „Rucksack“ der Schuld könnte ja nur erleichtert werden, indem sein Inhalt (die Schuld) aus ihm entfernt würde. Je näher wir der Glut der Liebe Gottes kommen (und spätestens in unserer Todesstunde werden wir ihr sehr nahe kommen müssen), desto totaler muss das schuldhaft Böse unseres Lebens im Kraftfeld dieser Liebe verbrannt werden. Wie sollte auch etwas schuldhaft Böses in der Ewigkeit bei Gott bestehen bleiben? Der Tod ist so etwas wie die Dedektor-Schleuse am Flughafen, durch die die Fluggäste hindurchgehen müssen, um sie auf sicherheitsrelevante Gegenstände zu durchleuchten. Und alles, was gefährlich sein könnte (Waffen, Sprengstoff …) muss aus den Taschen herausgehommen und abgegeben werden. Und das ist ja gut so, denn dann können diese Dinge kein Unheil mehr anrichten.

Gott ist unbegrenzte Liebe und Güte und Kraft. Alles Böse (damit wir nichts missverstehen: Das Böse, das Menschen tun, nicht die Menschen selbst, auch nicht, die Böses getan haben) alles Böse muss in der Nähe Gottes vergehen, muss im Glanz seiner Heiligkeit und in der Energie seiner Schöpfungsmacht zunichte werden (einer Energie, die ausreichte, im Tausendstel-Bruchteil einer Sekunde im sogenannten „Urknall“, ein ganzes Universum zu erschaffen)! Es kann ja nicht sein, dass in der Nähe Gottes, der ganz Liebe ist, etwas bewusst und aktiv Böses existieren und bestehen bleiben kann. Das geht nicht. Es muss im Licht seiner Heiligkeit und seiner Liebe verglühen und sich in Nichts auflösen, und nur so kann ja die Ewigkeit bei Gott ein vom Bösen unbelasteter Zeit-Raum sein – und bleiben. Eine Person aber, die das Böse an sich gerafft und an sich gebunden hat und in dem Rucksack seiner Schuld mit sich herumträgt und es nicht mehr loswerden kann, müsste es mit in die Vernichtung reißen. Nicht weil Gott strafen und vernichten will, sondern weil Gott Gott ist und in seiner Nähe nichts Böses bleibend existieren kann.

Nun muss aber der Mensch, jeder Mensch, genau auf dieses Kraftfeld zugehen, auf das Kraftfeld der Liebe Gottes, denn nur dort ist ein Raum, wo er auf Dauer und in Frieden leben könnte. Spätestens bei seinem Sterben muss er auf das Kraftfeld der Liebe Gottes zugehen, weil er ja nun keine Lebensmöglichkeit in diesem irdischen Dasein mehr hat und weil die Liebe Gottes ihn ruft – wenn nur der Rucksack mit seinem immer heißer glühenden Inhalt nicht wäre! Aber er kann ihn nicht loswerden, denn er kommt an den Verschluss nicht heran! Die einzige Möglichkeit, die einzige Rettung wäre, wenn jemand anders ihm den Rucksack abnehmen würde, dann würde zwar die Schuld seines Lebens verglühen (Endlich! Gott sei Dank!), er selbst aber wäre gerettet. Das könnte, soweit es sich um Schuld an einem Menschen handelt, eben jener Mit-Mensch sein, dem man Unrecht angetan hat, und, soweit es sich um Schuld an Gott handelt, Gott selbst. Und beide kann man nicht zwingen, nur bitten.

Nein, der Mensch kann sich nicht selbst entlasten vom „Rucksack“ seiner Schuld, er kann sich nicht selbst „entschuldigen“, nicht von seiner Schuld gegenüber anderen Menschen und nicht von seiner Schuld gegen Gott.

Die Unmöglichkeit, unseren „Rucksack“ loszuwerden, würde bedeuten, dass der mit Schuld belastete Mensch nie mehr in die Nähe Gottes, nie mehr in den Lebensraum seiner Liebe kommen, niemals in das reine Licht der Güte Gottes treten könnte. Er bliebe im Leben und Sterben, in Zeit und Ewigkeit für immer ausgeschlossen von der Erfahrung der alles erneuernden, alles wiederherstellenden Liebe Gottes und er bliebe für immer eingeschlossen in die Erfahrung der alles zerstörenden, alles vernichtenden Gewalt des Bösen. Es sei denn, es wäre möglich, die Bindungskraft des Egoismus, der durch ichsüchtiges Handeln das Böse an die Person gebunden hat, wieder zu lösen, die Person des Menschen wieder von den Rückständen der Schuld zu trennen, sie aus seinem Ich herauszulösen, und den Menschen von seiner Schuld zu er-lösen. Solche Erlösung geschieht durch Vergebung.

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3 Das Geheimnis der Erlösung

Für Gott gilt das Gleiche, was wir im Themenbeitrag „Vergebung und Erlösung“ von der Vergebung durch Menschen gesagt haben: Auch bei Gott ist Vergebung nur möglich, wenn er den Schmerz annimmt, der ihm zugefügt wurde. Jede Lieblosigkeit seiner Menschen-Geschöpfe fügt Gott, dem Schöpfer, der selbst ganz Liebe ist, eine Wunde zu. Und nur wenn Gott diese Verwundung zulässt, und er den Schmerz annimmt, und er damit dem Schuldigen die Schuld nicht zurückgibt und nicht zurechnet, nur dann kann der Schuldige von seiner Schuld wieder er-löst werden. Gott unterscheidet und scheidet im Vorgang der Vergebung zwischen dem Bösen, das er hasst und dem Täter des Bösen, den er trotz allem liebt und der wieder frei werden soll von den Folgen seiner Tat und seines Verhaltens.

Nein, auch Gott kann und will nicht durch ein billiges „Schwamm drüber“ Schuld ungeschehen machen. Unsere Schuld kann nicht einfach auf dem Müllhaufen unserer Lebensgeschichte „entsorgt“ werden. Schuld vergeben bedeutet auch für Gott, sich selbst eine Wunde schlagen zu lassen – und nicht zurückzuschlagen, obwohl er der allmächtige Gott ist! Erlösung ist auch hier Loslösung des Menschen von dem Bösen, das sein Egoismus an ihn gebunden hat. Erlösung durch Gott ist Wiederherstellung des Menschseins in seiner ursprünglichen Schöpfungswürde und Wiedereinsetzen des Menschen in seine gegenwärtige Verantwortung und zukünftige Berufung. Das gilt schon jetzt und hier in unserem irdisch-zeitlichen Leben; das gilt erst recht in der Ewigkeit bei Gott.

Und Gott lässt sich verwunden von dem Bösen, das Menschen bewusst und absichtlich einander antun, auch heute und jeden Tag, millionenfach, ungesehen, unbemerkt. Nur einmal wurde das (die Bereitschaft Gottes, sich vom Bösen verwunden zu lassen) doch auch für Menschen sichtbar (wenn sie es denn sehen wollten!): Als der Eine, in dem Gott die ganze Fülle und Kraft seiner Liebe Mensch werden ließ, Jesus, der Jude aus Nazareth, der Gesalbte und Gesandte Gottes, als der von Menschen verurteilt und geschlagen und gefoltert und auf grausamste und erbärmlichste Art hingerichtet und zu Tode geschunden wurde. Da wurde es einmal (in einem Wimpernschlag der Weltgeschichte) sichtbar, wie sehr jeden Tag (seit Jahrtausenden jeden Tag!), die Liebe Gottes von Menschen angegriffen und verwundet wird. (Siehe dazu auch den Beitrag „Warum musste Jesus am Kreuz sterben?“ zum Thema „Gesetz oder Liebe?“)

In Jesus war ja die Liebe Gottes selbst Mensch geworden: zurechtbringend, helfend, heilend, tröstend, vergebend, erlösend  – Gottes wahres „Ebenbild“ im Menschsein. Und: Gott hat es zugelassen und angenommen, dass Menschen seine menschgewordene Liebe abgelehnt, verurteilt und zu Tode gequält haben. Die Liebe Gottes hat im Sterben Jesu am Kreuz den Stachel des Todes im eigenen Innersten stecken lassen, hat leidend und sterbend vergeben, damit die Todesschuld der Menschen, wenn sie ihn um Vergebung bitten, getilgt und beseitigt werden kann und die Täter, erlöst von ihrer Schuld, dennoch zu ihm kommen können.

Ja, Gott ist bereit, alle Schuld zu vergeben, alle Wunden und allen Schmerz zu ertragen, die wir ihm zugefügt haben, wenn wir ihn ehrlich und ernsthaft darum bitten. Das Entscheidende dabei ist: Die Person des Täters wird durch dieses Geschenk der Vergebung von seiner Tat entbunden (eine „Ent-Bindung“ die neues Leben gebiert), der „Rucksack“ der Schuld wird gelöst und abgenommen. Der Mensch wird von dem Bösen, das sein Egoismus an sich gerissen und an sich gebunden hatte, wieder getrennt; er ist frei, frei für das Leben im Nahraum der Liebe Gottes.

Noch einmal: Vergebung von Unrecht und Erlösung von der Last der Schuld ist nicht einfach ein Auslöschen („Schwamm drüber“), sondern sie ist nur möglich, wenn das Opfer den Schmerz annimmt, der ihm zugefügt wurde, und dann dem Täter über den trennenden Graben des Schmerzes hinweg die Hand reicht und ihn frei spricht von seiner Schuld. Das gilt für die Menschen und ebenso auch für Gott.

Dabei steht fest: Gott selbst hat unser Unrecht vergeben, die Schuld gelöscht. Aber wie groß, wie unermesslich groß ist das Unrecht und wie schwer die Last der Schuld, die Menschen einander, einer dem andern antun! In einer Welt voller Lüge und Betrug, Unrecht und Ausbeutung, Folter und Mord, Gewalt und Krieg! Und wie groß sind die Berge von Schuld, die unter den Menschen nie vergeben wurden!  Die Schuld von Menschen an seinen Mit-Menschen kann ja nur von den Menschen vergeben werden, die an den Folgen dieser Schuld zu leiden haben. Alles andere wäre nur Spielerei. Bestenfalls Symbolhandlung ohne Wert.

Was aber, wenn diese zwischenmenschliche Vergebung nicht geschieht? Was wird, wenn Menschen einander nicht vergeben wollen (oder auch gar nicht mehr vergeben können, weil sie nicht mehr am Leben sind), obwohl Gott selbst den Anteil der Schuld, die an ihm begangen wurde schon längst vergeben hat? Wäre dann doch alles verloren (denn das Böse, das wir Menschen angetan haben, kann ja nur von Menschen vergeben werden)?

Ob auch die Menschen, denen wir Böses angetan haben, zur Vergebung bereit sind, das kann man nur erfahren, wenn man eben jene Menschen um Verzeihung bittet. Menschen können die Zeit ihres irdischen Daseins nicht durchleben, ohne aneinander schuldig zu werden. Deshalb gehört es zu den höchsten und wichtigsten Aufträgen jedes Menschenlebens, in der Kraft der Liebe Gottes Schuld zu vergeben, und so das Böse zu entmächtigen, das ihm von Mitmenschen angetan wurde. Nur so kann – im Einzelnen wie im Ganzen des Menschseins – die Menschlichkeit erhalten bleiben. Vergebung unter Menschen, das ist ein entscheidender Ausdruck unserer Gott-Ebenbildlichkeit!

Jesus leitet seine Jünger im Vaterunser an, so zu beten: „…Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, und er fährt fort (Mt 6, 14-15): „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“. Wenn wir das ernst nehmen, dass Gott nur dann vergeben kann und will, wenn die Menschen ihre gegenseitige Schuld schon vergeben haben, dann ist, trotz der grenzenlosen Vergebungsbereitschaft Gottes, alles verloren. Es sei denn, Gott wüsste in seiner grenzenlosen Liebe auch in dieser Ausweglosigkeit noch einen Weg, der zur Erlösung führt. Und dieser Ausweg sähe so aus:

Es müsste einen Menschen geben, der so vollkommen von der Liebe Gottes erfüllt wäre, dass er bereit sein könnte, sich (wie Gott) von der Schuld der Menschen (aller Schuld aller Menschen) verwunden zu lassen – nicht theoretisch oder theologisch, sondern wahrhaftig, ganz real von der Bosheit der Menschen verhöhnt und geschlagen, blutend zum Hinrichtungsplatz getrieben, angenagelt und nackt zur Schau gestellt, in stundenlangem, wahnsinnigem Schmerz mitleidlos zu Tode gequält. Und der (wie Gott) die Menschen trotzdem liebt und ihnen trotzdem vergibt.

Die Liebe Gottes wusste auch in dieser Ausweglosigkeit noch einen Weg, denn die Liebe ist stärker als alles Böse und jede Schuld: Gott ließ seine göttliche Liebe (und die ist das innerste „Wesen“ seines Gott-Seins) Mensch werden in dem Juden Jesus aus Nazareth in der römischen Provinz Judäa vor zweitausend Jahren. Jesus war eben nicht irgendein Mensch, sondern „der Mensch“, die menschlich wahrnehmbare „Verkörperung“ all dessen, was das Gott-Sein Gottes ausmacht, das vollkommene Ebenbild Gottes, also das Menschsein, so wie es ursprünglich vom Schöpfer gemeint und gewollt war.

Jesus war und ist der Mensch, der selbst unbelastet war von eigener Schuld und deshalb uns entlasten kann von der Last unserer Schuld, indem er sie selbst auf sich nimmt – aus göttlicher Liebe. Durch ihn kann auch noch die Schuld, die Menschen einander nicht vergeben können (oder wollen) erlöst werden. Jesus, der Mensch, in dem die Berufung des Menschseins, Ebenbild der Liebe Gottes zu sein, zur vollkommenen Erfüllung gekommen ist, hat das Böse, das Menschen anderen Menschen zufügen, auf sich genommen (nicht theologisch-theoretisch, sondern ganz real und blutig) und hat es erduldet bis zum Ende, bis „zum Tode am Kreuz“ und gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Die Liebe Gottes, die in Jesus, seinem Messias, Mensch wurde, ist der Schlüssel für unseren prall gefüllten „Rucksack“ der Schuld mit allen seinen schlimmen Inhalten, jedenfalls für den Anteil, der in den zwischenmenschlichen Beziehungen noch nicht vergeben ist (die Schuld in unserem Verhältnis zu Gott hat der ja schon längst vergeben, wir müssen diese Vergebung nur noch annehmen). Am Kreuz von Golgatha war Jesus Stellvertreter der ganzen leidenden Menschheit und zugleich auch Stellvertreter und vollkommenes Ebenbild der Liebe Gottes. In seinem Leiden und Sterben kann auch noch alle Schuld, die Menschen einander nicht vergeben wollen oder können, ent-schuldet werden: „Kommt her zur mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken (will euch Ruhe geben, entlasten und befreien).“ So können wir, wenn wir diese „Entlastung“ durch Jesus annehmen, unbelastet von aller Schuld in die himmlische Ewigkeit bei Gott kommen und dort leben und bleiben. Allerdings: Unbelastet in der irdischen Zeitlichkeit (ganz konkret und real im alltäglichen Miteinander) können wir nur dann leben, wenn wir Menschen uns untereinander vergeben. Vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus (Eph 4, 32).

Aber, kann es so etwas wirklich geben: „Stellvertretende Vergebung“?

Wir sagen: „Gott wurde Mensch“, und wir haben dann oft so etwas wie einen verkleideten „Übermenschen“ vor Augen, der sich tarnt und so tut, als wäre er ein Mensch wie wir. Etwa wie ein absoluter Monarch,der sich inkognito unters „gemeine Volk“ mischt, um zu sehen, wie es da zugeht. Nein, Jesus war kein als Mensch verkleideter Gott und kein als Gott verkleideter Mensch. „Gott ist Liebe“, damit ist alles Wesentliche über Gott ausgesagt. Und in Jesus ist diese Liebe, die das Gott-Sein Gottes ausmacht, im Menschsein vollgültig gegenwärtig. „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Joh 14, 9). Genauer kann man die Berufung des Mensch-seins (jeden Menschseins!) nicht beschreiben. Im Leben Jesu, in seinem Reden und Handeln, in seiner Liebe zum Vater und in seiner Liebe zu den „Nächsten“ denen er begegnete, ist die Menschheitsberufung, Ebenbild Gottes zu sein, zur vollkommenen Erfüllung gelangt. Jesus ist „wahrer Mensch“, weil er durch die vollkommene Liebe diese Menschheitsberufung verwirklicht, und er ist „wahrer Gott“, weil durch ihn, mitten im Menschsein, ein vollkommenes Bild der Liebe, die das innerste Wesen Gottes ist, vergegenwärtigt wird. Die Liebe Gottes kam zu den Menschen, d.h. sie wurde „menschlich“, damit, durch die Liebe, das Menschsein (und mit ihm die ganze Schöpfung) zu Gott kommen, d.h. „göttlich“ werden kann.

In Jesus ist die Liebe Gottes Mensch geworden; und er, der ohne Schuld ist, hat es angenommen, dass alles Leid, das Menschen schuldhaft einander zufügen, ihn schmerzt. Und sterbend im Foltertod am Kreuz sagt er: Vater, vergib ihnen. Und Gott erhört diese Bitte und er löscht auch noch die Schuld, die unter Menschen nie vergeben wurde. (Und manchmal, selten genug, aber manchmal doch, kommt es vor, dass Menschen auch heute Schuld, die Menschen einander nicht vergeben wollen, auf sich nehmen und es zulassen, dass sie auch ihnen selbst Schmerz zufügt, und um Vergebung bitten, obwohl sie selbst nicht die Täter waren.)

Freilich ist solche Vergebung und Erlösung keine Kleinigkeit, nicht für Gott, der sich von menschlicher Bosheit verwunden lässt, obwohl er Gott ist, und nicht für für uns Menschen. Es möge doch jeder einmal für sich bedenken, was es seit Kindertagen an Bösem in seinem Leben gab, das er/sie bewusst getan oder zugelassen hat, jede Situation in all den Jahren, wo man sich bewusst für das Böse und gegen die Liebe entschieden und gehandelt hat: Jede Lieblosigkeit, jede verweigerte Hilfe, jede Untreue, jede Unehrlichkeit, die einem andern schaden sollte, jede Beleidigung, jede Misshandlung, jeder Missbrauch, jede Gewalttat … Wenn das nun alles herausgeschnitten wird aus dem Filmstreifen unseres Lebens (und das bedeutet ja Vergebung), wieviel wird dann noch übrigbleiben von uns, wie dürftig und armselig würde unser Leben dann aussehen? Andererseits: Wenn all das Dunkle und Böse unseres Lebens entfernt wäre und nur noch das Gute, Hilfreiche, Liebevolle (das es ja auch gab!) wäre noch erhalten, welcher Glanz würde dann auf unserem Leben liegen? Und wenn wir uns dann noch vorstellen, was es alles an Bösem gab, das uns selbst von anderen zugefügt wurde, und wenn auch das dann alles vergeben und erlöst wäre, jede Enttäuschung, jeder Schmerz, jede Verlassenheit, jedes Unrecht, jeder absichtlich zugefügte Schmerz … und es bliebe nur noch das Schöne und Gute, das wir von Menschen erfahren haben, welches Licht und welcher Frieden würde dann über unserem Leben sein?

Und diese Vergebung und Erlösung ist geschehen. Am dritten Tage nach dem scheinbaren Triumph des Bösen, nach der Kreuzigung Jesu, wurde der Sieg der Liebe offenbar. Mit der Auferstehung Jesu bestätigt Gott sichtbar und greifbar, dass die Hoffnung auf eine endgültige Rückkehr des Menschen in die Liebesordnung des Himmels kein Hirngespinst ist, sondern dass der Weg wirklich frei ist in die Herrlichkeit der Gegenwart Gottes. Und das soll auch schon hier und jetzt, in unserem irdischen Leben sichtbar werden. Schon hier und jetzt soll eine Erneuerung des Menschseins beginnen, welche die Liebesordnung des Himmels schon im Irdischen sichtbar und erfahrbar macht („…wie im Himmel, so auf Erden“), eine Erneuerung, die allen suchenden Menschen zeigt, dass die Macht des Bösen über die Menschen gebrochen ist und die Liebe lebt.

Beachten wir aber: An mehreren Stellen warnt Jesus eindringlich vor einem allzu sorglosen Umgang mit der Last unserer Schuld. Es gibt auch ein „Zu-spät“. Es gibt auch die Möglichkeit, dass wir unversehens, ohne dass wir die Möglichkeit hatten, uns noch bewusst darauf vorzubereiten, im Licht und in der Glut der Liebe Gottes stehen und wir den Rucksack der Schuld nicht mehr rechtzeitig loswerden können (z.B. in den Texten Mt 24, 37-41 „Mahnung zur Wachsamkeit“; Mt 25, 1-13 „Von den klugen und törichten Jungfrauen“; Lk 13, 22-30 „Von der engen Pforte und der verschlossenen Tür“; Lk 19, 41-44 „Jesus weint über Jerusalem“ (die Überschriften der jeweiligen Abschnitte nach der Lutherübersetzung).

Die Liebe Gottes ist immer größer als unsere Schuld. Sie wartet (wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn) auf schuldbeladene Menschen, denn wenn sie umkehren und zu ihm kommen, so werden sie erfahren: Der Vater hat schon längst vergeben. Die Vergebungsbereitschaft Gottes hängt nicht an der Größe unserer Schuld sondern an der Echtheit unserer Umkehr. Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte (Jer 31,3). So vergibt Gott. Und so sollen auch wir Menschen uns untereinander vergeben. Und so hat Jesus, die Mensch gewordene Liebe Gottes, alle Schuld auf sich genommen, die Menschen einander nicht vergeben haben.

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Die vierte Dimension der Schuld Bodo Fiebig Version 2018-1

© 2011 Bodo Fiebig

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