Ich kann hier nicht über die Gottesvorstellungen der verschiedenen Religionen reden oder gar urteilen. Das wäre unredlich und anmaßend. Wenn ich hier über „Gott“ rede, so kann sich das nur auf meine Gottesvorstellung und meine Glaubensüberzeugungen beziehen. Und die begründen sich auf den biblischen Offenbarungen. Wenn wir aber als biblisch Glaubende über Gott reden, dann können wir der alles entscheidenden Frage nicht ausweichen: Ist der biblisch offenbarte Gott (oder: Sind die Götter …, die Frage trifft ja alle Religionen, auch wenn sie hier speziell den biblisch Gläubigen gestellt wird) … ist „Gott“ eine Realität? Oder nur menschliche Phantasie?
1 Realität oder Phantasie?
Ist Gott eine Realität, so wie Stein und Erde, Luft und Wasser Realitäten sind? Oder ist Gott eine Realität, wie z. B. radioaktive Strahlung eine Realität ist, die wir ja auch mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können, obwohl sie (die Strahlung) eine Wirklichkeit ist, die ihre Wirksamkeit entfaltet, heilend bei einer Krebstherapie und tötend bei einem Atomunfall?
Ist Gott eine Realität wie das Leben in unserer Umwelt eine Realität ist – in Einzellern, Tieren und Pflanzen (obwohl wir, auch jetzt im 21. Jahrhundert, gar nicht so genau wissen, was das eigentlich ist, das „Leben“)?
Oder ist „das Göttliche“, das wir in den Religionen der Menschheit vorfinden, vielleicht so etwas wie ein in Jahrtausenden geknüpftes (individuelles und überindividuelles, kulturelles und interkulturelles, jetzt auch globales) „neuronales Netzwerk des Glaubens“, dynamisch veränderbar und fähig zur Selbstorganisation, fein abgestimmt im Miteinander der Kulturen, aber manchmal auch dissonant und aggressiv?
Oder ist „Gott“ doch nur eine Idee von Menschen, die Gestalt angenommen hat in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte, entstanden irgendwo zwischen Wunschträumerei und albtraumhaften Angstzuständen?
Wenn wir ehrlich bleiben wollen, dann müssen wir es gestehen: Nein, Gott (und jetzt rede ich nur vom biblisch offenbarten Gott) ist keine Realität dieses unseres Universums. In keiner Weise.
Gott ist keine materielle Realität, kein „Ding“ aus Atomen und Molekülen, das mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschbar wäre, denn dann müsste man ihn durch ein wissenschaftliches Experiment nachweisen können, ein Experiment, das bei gleichen Vorbedingungen wiederholbar zum immer gleichen Ergebnis führt.
Gott ist auch keine soziale Realität, keine Institution wie ein „Staat“ oder vielleicht wie eine Universität mit allen ihren Wissens-Inhalten, Forschungs-Unternehmungen und Lehr-Vorgängen, der man mit sozialwissenschaftlichen Methoden auf die Spur kommen könnte.
Und Gott ist auch keine „Religionsinstitution“ (wie eine Kirche oder irgendeine andere Glaubensgemeinschaft) mit Geboten und Verboten, mit Ordnungen und Liturgien, mit „Amtspersonen“ und „Kirchenvolk“.
Gott ist auch keine „sinnstiftende Realität“, so wie Weltanschauungen, Ideologien und Religionen Realitäten sind mit ihrem je eigenen System von Wahrheiten, Überzeugungen und Begründungen und mit ihren Anweisungen für das Leben und Tun ihrer Anhänger.
Wir stellen fest: In allen Arten von Realität suchen wir Gott vergeblich.
Aber auch auf den verschiedenen Ebenen der Realität ist Gott nicht auffindbar:
Gott existiert nicht auf der Mikroebene des Seins, etwa als eine Art „religiöser Krankheitserreger“ im gesunden Ordnungssystem der menschlichen Vernunft. Er besteht nicht aus Atomen und Atomteilchen und die Gesetze der Quantenphysik sind für sein Gott-Sein nicht relevant.
Auf der mit menschlichen Sinnen wahrnehmbaren Makroebene unserer Umwelt suchen wir ihn vergeblich (wenn wir hier jene „Überraschungsmomente“ außer Acht lassen, wo Menschen unerwartet und oft verstörend etwas „Göttliches“ sehen, hören, spüren …, das sie sich hinterher nicht erklären können). „Gott“ ist für menschliche Sinne normalerweise nicht wahrnehmbar, und ist für menschliches Denken nicht zugänglich. Alle menschlichen „Gottesbeweise“ laufen ins Leere.
Auf der kosmischen Ebene haben schon einige der ersten menschlichen Astronauten nach ihm Ausschau gehalten und ihn nicht gefunden, und sie nahmen das stolz als Beweis seiner Nicht-Existenz. Das hat sich zwar schnell als Unsinn erwiesen, aber auch jenseits der sehr engen Kreise menschlicher „Raumfahrt“ ist Gott nicht nachweisbar: Er ist kein gleißender Stern, keine glühende Wolke interstellaren Staubes, keine Materie oder Anti-Materie und kein „schwarzes Loch“. Und in keiner der Milliarden Galaxien ist er zu Hause.
Das bedeutet: Gott ist keine Realität dieses Universums. Das schließt auch die Realität der Zeit mit ein. Jede(!) Realität in diesem Universum ist etwas in der Zeit Gewordenes und Verändertes. Nichts(!) war schon immer „da“ und war schon immer „so“. Gott aber ist keine Realität innerhalb der Zeit, also nichts im Werden und Vergehen des Universums Gewordenes und Vergehendes. Der erste Satz der Bibel beschreibt das so: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (also alles Sein). Wenn aber auch das, was wir „Zeit“ nennen, erst durch dieses „Schaffen“ Gottes entstehen konnte, (die Naturwissenschaft sagt uns, dass auch die Zeit nicht „ewig“ ist, sondern erst mit dem „Urknall“ entstand) dann kann er selbst nicht etwas „inner-zeitlich“ Gewordenes sein.
Aber wie sollen wir mit dieser Erkenntnis umgehen, wenn doch Gott erkennbar keine Realität dieses Universums ist? Sollen wir unseren Glauben jetzt auf den Abfallhaufen der Geistesgeschichte des Menschseins werfen? Nun, es hilft alles nichts: Wir müssen uns entscheiden (jeder für sich selbst und ohne letzte Sicherheit und ohne eindeutigen Beweis) und es stehen uns für diese alles entscheidende Entscheidung nur zwei Möglichkeiten zur Wahl:
Entweder: Gott ist keine Realität dieses Universums, weil er ein Nichts ist. Erfundenes Geschwätz. Leeres Gerede ohne Substanz. Märchen für Kinder, vielleicht auch für alte Leute, die Angst vor dem Sterben haben. Aber in Wahrheit: Nichts.
Oder: Gott ist keine Realität dieses Universums, weil er selbst Schöpfer dieses Universums ist und Verursacher aller Realitäten und auch der Zeit; nicht ein Teil unserer Realität, auf keiner Ebene, sondern alles in allem, überall und immer. Vor aller Realität und ebenso nach aller realen Existenz und doch Ursache und Erhalter all dessen, was real existiert, außerhalb aller Zeit und Geschichte und doch ihr Gestalter.
Das ist die Alternative; und das ist unsere Wahl. Kein Mensch wird je das Eine oder das Andere „beweisen“ können. Wir müssen uns schon selbst entscheiden. Und diese Entscheidung hat für uns selbst und unser Leben in unserer Welt, für unser Miteinander mit den Menschen in unserer Nähe und für das Leben und Überleben der ganzen Menschheit höchste Bedeutung.
2 Die Entscheidung
Die Frage nach „Gott“ entscheidet sich nicht im theologischen Denken der Menschen, sondern im alltäglichen Leben der Menschen. Deshalb gibt es hier zwei Abschnitte, die dieses Leben näher anschauen: „Der Mensch in seiner Welt“ und „Die Quelle der Menschlichkeit“.
2.1 Der Mensch in seiner Welt
Die Frage nach „Gott“ ist zunächst einmal sehr abstrakt. Konkreter wird sie für uns, wenn wir sie auf unser eigenes Leben und auf unsere Lebens-Umwelt beziehen. Stellen wir uns also der Frage, um die es hier zunächst geht: Ist diese Welt in der wir leben etwas zufällig Gewordenes oder ist sie etwas bewusst Geschaffenes? Diese Frage markiert den Unterschied zwischen biblischem und atheistischem Weltbild. Und an der Antwort auf diese Frage entscheidet sich alles. Wirklich alles!
Wenn die Welt, in der wir leben, etwas zufällig Gewordenes ist, dann existiert alles in ihr ohne Sinn und Ziel, dann ist auch unser eigenes Leben zufällig und sinnlos (denn woher sollten in einer zufällig gewordenen Welt plötzlich ein Sinn und ein Ziel kommen?). Dann lebt ein Lebewesen, ob Einzeller, Pflanze, Tier oder Mensch, solange es sich im „Kampf ums Dasein“ zu behaupten vermag und stirbt, sobald es einem Stärkeren begegnet (oder wenn die nötigen Lebensbedingungen nicht in ausreichender Weise gegeben sind); und beides, sein Leben und sein Sterben wäre völlig ohne Bedeutung.
Wenn es keinen von der menschlichen Phantasie unabhängigen Daseins-Sinn gäbe, dann gäbe es auch keine Entscheidung und keine Handlungsweise, die man „richtig“ oder „falsch“ nennen könnte (denn woher sollte in einer zufällig gewordenen Welt ein Maßstab kommen dafür, was „richtig“ oder „falsch“ wäre?), und es gäbe erst recht kein Verhalten, das man „gut“ oder „böse“ nennen könnte (denn woher sollten in einer zufälligen Welt ethische Wertvorstellungen kommen)?
Zwischenmenschliche Abmachungen (also Gesetze) über das „Richtige“ oder „Falsche“, das Erlaubte oder Verbote reichen dazu nicht aus, denn die Geschichte lehrt uns überdeutlich, dass zu manchen Zeiten und in manchen Gesellschaften die verabscheuungswürdigsten Verbrechen (gegen „die anderen“) nicht nur erlaubt, sondern von den „Obrigkeiten“ sogar gefordert und befohlen werden (in Auseinadersetzungen, Kämpfen und Kriegen). In einer zufällig gewordenen Welt kann auch der „gute Wille“ von Menschen keine allgemeingültige Ethik hervorbringen, denn was der eine für „gut“ hält, kann für einen anderen „böse“ sein.
Ob wir uns in einer zufällig gewordenen und sinnlosen Welt in einer bestimmten Situation so oder ganz anders entscheiden und verhalten würden, wäre ganz und gar gleichgültig. Oder zugespitzt personalisiert: Adolf Hitler und die Judenvernichtung in Auschwitz oder Mutter Theresa und Ihr Einsatz für die Armen und Sterbenden in Kalkutta wären in ihrer Bedeutung und ihren Wert gleich, nämlich nichts.
Wenn aber die Welt, in der wir leben, etwas bewusst Geschaffenes ist, geschaffen von einer Kraft, die für die ganze Schöpfung nicht nur einen Anfang und ein Ende bestimmt hat, sondern auch einen Sinn und ein Ziel, dann gäbe dieser umfassende Schöpfungs-Sinn auch unserem eigenen Leben eine Bedeutung, gäbe unserer Existenz einen bleibenden Wert. Dann wäre es Sinn-voll, in dieser Welt verantwortlich zu leben und zu handeln. Dann gäbe es Entscheidungen und Handlungsweisen, die man „richtig“ oder „falsch“ nennen müsste (weil sie diesem vorgegebenen Schöpfungs-Sinn entsprechen oder nicht), vielleicht sogar „gut“ oder „böse“ (siehe das Thema „gut und böse“).
Trotzdem: Wir wollen die Frage, ob diese Welt etwas zufällig Gewordenes oder etwas bewusst Geschaffenes ist, vorläufig offen lassen. Eines können wir aber jetzt schon sagen: Unabhängig davon, ob unsere Existenz in dieser Welt objektiv gesehen (falls das überhaupt möglich ist) etwas zufällig Gewordenes oder bewusst Geschaffenes wäre, so wäre es doch subjektiv gesehen für das Leben und das Zusammenleben der Menschen in höchstem Maße sinnvoll, für unser Dasein einen Daseins-Sinn anzunehmen (oder notfalls selbst einen zu erfinden!) denn nur dann, wenn unser Leben einen Sinn hat (oder wir einen Sinn annehmen und an ihn glauben), der über die bloße Daseinsvorsorge und Daseinsbehauptung hinausgeht, nur dann wären Lebensformen und Handlungsweisen möglich, die man „menschenwürdig“ und „verantwortungsvoll“ nennen könnte (wobei die Maßstäbe dafür, was wir „menschenwürdig“ und „verantwortungsvoll“ nennen wollen, hier noch im Dunklen bleiben, wir werden aber noch darauf zurückkommen). Freilich würden (so lehrt uns die Menschheitsgeschichte) solche menschengemachten Sinn-Deutungen auf Dauer immer an den individuellen und kollektiven Egoismen eben dieser Menschen scheitern.
Ohne menschenwürdige und verantwortungsvolle Lebensformen und Handlungsweisen aber wären unser Leben und Zusammenleben dem „Kampf ums Dasein“, dem Gesetz von „fressen und gefressen werden“ und dem „Recht des Stärkeren“ hilflos und unentrinnbar ausgeliefert. Das heißt: Religion als Sinn-Hintergrund des Daseins wäre auch dann noch „sinnvoll“, wenn unsere Welt tatsächlich etwas zufällig Gewordenes wäre! Aber ist sie das denn?
Wir wollen uns bei der Antwort auf diese Frage nicht vorschnell festlegen. Dass der Mensch nach Sinnerfüllung für sein Dasein sucht, ist unbestreitbar; ob er dabei nur seine eigenen Wünsche und Ängste nach außen projiziert, ist (wissenschaftlich gesehen) ungewiss. Gehen wir also der Frage nach dem Sinn des Daseins ein Stück weit nach, aber nun gewandelt in die Frage, welche realen Auswirkungen die beiden oben genannten Alternativen (Attheismus oder Schöpfungsglaube) im realen Leben hätten. Wir werden sehen: Aus beiden, dem biblischen oder dem atheistischen Weltbild (oder dem Weltbildern der verschiedensten Weltanschauungen und Religionen) ergeben sich Konsequenzen (siehe das Thema „Die Ethik des Atheismus”, Beitrag 3 „Evolution oder Menschlichkeit?”). Folgen wir hier den beiden Alternativen „biblischer Glaube oder Atheismus“ im Nachdenken bis zum Schluss und entscheiden uns dann, welcher von ihnen wir im tatsächlichen Leben und in konkreten Entscheidungs-Situationen wirklich folgen wollen, weil sie uns ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
2.2 Die Quelle der Menschlichkeit
Was ist typisch „menschlich“? Was macht den Menschen zum Menschen? Seine überlegene Intelligenz? Seine sprachlichen Fähigkeiten? Seine technischen Errungenschaften? Seine sozialen Organisationsformen? Das alles gehört auch dazu; das Entscheidende ist es aber nicht, denn all das kann offenbar auch für extrem menschenunwürdige Ziele und Vorgehensweisen eingesetzt werden: Zu bestimmten Zeiten in bestimmten Gruppen und Völkern haben Menschen ihre ganze Intelligenz, alle ihre Fähigkeiten und Begabungen, ihr Wissen, ihre Fantasie, die Macht ihrer Sozialsysteme… dazu verwendet, um damit Vorhaben durchzusetzen und auszuführen, die man im Nachhinein „unmenschlich“ oder „bestialisch“ nennt, obwohl man damit auch der reißendsten Bestie großes Unrecht antut. Kein Raubtier wäre zu Handlungsweisen fähig, wie sie z. B. in den Vernichtungslagern der Nazis in Deutschland, in den „Arbeitslagern“ des Stalinismus in der Sowjetunion oder in den „Umerziehungslagern“ im maoistischen China millionenfach angewendet wurden und die Millionen Menschen das Leben kosteten (oder wie man sie heute z. B. in Rekrutierungslagern für Kindersoldaten oder in den Terrorcamps und Folterkellern der Gegenwart plant und durchführt).
Der Mensch wird zum Ungeheuer, wenn er die Instinkte aus dem „Kampf ums Dasein“ mit den Möglichkeiten seines wissenschaftlich-technischen „Know-how“ verbindet und wenn er dabei die natürlichen Tötungs-Hemmungen ersetzt durch Vorstellungen von eigener Überlegenheit und fremder Minderwertigkeit. Wir nennen solche Handlungsweisen gern „unmenschlich“, aber wer könnte uns denn sagen, welches Verhalten „menschlich“, also dem Menschsein angemessen wäre, wer hat einen Maßstab, mit dem sich „Menschlichkeit“ messen ließe? Oder sind etwa doch Gewalt, Mord und Krieg typisch „menschliche“ Verhaltensweisen?
Woher sollte denn eine „Ethik der Mitmenschlichkeit“ kommen, die alle Menschen und alles Leben einschließt, woher sollte sie ihre Maßstäbe nehmen? Nennt nicht der Eine gut, was der andere als böse empfindet? Misst nicht jeder, was gut oder böse sei am eigenen Vorteil? Wie konnten überhaupt gemeinsame ethische Einstellungen entstehen? (Siehe das Thema „Adam, wer bist du?“ Beitrag 2 „Die ethische Revolution des Lebens“)
Ob es den Atheisten unserer Tage gefällt oder nicht: Die Anstöße für eine Ethik, die über den eigenen (individuellen oder kollektiven) Vorteil und Nutzen hinausweist, kamen alle aus religiösen Impulsen (auch wenn manche davon später von atheistischen Ideologien aufgegriffen und abgewandelt wurden). Das „Gesetz“ des Atheismus (der Gott-losigkeit) das davon ausgeht, dass alles Leben im „Kampf ums Dasein“ entwickelt und geformt wurde, könnte nur eine „Ethik“ der (individuellen und kollektiven) Selbstbehauptung auf Kosten der jeweils „anderen“ hervorbringen, denn jeder Impuls, einem anderen, Schwächeren, beizustehen, würde ja im Konkurrenzkampf der Evolution die eigenen Überlebenschancen mindern.
Aber kann denn „Religion“ Maßstäbe für eine Ethik umfassender Mitmenschlichkeit aus dem Nichts herbeizaubern? Nein, natürlich nicht. Wenn Religion nur menschliche Kulturleistung wäre, bliebe auch sie im Spiegellabyrinth des Egoismus gefangen. Gehen wir also der Frage nach, woher die Grundlagen einer Ethik der Mitmenschlichkeit kommen, denn es gibt sie ja offensichtlich, auch wenn sie nicht überall angewandt wird.
Zwar scheint es auf den ersten Blick so, als ob jene „Macht“, die alles geschaffen hat, den Kräften der Natur (und die schließen notwendigerweise auch Leid und Tod mit ein) bewusst freien Lauf lässt, in Wahrheit aber ist sie es, die dafür sorgt, dass Menschen inmitten von Leid und Tod leben können und manchmal auch Freude und Glück erfahren (siehe auch das Thema „Die Frage nach dem Leid“).
Gott hebt dabei die Naturgesetze (die er selbst geschaffen hat) normalerweise nicht auf, aber er nutzt die Variationsbreite ihrer Wirkungen und die Spielräume ihres Zusammenwirkens, um den Menschen seine helfende Gegenwart inmitten allen Mühens und Leidens doch erfahrbar zu machen. Zu den Grundtatsachen des Lebens und des Menschseins gehören neben allem Belastenden eben auch Erfahrungen von Bewahrung, Begleitung und Geborgenheit in der Gegenwart einer lebenserhaltenden, lebensfördernden, wohltuenden Kraft. Und es sind eben diese Erfahrungen mit der Gegenwart, Zuwendung und Liebe Gottes, die zu einer Quelle normativer ethischer Kraft werden und zu einer Ethik umfassender Mitmenschlichkeit führen können (siehe dazu auch den Beitrag „Grundfragen des Glaubens“ zum Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“, dort werden die Hintergründe und Zusammenhänge ausführlicher dargestellt). Hier seien einige solcher Erfahrungen genannt:
Trotz der Mühsal, der Natur das Lebensnotwendige abzuringen, machten Menschen schon in frühesten Phasen ihrer Entwicklung auch Erfahrungen der Versorgung mit allem Notwendigen. Sie machen Erfahrungen mit der Natur als nährenden und schützenden Lebensraum trotz aller Gefährdung durch ihre unkontrollierbaren Bedrohungen und Gewalten. Sie machen Erfahrungen von Freude und Zufriedenheit trotz aller Entbehrungen und Gefahren.
Sie machen Erfahrungen von Ordnung und Zuverlässigkeit in der Natur (dass auch nach der finstersten Nacht die Sonne wieder aufgeht, dass nach jedem Winter wieder ein Frühling kommt, dass nach jeder Trockenzeit wieder der lebenspendende Regen fällt …) inmitten einer ständig und unberechenbar sich verändernden Umwelt.
Sie machen Erfahrungen von Erneuerung des Lebens inmitten der Allgegenwart von Vergänglichkeit und Tod. Sie machen Erfahrungen von unerwarteter Bewahrung und Errettung in Situationen mit aktueller und existenzieller Gefährdung.
Menschen machen Erfahrungen von Freude mitten im Schmerz, von Gelingen mitten im Versagen, Erfahrungen von unerwarteter Heilung aus schwerer Krankheit, froh machender Befreiung aus lähmender Angst, Erfahrungen von Hoffnung nach tiefer Verzweiflung, von tragendem Trost in schwerer Trauer.
Sie machen Erfahrungen von Zugehörigkeit, Nähe und Zuwendung in der Gemeinschaft trotz des Selbstbehauptungswillens jedes Einzelnen; aber auch von Geborgenheit und Schutz, wenn alle menschlichen Beziehungen zerbrochen sind. Erfahrung von Angenommensein trotz eigenen Versagens, Erfahrungen von Vergebung trotz schuldhafter Belastung der Beziehungen, von Entlastung und Neuanfang in der Gemeinschaft trotz aller menschlichen Eigenheiten und Schwächen der Beteiligten.
Sie machen Erfahrungen von einer Spur von Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit des Lebens inmitten eines unentwirrbaren Zusammenspiels von scheinbaren Zufälligkeiten.
Der Mensch weiß (wahrscheinlich als einziges Lebewesen), dass seine Lebenszeit begrenzt ist und er sterben muss. Aber dass er überhaupt Lebenszeit hat und der Tod und der Zerfall ihn eine Zeit lang nicht antasten dürfen, das erfährt er täglich aufs Neue als bewahrendes Wunder. Dass der Mensch eine Zeit lang leben kann und seine Kinder ernähren kann, und eine nächste Generation das Erbe seines Lebens weiterführen kann, das erlebt er als unbegreifliches Geschenk (und das gilt auch noch im 21. Jahrhundert).
Solche ganz realen, im alltäglichen Leben aller Völker und Kulturen gegenwärtigen Gotteserfahrungen wurden zur gemeinsamen Grundlage aller Religionen. Ja, Gott hat den Menschen schon Gutes getan, hat ihnen schon seine Liebe gezeigt, hat ihnen schon Erfahrungen seiner Nähe und Fürsorge geschenkt, bevor sie noch in der Lage waren, ein religiöses Weltbild zu entwerfen. Ja, ganz gewiss: Gott war schon vom Anfang an lebenserhaltend und fürsorgend am Werk und die Menschen haben das schon in sehr frühen Stadien ihrer Entwicklung auch wahrgenommen.
Und das hat Folgen:
Wenn Menschen über lange Zeit immer wieder die Erfahrung machen, wie eine überlegene Macht eben diese Überlegenheit nicht ausnutzte, um ihnen, den Unterlegenen, zu schaden, sondern sich ihnen liebevoll zuwandte, um in der Not zu helfen, in der Schwäche zu stärken, in der Traurigkeit zu erfreuen … dann stellt das (ohne dass den Beteiligten der Zusammenhang bewusst werden muss) die Menschen vor die Herausforderung, nun selbst gegenüber anderen, die sich jetzt in ähnlichen Notlagen befinden, genau so selbstlos, hilfreich, tröstend und stärkend (mit einem Wort: liebevoll) zu handeln.
Die Erfahrungen der Nähe und Kraft Gottes, die ihnen lebenspendend, helfend, wegweisend und sinngebend entgegenkam, hat zur Folge, dass sich Menschen nun selbst herausgefordert wissen, in der Gemeinschaft des Menschseins ebenso lebenserhaltend, hilfreich, wegbegleitend und sinnstiftend zu wirken. Positive Grundlage aller Religionen der Menschheit sind Erfahrungen mit der Hilfe und Fürsorge Gottes und die jeweils eigene selbstverpflichtende Antwort darauf. Wahre Mitmenschlichkeit ist Nachahmung der Liebe Gottes zu den Menschen.
Nun bleibt uns die Frage vom Anfang: Ist diese Welt etwas zufällig Gewordenes (also etwas Sinnloses und Zielloses) oder ist sie etwas bewusst Geschaffenes (also etwas Sinnvolles und Zielgerichtetes)? An der Antwort auf diese Frage entscheidet sich alles, denn beide Vorstellungen haben weitreichende Folgen für unser Leben, Reden und Handeln.
Mit menschlichen Mitteln beweisen kann man weder das Eine noch das Andere. Selbstverständlich kann man jetzt beginnen und alle Negativentwicklungen in der Geschichte der Christenheit aufzählen um zu beweisen, dass die Christen auch nicht besser sind als alle anderen. Und da gäbe es ja auch vieles zu nennen. Aber selbst, wenn das alles so stimmen würde, was man heute der Christenheit anlastet*, ginge es doch hier um etwas ganz anderes: Es geht um die Frage, auf welcher Grundlage und mit welcher Zielausrichtung wir heute und morgen ein menschenwürdiges und menschenfreundliches Miteinander der globalen Menschheitsfamilie gestalten können.
*siehe z. B. „Der Skandal der Skandale“ von Manfred Lütz, Herder-Verlag 2018
Sicher, man kann den Sinn (oder die Sinnlosigkeit) der Schöpfung nicht „beweisen“, aber man kann die Konsequenzen beschreiben, die in beiden Grundeinstellungen liegen: Wenn diese Welt etwas zufällig Gewordenes ist, so ist jedes Leben auf dieser Erde (ob Pflanze, Tier oder Mensch) nur sich selbst verpflichtet und der Erhaltung und Fortpflanzung seiner Art, dann sind der (persönliche und kollektive) Selbsterhaltungstrieb im „Kampf ums Dasein” und das Streben nach Erfolg, Besitz und Macht im „Kampf um die besten Plätze” die einzig gültigen Handlungsmotive, dann sind Begriffe wie gut und böse, recht und unrecht irrelevant (siehe die Themen „gut und böse” und „Die Ethik des Atheismus”). Dann ist es selbstverständlich und richtig, wenn auch unter den Menschen der Stärkere, Aggressivere gewinnt und lebt und der Schwächere, Friedlichere verliert und stirbt. (Das war im Kern die Ideologie des „Nationalsozialismus“ in Deutschland 1933-45. Adolf Hitler schreibt in seinem programmatischen Buch „Mein Kampf“ über weite Passagen von nichts anderem.)
Wenn aber diese Welt etwas bewusst Geschaffenes ist (und etwas bewusst von der Liebe Geschaffenes), dann kann die Berufung des Menschseins als „Bild der Liebe Gottes im Geschaffenen” unserem Leben und Handeln einen Sinn und einen Handlungsrahmen geben, der diese Welt zu einem Ort des (möglichen, wenn auch immer gefährdeten) Friedens macht.
Für den (biblisch) Glaubenden ist die Entscheidung schon gefallen. Für den Nicht-Glaubenden aber liegt das Entscheidungs-Kriterium in der Frage nach den Konsequenzen: „Welche von diesen beiden Grundannahmen (ist die Welt etwas zufällig und sinnlos Gewordenes oder etwas bewusst und sinnvoll Geschaffenes?) ergibt in der Konsequenz für das Leben und das Zusammenleben der Menschen die besseren Rahmenbedingungen, die menschenwürdigere Grundlage”? Wir müssen uns entscheiden (ob wir wollen oder nicht; denn wenn wir uns nicht selbst entscheiden, werden wir als willenlose „Masse“ von den Entscheidungen der anderen „mit-entschieden“). Wir müssen uns entscheiden und von dieser Entscheidung wird abhängen, ob und wie wir und die uns nachfolgenden Generationen leben können.
Allerdings (wenn wir die Offenbarung Gottes in der Bibel ernst nehmen): Gott, der Schöpfer aller Realität, ist ein gnädiger und menschenfreundlicher Gott. Er will uns mit den Realitäten dieser Welt und mit den Entscheidungen unseres Lebens nicht allein lassen. Deshalb offenbart er sich nicht nur in wohltuenden, hilfreichen, aber anonymen Erfahrungen, mitten im Alltag unserer Welt und Zeit, sondern auch, indem er sich selbst als „Person“ offenbart. Davon soll im folgendem Beitrag die Rede sein: „Der offenbarte Gott“.