Was macht man, wenn man jemandem etwas beschreiben will, von dem dieser überhaupt keine Vorstellung hat? Ganz einfach: Man beschreibt das Neue, indem man es mit etwas Bekanntem vergleicht. So macht es die Bibel Alten und Neuen Testaments an ganz vielen Stellen und auch hier auf ihren ersten Seiten. Die Bibel ist über weite Strecken eine versprachlichte Bildergeschichte. Das Bild vom „Baum“, das sie hier verwendet, will uns etwas verständlich machen, was sonst nur schwer zu erklären wäre. Sehen wir uns die entsprechenden Texte etwas genauer an. Unsere Betrachtung folgt in diesem Beitrag Vers für Vers dem Text des Alten Testaments von 1. Mose 2,9 bis 1. Mose 2, 17.
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1 Die Erkenntnis von gut und böse
2,9 Und es ließ JaHWeH, Gott, aus dem Boden wachsen jeden Baum, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
Diese wenigen Zeilen beschreiben, worin die besondere Berufung des Menschen in der Schöpfung (deren Entstehung eben beschrieben wurde) bestehen soll: Er soll die Fülle und Vielfalt des Lebens bewahren (siehe Vers 15) und er soll durch die Erkenntnis von gut und böse das Zusammenleben der Menschen im Frieden gestalten (siehe die Beiträge „Leben und Frieden / Leben und Frieden” und „Gesellschafts- und Friedensdiakonie” auf der Startseite dieses Internet-Angebots). Das bedarf allerdings einiger Worte der Erklärung und dazu müssen wir uns den biblischen Text im Einzelnen vor Augen führen: Inmitten dieses Gartens voller blühender, fruchttragender Pflanzen stehen zwei besondere Bäume, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Damit ist die Ausstattung des „Paradiesgartens“ aufgezählt:
1) Vielerlei Bäume (oder allgemein Pflanzen) mit deren Früchten. Sie deuten die Fülle des Lebens und der „Lebensmittel“ in Eden an. Und diese Fülle steht zur Verfügung, ohne dass dazu ein „beseeltes Leben“ Schmerz und Tod erleiden müsste.
2) Der Baum des Lebens
3) Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
Wir können mit Gewissheit davon ausgehen, dass auch diese beiden besonderen „Bäume“ zur guten und hilfreichen Ausstattung des Gartens Eden gehören. Gott selbst hatte sie, so lesen wir in unserem Text (siehe oben) „aus dem Boden wachsen lassen“. Diese positive Deutung liegt beim „Baum des Lebens“ nahe, aber wir werden sehen: Auch der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist nicht in erster Linie zur Versuchung da, sondern zur Hilfe für Adam und seine Nachkommen, damit sie ihrer Berufung gerecht werden können. Adam soll leben und er soll erkennen, was gut und böse ist. Wie diese „frohe Botschaft“ zur „Versuchungsgeschichte“ werden konnte, davon wird später noch die Rede sein.
Zunächst aber: Welche Realität, welcher „Schöpfungsakt Gottes“ steht hinter den Bildern von den beiden Bäumen im Garten Eden?
Eigentlich ist das ganz einfach zu verstehen: Der Baum ist immer ein Sinnbild für etwas, was aus einer gemeinsamen Wurzel wächst, das eine gemeinsame Ab-Stamm-ung hat. Beim „Baum des Lebens“ ist uns dieses Bild geläufig: Von der ersten Ur-Zelle an hat sich das Leben immer mehr verzweigt und verästelt, bis hin zu der millionenfachen Vielfalt der Arten und Formen, die wir heute kennen. Der „Stammbaum des Lebens“ und seine Entfaltung ist zwar noch nicht in allen Einzelheiten erforscht, aber doch in seinen grundlegenden Entwicklungen erkennbar (wobei die Entfaltung des Lebens wohl viel komplexer und differenzierter vor sich ging, als es sich Darwin mit seiner „Abstammung der Arten“ vorstellen konnte, und wobei offensichtlich auch noch ganz andere Vorgänge beteiligt waren als nur Mutation und Selektion, siehe das Thema „Leben und Tod“). Dieser „Baum des Lebens“ war zu der Zeit, als es den frühen Menschen gab, schon voll entfaltet. Der Mensch war ja, wie die Bibel sagt und die Naturwissenschaft bestätigt, der letzte Zweig an diesem Stamme. Diesen Lebensbaum, den Gott selbst „gepflanzt“ hatte, und dessen Entfaltung er in jeder Phase der Entwicklung sorgsam gestaltet und begleitet hatte, stellte Gott nun dem Adam vor Augen und er gab ihm den Auftrag, die vorgefundene Vielfalt des Lebens in Eden zu pflegen und zu bewahren.
Beim „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ ist uns dieses Bild nicht so vertraut und wir müssen uns diese Sichtweise erst schrittweise erschließen:
Stellen wir uns frühe Formen menschlicher Gemeinschaft vor: Familien und Sippen, Horden von ein paar Dutzend Menschen, die die Wälder und Steppen auf der Suche nach jagbarem Getier und essbaren Pflanzen durchstreiften, immer den Bedrohungen durch die wechselnden Witterungen und Jahreszeiten ausgesetzt, immer in der Gefahr des Verhungerns, immer im Kampf gegen körperlich überlegene Wildtiere und konkurrierende Menschen-Gruppen. Er selbst, der Mensch, recht mangelhaft ausgestattet: nicht besonders stark, nicht besonders schnell, sehen, hören, riechen, tasten nicht so gut ausgebildet wie bei vielen Tierarten, aber klug und lernfähig.
Das Leben in einer so feindlichen Umwelt forderte alle ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten heraus. Nur durch kluge Einteilung der Kräfte und durch überlegene Strategien gemeinsamen Kampfes, bei dem jeder seine spezielle Rolle zu spielen hatte, konnte das Leben des ganzen Rudels gesichert werden. Dazu brauchten diese Lebens- und Jagdgemeinschaften aber Regeln, die ihr Miteinander so effektiv wie möglich ordneten. So entstanden, jenseits der instinktgebundenen Verhaltensmuster, erste Rudelordnungen, die den einzelnen Mitgliedern bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen zuwiesen, an die sie sich zu halten hatten. Wenn sie sich daran hielten, wurde das von der ganzen Gemeinschaft als positiv, also „gut“ gewertet und belohnt (zum Beispiel bei der Zuteilung des Beute-Anteils), wenn nicht, galt das als schädlich für die Gemeinschaft, also als „böse“ und wurde bestraft.
Ebenso wie nach und nach durch die Entwicklung von Einzellern, dann komplexeren Lebensformen und schließlich mit der Ausdifferenzierung im Pflanzen- und Tierreich eine Genealogie (eine Abstammungsfolge) der Lebens entstanden war, so entstand nun im Miteinander von Menschen-Gruppen, von Stämmen und Völkern nach und nach eine „Genealogie“ der Ideen und Werte. Das mögen anfangs nur mündlich tradierte Verhaltensregeln gewesen sein, die das Miteinander der frühen Menschen-Rudel bei der Jagd oder bei der Verteilung der Beute ordneten. Allmählich bildeten sich aber in den Sippen und Stämmen ganze Systeme von ungeschriebenen – und später auch geschriebenen – Ordnungen und Gesetzen aus, die immer engmaschiger festlegten, welches Verhalten erlaubt oder erwünscht (und damit „gut“) wäre und welches Verhalten unerwünscht, verboten (und deshalb „böse“) sei. Diese Ordnungen und Gesetze machten (und machen auch heute) einen wesentlichen Bestandteil dessen aus, was wir die „Kultur“ einer Gemeinschaft nennen. Der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ wuchs von Generation zu Generation, und im biblischen Bericht vom Garten Eden symbolisiert er die „Genealogie der Werte“, die sich bis dahin schon herausgebildet hatte. Jede Rechtsordnung und Rechtsprechung ist noch heute eine Frucht von diesem Baum. Ohne Erkenntnis von Gut und Böse ist menschliche Gemeinschaft auf Dauer nicht möglich. Gott selbst hatte dafür gesorgt, dass sie wachsen und sich verzweigen und zu einem starken „Baum“ werden konnte.
Die Parallelität der Bilder ist einleuchtend: So wie der „Baum des Lebens“ die bis dahin gewachsene Abstammung und Verzweigung der Lebensformen symbolisiert, so ist der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ das Symbol für die Abstammung und Verzweigung der bis dahin entwickelten Verhaltensregeln und Werteordnungen.
In den folgenden Versen wird die Geschichte von den „Bäumen“ im „Garten“ unterbrochen durch die nähere Beschreibung der geografischen Umfelds, in dem die Ereignisse stattfinden.
2,10 Und ein Strom war ausgehend von Eden, den Garten zu bewässern, und teilte sich von dort und wurde zu vier Hauptflüssen. 2,11Der Name des einen ist: Pischon. Er ist der Umfließende das ganze Land Hawila, wo das Gold ist, 2,12und das Gold dieses Landes ist gut. Dort gibt es auch das Bedolach-Harz und den Schoham-Stein. 2,13Und der Name des Stromes, des zweiten: Gihon. Er ist der Umfließende das ganze Land Kusch. 2,14Und der Name des Stromes, des dritten: Tigris. Er verläuft östlich von Assur. Und der Strom, der vierte ist der Euphrat.
Die Geografie von Eden hat schon viel Kopfzerbrechen bereitet. Festzuhalten ist jedenfalls, dass hier kein Märchenland gemeint ist, kein sagenhaftes „Nirgendwo“, das sich die Menschen als freundliches Gegenbild zu ihrer rauen Wirklichkeit erträumten. Die Bibel legt ganz offensichtlich großen Wert darauf, Eden als ein geografisch fest umrissenes Stück Land im Gebiet von Euphrat und Tigris zu beschreiben. Die beiden anderen Flussnamen sind möglicherweise Bezeichnungen von zwei Seitenarmen zwischen Euphrat und Tigris, die heute so nicht mehr im Gebrauch und deshalb nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind. Auch die Ländernamen Hawila und Kusch werden heute nicht mehr für Gebiete im Zweistromland verwendet und können deshalb geografisch nicht mehr genau bestimmt werden. Die Bezeichnung „Kusch“ für Nubien in Afrika ist wohl nur eine zufällige Namensähnlichkeit und hat mit dem vorliegenden Text gar nichts zu tun.
2,15Und JaHWeH, Gott, nahm den Adam und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bebauen und zu bewahren.
Bebauen (zum eigenen Nutzen) und bewahren (zum Nutzen der Natur), das ist der Auftrag des Menschen gegenüber der Natur im Garten Eden. Beides ist berechtigt und gleichberechtigt und beides gilt noch heute.
Nun ist die „Bühne bereitet, auf der das nun folgende „Schauspiel“ in Gang kommen kann. Es geht in diesem „Spiel“ um die Entwicklung einer ethischen Unterscheidungsfähigkeit und einer persönlichen Verantwortung, als Voraussetzung dafür, dass die Schöpfung gelingen und an ihr Ziel kommen kann.
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2 Ethische Unterscheidungsfähigkeit und Verantwortung
2,16Und es gebot JaHWeH, Gott, dem Adam, sprechend: Von allen Bäumen des Gartens magst du zur Speise essen.
In dem von Gott besonders zubereiteten Lebensraum „Eden“ galt nun die Lebensordnung, die am sechsten Schöpfungstag als ein Aspekt des „sehr guten“ Zieles für die gesamte Schöpfung angegeben war, nämlich, dass für den Menschen nur die Pflanzen als Nahrung zur Verfügung standen und Tiere nicht getötet werden sollten. Jetzt galt dies vorerst nur für Adam. Er sollte sich hier nur von Pflanzen ernähren, als vorwegnehmendes Zeichen für die Lebensordnung in der vollendeten Schöpfung.
So weit ist alles ganz einleuchtend, aber nun nimmt das Geschehen eine überraschende Wendung:
2,17Aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, nicht wirst du essen von ihm, denn am Tage, da du von ihm isst, zum Tode wirst du sterben!
Bis zu den hier angesprochenen Bibelstellen (1.Mose 2,9 und 2,17) war in der Bibel nie von etwas Bösem die Rede, auch nicht beim „Tohuwabohu“ des Anfangs, das wird ganz wertneutral als „Chaos und Leere“, im Sinne eines vorübergehenden Zustands in der Entwicklung des noch jungen Planeten Erde beschrieben. Aber jetzt ist etwas im Blickfeld, das ist nicht nur chaotisch, nicht einfach noch ungeordnet im Prozess des Entstehens, sondern „böse“, also „schuldhaft ungut“. Und es ist die Rede davon, dass dieses „Böse“ negative Folgen hat für den, der es tut.
Das ist nun wirklich überraschend und im eigentlichen Sinne des Wortes „frag-würdig“: Warum dürfen die Menschen im Garten Eden die Früchte vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen nicht essen? Was soll an einer Frucht so Verbotenes sein, dass ihr Genuss mit dem Tode bestraft werden müsste? Das kann doch nichts Schlechtes sein, wenn man erkennt, was gut und böse ist! Ja, Gott selbst hatte doch diesen „Baum“ gepflanzt, hatte die „Genealogie der Werte“ wachsen lassen. Er will doch, dass die Menschen wissen, was gut und böse ist. Wozu hätte er denn sonst später Gebote gegeben? Und Gott will auch, dass es eindeutig und klar ist, was in seinen Augen gut und böse ist. Jes 5,20: Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen!
Es gibt kaum etwas, was das Zusammenleben von Menschen gründlicher zerstören und nachhaltiger verwüsten kann als eine Gesellschaftsordnung, die nicht mehr eindeutig unterscheidet und klärt, was gut und böse ist. Das ist ja noch gar nicht so lange her, dass man z. B. in Deutschland Gut und Böse bewusst durcheinander brachte und den Völkermord an den Juden in Europa unter dem so sympathisch klingenden Begriff „Endlösung“ zur guten Tat erklärte, und wir kennen die furchtbaren Folgen.
Warum also das Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen und warum mitten im Paradies ein Verbot, das mit einer Strafandrohung belegt ist? War es wirklich nötig, den Gehorsam der Menschen so auf die Probe zu stellen? Wer so fragt, hat die Dramatik dieses Vorgangs nicht verstanden. Es ging um viel mehr als um eine Probe des Gehorsams. Wir wollen versuchen, uns die Zusammenhänge vor Augen zu führen, die hinter den knappen Worten des biblischen Berichts stehen und müssen uns dabei bewusst bleiben, dass wir über vorsichtige Annäherungen nicht hinauskommen.
Zunächst: Es geht beim Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, keineswegs darum, die Erkenntnis selbst zu verbieten. Es geht hier überhaupt nicht um Wissen und Erkenntnis im wissenschaftlichen Sinn; das ist hier gar nicht im Blickfeld. Der Mensch kann, darf und soll sich Wissen und Erkenntnis aneignen über die Welt, in der er lebt. Nirgendwo in der Bibel wird das in Frage gestellt.
Das hebräische Wort da’at, das hier für „Erkenntnis“ steht, hat den Bedeutungsgehalt von „Wissen, Einsicht, Unterscheidungsfähigkeit“ und die bezieht sich hier auf auf das Spannungsfeld zwischen „gut und böse“. Es geht hier also um die Fähigkeit, zu wissen, was gut und böse ist und zwischen beiden zu unterscheiden. Hier begegnet uns zum ersten Mal in der Bibel eine ethische Fragestellung und die ist mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht zu beantworten.
Aber nun zurück zum eigentlichen Thema dieses Abschnitts: Es geht um die Erkenntnis von Gut und Böse. Aber hatte Gott nicht eine Welt geschaffen, die „sehr gut“ sein sollte? Wie konnte es da etwas Böses geben?
Die Frage, woher das Böse kommt, hat die Menschheit seit Jahrtausenden bewegt. In den Mythologien der Völker hat man diese Frage meistens mit der Existenz guter und böser Geister und Götter zu beantworten versucht. Das Gute kommt von den guten Göttern, das Böse von den bösen Dämonen. Die biblische Botschaft widerspricht diesen Deutungen entschieden: Es gibt nur einen Gott, den einen, der alles geschaffen hat und alles am Leben erhält, und der will das Gute. Wie kann es aber dann etwas Böses geben? Ist Gott zu schwach, das Gute durchzusetzen und das Böse zu verhindern?
Wenn man eine biblisch begründete Antwort sucht, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Deutung: Zum Ersten kann man davon ausgehen, dass es ursprünglich nichts Böses gab, dass der Urzustand der Schöpfung nur „paradiesisch“ und „gut“ war und erst durch den „Sündenfall“ des Menschen das Böse in die Welt kam. Bei dieser Deutung kommt man aber in erhebliche Erklärungsnöte, denn lange bevor es Menschen gab, wurde auf dieser Erde gelitten und gestorben, herrschte das Gesetz von „Fressen und Gefressen-Werden“. Und das sollte durchweg „sehr gut“ gewesen sein? Oft hilft man sich dann mit der Annahme eines Ur-Sündenfalls im Himmel, wo einer der Engelfürsten gegen Gott rebellierte und infolge dieser Rebellion das Böse auf die Erde brachte und so die ursprünglich gute Schöpfung verdarb. Man muss allerdings den biblischen Texten schon etwas Gewalt antun, um sie in so eine Deutung zu pressen.
Die zweite – und hier verwendete – Deutungsmöglichkeit geht davon aus, dass das Leben geschaffen und entfaltet wurde unter den Rahmenbedingungen, die wir in der Natur noch heute vorfinden: Das Gesetz von „Fressen und Gefressen-werden“ bestimmt (nicht nur, aber doch wesentlich) das Leben (siehe das Thema „Leben und Tod“). Tierisches Verhalten folgt weitgehend den instinktgebundenen Anlagen der jeweiligen Art. Es kennt kein „Sollen“ und damit auch keine Verantwortung für sein Tun; es kann deshalb niemals „gut“ oder „böse“ sein, auch wenn der Fuchs den Hasen jagt und frisst. Der „Kampf ums Dasein“ bestimmt das Leben und der Drang zum Überleben und sich Fortpflanzen. Und der Mensch war bis dahin vollständig integrierter Teil dieser Lebensordnungen und Abläufe.
Dann aber ließ Gott, in jahrtausendelangen Entwicklungen in verschiedenen Kulturen, den „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ wachsen. Es entstanden Regeln des Zusammenlebens, die das Miteinander in einer bestimmten Gruppe von Menschen auf der Grundlage von ethischen Entscheidungen ordneten. Und daraus sollte sich schließlich eine Lebensordnung des Menschseins entwickeln, in der das Gute zur Grundlage allen Gemeinschaftslebens in der ganzen Menschheitsfamilie wird. Das Gute erkennen und tun, und das Böse erkennen und meiden, so soll sich das das Menschsein von allen anderen Lebensformen unterscheiden, und so soll die Vollendung der Schöpfung beginnen.
Ja, aber hier ergibt sich ein großes Problem, das uns heute im 21. Jahrhundert noch genau so beschäftigt, wie damals die Menschen im Garten Eden. Die Regeln und Vorschriften, die in Jahrtausenden am „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ gewachsen waren, die konnten manchmal selbst „böse“ sein (von gewalttätigen Machthabern zum eigenen Vorteil zu-Recht-gebogen), das Recht kann manchmal selbst zum Unrecht werden. Wir Heutigen kennen schreckliche Beispiele dafür. Deshalb durften die Menschen in Eden die Früchte vom Baum der Erkenntnis nicht unbesehen essen. Denn wenn der Mensch, als das einzige Lebewesen, das gut und böse zu unterscheiden vermag, das Recht zu seinem eigenen Vorteil verbiegt, wenn er es für sich als Mittel zur Bereicherung und Machtentfaltung einsetzen will, wenn er also die „Früchte“ vom „Baum der Erkenntnis“ für sich beanspruchen und für seinen Vorteil vereinnahmen („essen“) will, oder wenn er (in einem im Wesentlichen „guten“ Rechtssystem) das Gute bewusst ablehnt, verachtet, verleugnet und dem Bösen nachläuft, dann wird er sterben (so sagt es unser Text). Ja, aber nicht weil ihn Gott dann bestraft, sondern weil sich die Menschen dann gegenseitig umbringen! So geschieht es seit Jahrtausenden.
Aber: Der Missbrauch der „Erkenntnis von Gut und Böse“ macht den rechten Gebrauch weder falsch noch überflüssig. Es kommt darauf an, die „Erkenntnis von Gut und Böse“ immer wieder und immer neu zu hinterfragen, zu überprüfen und am Wort Gottes (dass Ausdruck der Liebe Gottes ist) auszurichten. Das Recht ist nicht „von Natur aus“ gut. Es muss ständig an den „Richtlinien“ des Wortes Gottes geführt und geschult werden.
Trotzdem dürfen wir das Grundsätzliche nicht aus den Augen verlieren: Das Böse erscheint im Licht der biblischen Botschaft nicht wie ein fremder Krankheits-Keim, der sich in der guten Schöpfung einnistet und ausbreitet. Sondern umgekehrt: Der Keim des Guten, der von Gott kommt, soll sich einnisten und ausbreiten in einer Schöpfung, die Gut und Böse noch gar nicht zu unterscheiden vermag. Dass dies nun geschehen kann, dazu ist der Mensch geschaffen und dazu braucht er die Erkenntnis von gut und böse. Es geht bei der biblischen Geschichte vom Garten Eden nicht um die wehmütig-sehnsüchtige Beschreibung eines verlorenen paradiesischen Urzustands, märchenhaft schön, aber unerreichbar für die Generationen nach dem „Sündenfall“, sondern um die Frage, wie das Gute und das Böse erkannt werden können und wie im Zusammenleben der Menschen das Gute gestärkt und das Böse überwunden werden kann, damals wie heute.
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Bodo Fiebig, Der Baum der Erkenntnis, Version 2017 – 12
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