Als der Apostel Paulus in Athen das Evangelium verkünden wollte, sagte er (Apg 17, 22-23): Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Denn ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: „Dem unbekannten Gott“.
Offenbar haben Menschen (hier die griechischen Philosophen in Athen) immer wieder auch Erfahrungen gemacht, die mit keiner ihrer Gottesvorstellungen zusammenzupassen schien. Deshalb bauten sie einen Altar, der nicht ihren „bekannten“ Göttern geweiht war (dem Zeus z. B. oder der Athene), sondern einem „unbekannten Gott“, den sie hinter jenen Vorgängen und Ereignissen vermuteten, die ihnen gänzlich unerklärlich vorkamen, unpassend, quer zu allen ihren bisherigen Erfahrungen mit Menschen und Göttern, „un-menschlich“ ebenso wie „un-göttlich“.
Und solche Erfahrungen machen manchmal auch biblisch gläubige Menschen, Juden und Christen. Drei solche Erfahrungen (alle aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts) will ich hier andeuten (mehr als Andeutungen werden uns da nicht gelingen).
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Beispiel 1:
„Wie kann Gott das zulassen? Warum greift er nicht ein und macht diesem furchtbaren Geschehen ein Ende?“ Diese Frage wurde und wird seit Jahrtausenden von Menschen in bedrängenden Situationen immer wieder gestellt, aber nie so eindringlich und so verzweifelt wie während der Jahre des sogenannten „Dritten Reiches“ in Deutschland, als 6 Millionen jüdische Menschen auf unvorstellbar grausame Weise ermordet wurden. Wie sollte man noch an einen allmächtigen, guten und helfenden Gott glauben können, an einen Gott, der Gebete hört, wo er doch das millionenfache Schreien der in die Ghettos Gepferchten und dort der Verelendung Preisgegebenen, der vor die Erschießungskommandos Gezerrten und in die Gaskammern Getriebenen nicht erhört hat, wo er doch all dieses furchtbare Geschehen nicht verhindert hat, ja ihm scheinbar bis zum schrecklichen Ende freien Lauf ließ?
Ja, unsere Frage muss um der Wahrheit willen noch einen Schritt weitergehen: Hat Gott den Holocaust vielleicht nicht nur zugelassen, sondern hat er vielleicht sogar selbst aktiv eingegriffen, um vieles aus dem Weg zu räumen, was den Fortgang des mörderischen Geschehens hätte hindern können? Manches scheint darauf hinzuweisen. Die Zeitgenossen Hitlers wunderten sich über dessen „Fortüne“, wie sie es nannten, sein geradezu unglaubliches „Glück“, dass ihm entgegen allen politischen Erfahrungen fast alles gelang, was er begann. Trotz seiner oft haarsträubend dilettantischen Vorgehensweisen häufte er Erfolg auf Erfolg, gelang ihm auf politischen und militärischen Gebiet nahezu alles, was die jeweiligen „Fachleute“ für unmöglich gehalten hatten. Das machte ja einen großen Teil seiner Popularität aus und das bestärkte immer wieder den Glauben weiter Teile der Bevölkerung daran, dass der „Führer“ geradezu „unfehlbar“ sei. Alle Attentatsversuche (durch die man vielleicht noch das Schlimmste hätte verhindern können) scheiterten, obwohl sie von den Beteiligten unter Einsatz ihres eigenen Lebens vorbereitet und durchgeführt wurden (siehe Beispiel 2).
Die politischen Ereignisse bis zur Schlussphase des Zweiten Weltkrieges, machen diese Frage (wenn man denn überhaupt noch an der Existenz Gottes festhalten will) drängend und bedrängend: Hat Gott den Holocaust vielleicht sogar gewollt? Diese glaubenserschütternde Frage prägt das Judentum nach dem Holocaust, bis heute. Und es gibt keine ehrliche Möglichkeit, diese Fragen zu entschärfen, sie einer irgendwie gearteten „Bewältigung“ zugänglich zu machen. (Siehe das Thema „Glauben nach dem Holocaust“, dort werden diese Fragen weitergeführt; aber es wäre ein Missverständnis, wenn man darin eine Suche nach logisch nachvollziehbaren „Erklärungen“ erkennen wollte.)
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Beispiel 2:
Am 20. Juli 1944, schon in der Endphase des zweiten Weltkrieges, versuchten eine Reihe hoher Offiziere der deutschen „Wehrmacht“ zusammen mit mehreren hohen Funktionären der Zivilgesellschaft einen Umsturzversuch, durch den die Nationalsozialistische Diktatur in Deutschland überwunden, der Krieg beendet und Friedensverhandlungen eingeleitet werden sollten. Voraussetzung dafür war, dass das Attentat auf Adolf Hitler im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg gelang. Stauffenberg konnte erfolgreich die Bombe scharf machen und sie in der „Lagebesprechungsbaracke“ in Hitlers Nähe platzieren. Und die Sprengladung zündete tatsächlich. Aber kurz davor hatte jemand die Tasche mit der Bombe (ohne zu wissen, was sie enthielt) an eine andere Stelle verschoben. Außerdem beugte sich Hitler in Augenblick der Explosion über den schweren Eichentisch mit den Landkarten. Außerdem wurde ein großer Teil der Druckwelle durch die leichte Bauweise der Baracke nach außen abgeleitet. Hitler überlebte, nur leicht verletzt. In Folge dessen brach der Umsturzversuch zusammen. In den danach folgenden Prozessen wurden Hunderte Beteiligte nach entwürdigender Behandlung hingerichtet. Viele der Verschwörer hatten aus bewusst christlicher Gewissens-Verantwortung gehandelt.
Es war nicht der einzige Attentatsversuch auf Hitler. Schon vorher waren mehrere Versuche gescheitert, die Einzelne oder Gruppen unter Einsatz ihres Lebens versucht hatten. Immer waren es banale „Kleinigkeiten“, die dafür sorgten, dass Hitler am Leben blieb. So konnten der Krieg und der Holocaust bis zum letzten bitteren Ende weitergehen.
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Beispiel 3:
Einer, der den Widerstand gegen das National-Sozialistische Regime aus christlicher Perspektive durchdacht und theologisch am gründlichsten bearbeitet hatte, war Dietrich Bonhoeffer. Er durchschaute als einer der ersten und schon lange vor der „Machtergreifung“ die verbrecherischen, ja mörderischen Motivationen hinter der „Hitler-Bewegung“. Während viele, auch hohe Würdenträger der Kirchen, der „Bewegung“ mit Begeisterung folgten, sah er schon das kommende Unheil herannahen.
Zwar konnte die „Bekennende Kirche“ gegen die Hitler-hörige „Reichskirche“ gegründet werden, aber Bonhoeffers Warnungen nahmen auch da viele nicht ernst. So suchte Bonhoeffer schließlich Kontakt mit geheimen Widerstandsgruppen, und so kam er auch in den Focus der „Gestapo“. Zwar konnte er, einer Einladung aus den USA folgend, nach Amerika ausweichen, aber schon nach wenigen Wochen im Exil beschloss er, wieder nach Deutschland zurückzukehren. In Briefen an Freunde schrieb er: „Die Dinge haben sich für mich völlig verändert. Ich kehre nach Deutschland zurück. Ich genieße hier ein paar Wochen in Freiheit, aber andererseits habe ich das Gefühl, ich muss zurück in die „Schützengräben“ (ich meine die des Kirchenkampfes)“ (Nach Eric Metaxas „Bonhoeffer“)
Nach Deutschland zurückgekehrt, engagierte sich Bonhoeffer nun zunehmend aktiv im geheimen Widerstand. Am 5. April 1943 wurde er verhaftet. Nach fast 2 Jahren Haft, und nun im Gestapo-Gefängnis, wo um ihn herum schon so viele Mitgefangene furchtbar gefoltert und schließlich umgebracht worden waren, dort, umgeben von sehr bösen Mächten, schrieb er die folgenden Verse an seine Familie und an seine Verlobte, die schrecklich litt unter der Trennung und an der Situation ihres Verlobten in ständigen Lebensgefahr:
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Von guten Mächten treu und still umgeben
behütet und getröstet wunderbar,-
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
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Noch will das alte unsre Herzen quälen
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsren aufgeschreckten Seelen
das Heil für das du uns geschaffen hast.
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Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leid, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.
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Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann woll’n des Vergangenen gedenken.
und dann gehört dir unser Leben ganz.
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Laß warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen!
Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.
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Dieses Angebot höchsten Vertrauens in tiefster Not hat Gott (so will es uns Außenstehenden scheinen) nicht angenommen: In den letzten Kriegstagen wird Bonhoeffer zusammen mit anderen Gefangenen von Berlin aus zunächst in das Konzentrationslager Buchenwald, dann in das Konzentrationslager Flossenbürg gebracht. Dass sie dort wirklich ankommen, ist im Chaos des Zusammenbruchs fast schon ein Wunder. Bei „prominenten“ Gefangenen versuchte das NS-Regime bis zuletzt einen Schein des Rechts aufrecht zu erhalten: So wurde ein „Standgericht“ organisiert, zu dem der „Sonderermittler“ und der „Richter“ anreisen mussten. Trotz des Mangels an Benzin (der Richter musste die letzten Kilometer mit dem Fahrrad zurücklegen) und gegen alle Wahrscheinlichkeit kamen alle rechtzeitig an. Die Todesurteile wurden gesprochen und am nächsten Morgen vollzogen. Der Lagerarzt sagte später aus, dass der Tod bei Bonhoeffer in wenigen Sekunden eingetreten sei. Aber Zeugenaussagen von damaligen Gefangenen ergeben ein anders Bild: „Doch wir müssen leider heute davon ausgehen, dass die Schilderung, zumindest, was die äußeren Umstände betrifft, erlogen ist. Mit der Darstellung schützte er sich wahrscheinlich selbst. Möglicherweise war es seine Aufgabe, gehängte Gefangene zwischenzeitlich wiederzubeleben und erneut hängen zu lassen um die Todesqualen zu verlängern. (…) Es steht jedoch bestimmt fest, dass die Hinrichtungen der Gruppe insgesamt ungewöhnlich lange dauerten: Von 6 Uhr früh bis gegen Mittag (Eric Metaxas „Bonhoeffer“ S. 667 und 716).
Uns Spätere, Außenstehende bleibt nur die kaum „vernünftig“ begründbare Hoffnung, dass in all dem auch der letzte Vers seines oben begonnenen Liedes für Dietrich Bonhoeffer auch noch in diesen Stunden „wahr“ wurde:
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Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.
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Bonhoeffer glaubte an einen Gott, der uns „unbekannter“, fremder, unverständlicher nicht sein könnte. Dass das Leben auf dieser Erde immer auch durch Leid, Schmerz und Tod in Frage gestellt wird, damit müssen und können wir leben (siehe das Thema „die Frage nach dem Leid“). Dass aber der Gott der Bibel, der sich als der Liebende offenbart, dem böswilligsten Bösen, den Millionen-Mördern und ihren bösesten Mordgesellen, manchmal so lange freie Hand lässt, das liegt außerhalb menschlicher Verstehensmöglichkeiten (wenn auch nicht außerhalb eines vertrauensvollen „Dennoch-Glaubens“).
Ja, es ist für gläubige Juden und Christen richtig und gut, ein nahes, kindliches und vertrauensvolles Verhältnis zu Gott zu haben. Und doch bleibt dieses Verhältnis anfechtbar, wenn es nicht auch etwas von dem „unbekannten Gott“ weiß, der uns so fern und so fremd sein kann und (vielleicht??) gerade dann ganz nahe und vertraut.
Bonhoeffer ahnte etwas davon: „Warum haben wir denn solche Angst, an den Tod zu denken? Der Tod ist ja nur furchtbar für den, der Angst hat, der ihn fürchtet. Der Tod ist nicht wild und schrecklich, wenn wir nur still sind und an Gottes Wort halten. Der Tod ist nicht bitter, wenn wir nicht verbittert sind. Der Tod ist Gnade, Gottes größte Gnade, die er den Menschen, die an ihn glauben, schenkt. (…) Wer weiß denn, dass das Sterben etwas Schreckliches ist? Wer weiß denn, ob nicht die Ängste und Nöte der Menschen nur das Zittern und Schaudern vor dem Herrlichsten, Himmlischsten, seligsten Ereignis der Welt ist?“ (Metaxas S. 666)
Könnte es sein, dass auch nicht ein Geringstes von dem Schrecklichsten, das Menschen erleiden über das hinausgeht, was Gott (der die umfassendste Zusammenschau all dessen vor Augen hat, was je in dieser Welt geschah, geschieht und geschehen wird) …, dass auch nicht ein Geringstes von dem Schrecklichsten, was Menschen erleiden, über das hinausgeht, was Gott für unabdingbar notwendig hält, damit dieses „Herrlichste, Himmlischste, Seligste“ für möglichst viele Menschen auf irgendeine Weise Wirklichkeit werden kann? (Und so ein Satz sagt und schreibt sich leicht von einem, der aktuell kein vergleichbares Leiden erdulden muss.)
Ja Gott ist (und bleibt!) auch ein unbekannter Gott. Aber trotzdem: Er will sich den Menschen bekannt machen – als Liebender. Und deshalb schenkt er uns auch viele Erfahrungen seiner Nähe und Hilfe. Und: Deshalb stellte er sich in einer bestimmten Situation der Geschichte vor mit seinem Namen. Davon wird im nächsten Beitrag die Rede sein: „Der Name Gottes“.