Glauben Christen an einen „Sonnen-Gott“? Selbstverständlich nicht. Die alten Ägypter zur Zeit der Pharaonen-Reiche glaubten (neben vielen anderen) an ihren Sonnen-Gott, der hieß Re. Auch in manchen anderen Religionen gab und gibt es eine Ver-Gottung der Sonne. Das liegt ja auch nahe, ist es ja sie, die uns Licht und Wärme gibt und das Leben auf der Erde erst möglich macht. Aber Christen glauben nicht an einen Sonne-Gott. Oder doch?
Es gibt in vielen Religionen eine enge Verbindung zwischen der Selbstdarstellung von Herrschern verschiedener Völker (deren Macht, Reichtum und Pracht man sehen konnte) und der Art und Weise wie sich eben diese Völker ihre Götter vorstellten (die sie nicht sehen konnten). So stellte man sich einen bestimmten „Gott“ vor wie einen mächtigen Herrscher, nur noch etwas all-mächtiger. Wie einen Herrscher, der ganz viel über seine Untertanen weiß (schon die Könige der Babylonier oder die Pharaonen der Ägypter hatten ihre Spitzel, die jeden ihrer Untertanen aushorchen sollten, was sie sagten, was sie taten, möglichst auch was sie dachten …), und so stellten sich die Untertanen dieser Herrscher dann auch ihre Götter vor, nur noch etwas all-wissender … Die Menschen sahen den Reichtum, Glanz und Prunk an den Herrscher-Höfen und stellten sich den Hof-Staat ihrer Götter noch etwas reicher, noch etwas glanz- und prunkvoller vor. In der Art sehr menschlich, nur in den Dimensionen übermenschlich groß.
Und dieses Phänomen gab und gibt es auch in der Christenheit: Man kann es an der Gestaltung ihrer Kirchen ablesen:
Nach den Wirren der Völkerwanderung in Europa im 3. bis 6. Jahrhundert, wo ganze Völkerschaften kreuz und quer durch Europa (und Nordafrika) zogen, auf der Suche nach Lebens-Raum und Lebens-Mitteln, auch nach Beute und Macht, da war eine große Sehnsucht nach Sicherheit entstanden, nach Beständigkeit, nach ortsfester Geborgenheit hinter starken Mauern. Und genau so gestalteten nun die Herrscher Europas ihre Burgen, Schlösser und Pfalzen: Ruhende Gegenwart, ortsfeste Kraft, starke Sicherheit hinter mächtigen Mausern aus Stein, unerschütterliche Beständigkeit im Chaos der Zeit: Im Vor- und Frühromanischen Baustil bis zu den Höchstformen der romanischen Architektur. Und genau so baute man nun auch die Kirchen: Geborgenheit hinter starken und unerschütterlichen Mauern, Säulen und Bögen. Und so stellte man sich nun auch Gott vor: Wie einen König, mächtig, unbesiegbar, der seinem Volk Sicherheit und Geborgenheit gibt in seiner Burg auf hohem Berg. „Ein feste Burg ist unser Gott“.
Ganz anders die Gotik: Gotische Herrscher-Häuser und Kirchen sind keine Wehr-Burgen. Das Eigentliche bei der gotischen Architektur sind nicht die Mauern, sondern die himmelwärts strebenden Räume zwischen den Mauern. Wesentlich sind nicht die tragenden Steine, sondern die farbig verglasten Licht-Öffnungen zwischen den Steinen. Um die Innen-Räume frei zu halten und die Außenmauern für das Licht zu öffnen, musste man die notwendigen Trag- und Stützelemente nach außen verlagern in Strebepfeilern und Strebebögen. Tausende Tonnen Stein, aufgelöst in Himmels-Schau und losgelöst von aller Erdenschwere. Und so war auch das Gottesbild in der Epoche der Gotik: Gott, hoch und erhaben, fern (so fern wie die irdischen Herrscher von der Lebenswirklichkeit ihrer Untertanen), aber für den Glauben und für Gebete erreichbar. Sein (in den gotischen Domen dargestellter) Lichtglanz wurde zum Gegenbild für die oft düstere Lebensrealität der „einfachen Leute“ in ihrer oft trostlosen Alltags-Wirklichkeit. Und so wie die Architektur die Erdenschwere überwand und mit den Himmels-Höhen in Verbindung trat, so sollte auch die Hoffnung der Gläubigen auf den Himmel und auf das Leben bei Gott alles irdisches Leiden und Sterben überwinden.
Wieder ganz anders die Barock-Architektur (die Renaissance ist hier weggelassen, sie wollte ja, von ihrer Leitidee her, eine „Wiedergeburt“ klassischer, das heißt vorchristlicher Formen sein). Bildeten in der Romanik und Gotik die Kirchen die Höhepunkte der architektonischen Entwicklung, so waren es jetzt die Schlösser. Die Schloss-Anlagen von Versailles und die Prachtentfaltung am Hofe des französischen Königs Ludwig des 14., des „Sonnen-Königs“, wurden zum Maß aller Herrlichkeit der Mächtigen für ganz Europa. Überall in Europa wurden jetzt Schlösser nach dem Vorbild von Versailles gebaut und Hof-Zeremonien nach dem Vorbild des absolutistischen Königtums eingeführt.
Die Kirchen passten sich dem an und ihre Kirchen-Bauten eiferten nun in ihrer Gestaltung und Ausstattung den Prunk-Schlössern der Könige nach. Die großen Kirchenfeste in ihrer Ausgestaltung mit Musik, Gewändern und Zeremonien, sollten den Festen des Adels in den Schlossanlagen der Könige mit ihrem Gold-Glanz von Stuck und Zier nun möglichst nahe kommen. Ja (wenn möglich), sollten sie vielleicht sogar noch ein wenig glanzvoller sein als sie: Barock-Bauten, Barock-Musik, Barock-Malerei, Barock-Zeremonie. Sogar die Klöster glichen nun grandiosen Schloss-Anlagen (z. B. Stift Melk an der Donau).
Und so, so herrlich wie den strahlenden „Sonnenkönig“ mit seinem glanzvollen Hofstaat und seinen großartigen Zeremonien in seinem prunkvollen Schloss, so herrlich, strahlend, glanzvoll, großartig und prunkvoll, so stellte man sich nun Gott vor, nur vielleicht doch noch ein kleines bisschen herrlicher, strahlender, glanzvoller, großartiger und prunkvoller …
In der Folgezeit passte sich das Gottesbild der Christen überall in Europa diesem „Vor-Bild“ an: Ihr Gott-König sollte doch, wenn möglich, noch ein wenig prächtiger sein als der „Sonnen-König“, sein Hofstaat noch ein wenig zahlreicher, seine „Adeligen“ (der Klerus) noch etwas edler, seine Verehrung noch ein wenig großartiger, die Unterwürfigkeit der „gemeinen Gläubigen“ noch etwas demütiger … Die äußerliche Vergoldung von Stuck und Zier überstrahlte den Verlust der inneren Werte des Glaubens und der Gottesdienste. In den Kirchen Europas zur Barock-Zeit zeigte sich (nicht immer und überall, aber doch maßgebend) das neue Gottesbild der Christenheit: Der „Sonnen-Gott“.
Und das Überraschende geschah nun in dieser Folgezeit: Das Gottesbild vieler Christen in Europa blieb (auch nach der „Französischen Revolution“, in der das absolutistische Königtum unterging) jahrhundertelang weitgehend auf diesem Stand stehen. Ihr Gott war bis ins 20. Jahrhundert hinein (und ist es bei manchen bis heute) der „Sonnen-Gott“, ein göttlich überhöhter Abklatsch des „Sonnen-Königs“. Nur ein Beispiel aus unserer Zeit dafür: Bei der (kirchlich zelebrierten) Krönungszeremonie des englischen Königs Charles wurde dieses barocke Gottesbild und Glaubensverständnis (einschließlich noch älterer Elemente) bis ins 21. Jahrhundert konserviert, obwohl ja dieser König als „Monarch“ in Wirklichkeit keinerlei Macht mehr hat (aber als „Show“ für das Volk ist die alte kirchlich-royale Pracht immer noch begeisternd und wirksam). Und so rückt man nun (bei besonders feierlichen Anlässen) auch den „Sonnen-Gott“ der europäischen Christenheit in die Rolle eines machtlosen Dekorations-Elements bei einer großartigen „Religions-Show“. (Das ist etwas „bissig“ formuliert, und es trifft sicher nicht die schlichten Gottesdienste der „einfachen“ Leute.)
So wurde Gott zum „Ebenbild“ des Menschen gemacht (genauer: zum Ab-Bild des absolutistischen Herrschers und seiner Macht und Pracht). Und man vergaß die biblische Menschheitsberufung, durch die der Mensch zum „Ebenbild“ Gottes werden soll (was das konkret bedeutet, davon wird noch ausführlich zu reden sein). Siehe auch das Thema „sein und sollen“.
Die Neigung, sich die Götter wie eine letzte Überhöhung menschlicher Herrscher vorzustellen, ist universell. Auch in der Bibel gibt es solche Vorstellungen. Sowohl im Alten wie im Neuen Testament findet man Beispiele dafür:
(Jes 6,1-4) In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch.
Off 4, 2-11: Alsbald wurde ich vom Geist ergriffen. Und siehe, ein Thron stand im Himmel und auf dem Thron saß einer. Und der da saß, war anzusehen wie der Stein Jaspis und der Sarder; und ein Regenbogen war um den Thron, anzusehen wie ein Smaragd. Und um den Thron waren vierundzwanzig Throne und auf den Thronen saßen vierundzwanzig Älteste, mit weißen Kleidern angetan, und hatten auf ihren Häuptern goldene Kronen. Und von dem Thron gingen aus Blitze, Stimmen und Donner; und sieben Fackeln mit Feuer brannten vor dem Thron, das sind die sieben Geister Gottes.
Und vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich dem Kristall, und in der Mitte am Thron und um den Thron vier Wesen, voller Augen vorn und hinten. Und das erste Wesen war gleich einem Löwen, und das zweite Wesen war gleich einem Stier, und das dritte Wesen hatte ein Antlitz wie ein Mensch, und das vierte Wesen war gleich einem fliegenden Adler. Und ein jedes der vier Wesen hatte sechs Flügel, und sie waren rundum und innen voller Augen, und sie hatten keine Ruhe Tag und Nacht und sprachen: Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt.
Und wenn die Wesen Preis und Ehre und Dank geben dem, der auf dem Thron sitzt, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, fallen die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem, der auf dem Thron sitzt, und beten den an, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und legen ihre Kronen nieder vor dem Thron und sprechen: Herr, unser Gott, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen.
Auch hier finden wir ein übersteigertes „Vor-Bild“ des irdischen Herrschers und seines Hofstaats und seiner Huldigung als Veranschaulichung für „Gott“ im „Himmel“. Das kleine Israel war umgeben von Groß-Reichen mit absoluten Herrschern (in Ägypten, Babylon, Persien … später im kaiserlichen Rom). Und man wollte die „Heiligkeit Gottes“ bildhaft darstellen, indem man sie mit der Macht und der Unnahbarkeit und Verherrlichung der Herrschenden verglich. Auf diese Weise sollten sich die Menschen das Unvorstellbare doch irgendwie vorstellen können.
Freilich: Das kann ja durchaus auch sinnvoll sein, dass man etwas (für menschliche Wahrnehmung Unfassbares) vorstellt, indem man es mit etwas Bekannten vergleicht (die Gleichnisse Jesu im Neuen Testament sind eindrückliche Beispiele dafür). Hier, in den oben wiedergegebenen biblischen Texten, geschah das im Vergleich Gottes mit überhöhten Vorbildern aus dem Hofzeremoniell der großen Herrscher ihrer jeweiligen Zeit-Epoche.
Die übergroße Gefahr dabei ist allerdings, dass man dann das „Gleichnis-Bild für die Heiligkeit Gottes“ zum realen „Gottes-Bild“ macht: „So ist Gott“. Nein, so ist Gott nicht! Nein, nein, nein! Sondern so stellen sich Menschen, jeweils in ihrer Zeit, ihre Götter vor. Ja, wir brauchen Gottes-Bilder, um überhaupt von Gott und mit Gott reden zu können. Ja, es ist wahr: Gott, der Gott der Bibel (JHWH) ist (mit menschlichen Worten gesprochen, und wir haben ja keine anderen) „König“ und „Herr“, ja. Aber sein Königtum und seine Herrschaft entsprechen eben nicht unseren menschlichen Erfahrungen mit menschlichen Gewalt-Herrschern und deren absoluter Macht-Ausübung. Solche Gottes-Bilder (wenn wir sie nicht als Bilder verstehen, sondern sie für die Realität halten) degradieren den Schöpfer der Welt und Erhalter allen Lebens zu einem machtprotzenden, herrschsüchtigen, prunkschwelgenden Despoten, eben einen „Sonnen-Gott“.