Bereich: Grundfragen des Glaubens

Thema: Glauben?

Beitrag 2: glauben und leben (Bodo Fiebig1. Mai 2022)

1 Wir leben noch!

Beginnen wir mit dem Einfachsten: Wir, die Menschheit auf dieser Erde, wir leben. Und wir leben noch immer! Beides ist höchst unwahrscheinlich: Noch nie in Jahrtausenden, seit interessierte (oder wissenschaftlich motivierte) Menschen die Natur beobachten, haben sie einen Vorgang entdecken können, bei dem aus totem Material ein lebensfähiger Organismus entstand. Was sie sahen und sehen, ist immer nur eine Weitergabe schon bestehenden Lebens an eine nächste Generation, eine fast endlose Kette von Weitergabe und Veränderung von der ersten Urzelle bis zum Menschenkind, das heute geboren wird (nur: Wie entstand die erste Urzelle?). Dass etwas, was lebt, stirbt, das ist alltägliche (manchmal sehr bittere) Erfahrung allen Lebens; dass etwas Totes lebendig wird, sehen wir nie (siehe dazu auch das Thema „Leben und Tod“, dort werden die Zusammenhänge ausführlicher dargestellt).

Trotzdem: wir leben; und dass wir immer noch leben, ist schier „un-glaub-lich“. Je mehr wir die Geschichte der Menschheit studieren, desto unwahrscheinlicher kommt es uns vor, dass in der fast endlosen Kette von Kampf und Mord, Gewalt und Krieg das Menschen-Leben dennoch erhalten blieb. Die Entwicklung der „Technik des Tötens“ war der Entwicklung des „Miteinader und Füreinander des Lebens“ immer um mehrere Schritte voraus. Und wir sehen mit Sorge auf unsere Gegenwart und die nahe Zukunft, wo ein 3. Weltkrieg die Menschheit endgültig auslöschen könnte (und wo vielleicht noch ein paar Mikroben, eingeschlossen in einer Eisscholle der Antarktis das Inferno überleben könnten).

Aber noch leben wir, noch lebe ich, und dass mein Leben zumindest für mich (und wenn es ganz gut geht, vielleicht auch noch für einige wenige andere Menschen) einen Wert hat, das macht mein Leben „Wert-voll“.

Und: Wir wissen, dass menschliches Leben nur in der Lebens-Gemeinschaft und in der Lebens-Fülle der ganzen Biosphäre der Erde lebensfähig ist. Wäre der Mensch ein Lebens-Einsiedler auf der Erde, müsste er eine Gift-Atmosphäre ohne Sauerstoff atmen und Steine fressen.

So ergibt sich ein erstes, anfanghaftes und doch grundlegendes „Glaubensbekenntnis“ des Menschseins: Wir glauben an den Wert des Lebens. Unseres eigenen und den Wert alles Lebens auf dieser Erde. Und dieses Bekenntnis zum „Wert des Lebens im allgemeinen“ setzt sich fort im Bekenntnis zum „Wert jedes Menschenlebens im Besonderen“. Aber schon dieses Bekenntnis zum „Wert jedes Menschenlebens“ ist (angesichts der Menschheitsgeschichte) eigentlich ein „Glaubens-Akt gegen jede Erfahrung“. Und überhaupt: Was soll denn am Menschenleben so Besonderes sein?

 

2 Menschenleben

Die Ausbreitung des Lebens über die Erde hat in langen Zeiträumen eine Biosphäre entstehen lassen, die von Pol zu Pol reicht und von den Tiefen der Ozeane bis zu den Gipfeln der Berge, und in der die ganze Vielfalt des Lebens, vom Einzeller bis zu den höheren Pflanzen und Tieren, zueinander in Beziehung steht und voneinander abhängig ist. Darinnen der Mensch. WirIch! Im Vergleich zu allen Tieren mit überragenden geistigen Möglichkeiten ausgestattet. Nicht durch irgendwelche körperlichen Vorzüge und Fähigkeiten hat sich das Säugetier Homo Sapiens über den ganzen Globus hinweg ausbreiten und durchsetzen können, sondern durch seine geistige Überlegenheit, mit der er das Feuer nutzbar machte, mit der er Werkzeuge schuf, die die Gestaltungsfähigkeit seiner Hände erweiterten, mit der er das Rad erfand, das seine Bewegungsmöglichkeiten vervielfältigte, mit der er Maschinen entwickelte, die seine Muskelkraft ins Übermenschliche steigerten, mit der er schließlich sogar „Denkapparate“ (Computer) baut, die selbst seine geistigen Fähigkeiten, seine Denk- und Gedächtnisleistungen, noch ins Unermessliche vervielfältigen können.

Aber nicht nur in der Gestaltung seiner materiellen Umwelt ist der Mensch auf Grund seiner geistigen Fähigkeiten allen anderen Lebewesen überlegen, sondern auch in der Gestaltung seiner sozialen Umwelt: Von der Rudelordnung der ersten Menschen-Gruppen bis hin zur Ausformung differenzierter Sozialgebilde in modernen Formen von Staat und Gesellschaft.

Der Mensch ist biologisch mit den Säugetieren eng verwandt und trotzdem ist er eine echte Neuheit inmitten der vorhandenen Biosphäre der Erde, nicht nur eine Weiterentwicklung der in den Tieren schon angelegten Möglichkeiten. Dabei ist auf den ersten Blick gar nicht erkennbar, worin denn das grundsätzlich Neue eigentlich besteht, denn dieses Neue liegt auf einer ganz anderen Ebene als alles, was die Entwicklung des Lebens bis dahin hervorgebracht hatte.

3 Die zweite Schöpfung

Der Vorgang, bei dem dieses „ganz Neue“ entsteht, wird in der biblischen Schöpfungsgeschichte nur an einer eigentlich ganz unauffälligen Stelle sichtbar (1.Mose 2, 19-20): Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen. Hier geschieht etwas sehr Bedeutsames: Die Gegebenheiten der Welt (hier die Lebewesen, die ja, wie der Mensch auch, aus „Erde“, also aus den gleichen Elementen wie der Ackerboden bestehen) bekommen einen Namen. Das scheint uns selbstverständlich, dass die Dinge, die wir wahrnehmen einen Namen haben (das Harte hier heißt „Stein“, das Schöne da heißt „Blume“, das Hohe dort heißt „Berg“), ist es aber nicht. „Von Natur aus“ haben die Gegebenheiten dieser Welt keine „Namen“. Namen für Dinge, Lebewesen, Sachverhalte, Vorgänge usw. kann es nur geben, wenn die ihnen von Menschen gegeben werden. Hier wird (in allen Sprachen der Menschheit) ein Akt vollzogen, durch den der Mensch selbst zum Schöpfer wird. Er schafft zur Realität der Dinge hinzu die Realität der Namen, zur Realität der Materie hinzu die Realität des Geistes. Indem der Mensch zum Vogel „Vogel“ sagt, trennt er die Vögel von allen anderen Tieren, den „Nicht-Vögeln“. Und indem er ein Tier „Vieh“ nennt (im Sinne von „domestiziertes Nutztier“) im Unterschied zu den „Tieren auf dem Felde“ (also den „freilebenden Tieren“) schafft er eine Realität von Gefangenschaft und Freiheit. Indem er z. B. zu einem Lebewesen sagt: „Nutzpflanze“ oder „Unkraut“, schafft eine Realität von Wert und Unwert. Indem er zu einem bestimmten Pflanzenteil sagt: „Blume“ schafft er eine Realität von Schönheit; Realitäten, die es zuvor nie gab. Diese „zweite Schöpfung“, die Schöpfung der „Welt des Geistes“ in der „Welt der Materie und des Lebens“ geschieht durch den Menschen, aber ausdrücklich im Auftrag Gottes. Gott stellt die Gegebenheiten der materiellen und der biologischen Schöpfung den Menschen vor Augen, damit er sie benennt und in eine „geistige Schöpfung“ einordnet. Und es wird entscheidend darauf ankommen, ob die Menschheit eine „geistige Welt“ entwickelt, indem das Miteinander und Füreinander der Schöpfung im Zentrum steht, oder eine „geistige Welt“ in der „der Kampf ums Dasein“ alles bestimmt und der „Krieg als Vater aller Dinge“. Beides ist möglich und beides hat in der tatsächlichen Geschichte der Menschheit aufbauende und zerstörende Wirkungen entfaltet.

Aber das ist noch nicht alles: Im Vorgang der Sprachbildung geschieht gleichzeitig der Aufbau eines Denksystems; Sprache und Denken bedingen und fördern einander gegenseitig. Die Sprachen der Menschheit mit ihren Bedeutungen und Deutungen, schaffen Realitäten, die es ohne Sprache so nicht gäbe. Indem ein Mensch zu einem anderen Menschen „Freund“ sagt oder „Feind“, schafft er Realitäten, die mehr Heil oder Unheil anrichten können, als ein ganz realer tropischer Wirbelsturm oder ein großflächiger Waldbrand.

Das entscheidend Neue am Menschsein ist nicht einfach nur eine höhere Intelligenz, die wäre ja nur graduell höher, aber nicht etwas prinzipiell Neues. Das wirklich Neue liegt zunächst einmal in einem sprachgebildeten Denksystem und dann auch in einer neuen Art von „kollektivem Informationspool”, der zu dem genetischen Informationspool der biologischen Art hinzukommt. In der Tierwelt sind die Eigenschaften und Fähigkeiten einer Tierart im Genpool dieser Art weitgehend festgelegt. Die Möglichkeiten zum Erwerb individueller Erfahrungen und zur Entwicklung individueller Problembewältigungsstrategien, die über das genetisch festgelegte Instinktverhalten hinausgehen, sind vergleichsweise gering (obwohl manche Tiere z. B. den Gebrauch von Werkzeugen erlernen können). Noch geringer sind die Möglichkeiten, erworbene individuelle Erfahrungen und Fähigkeiten mitzuteilen und erst recht sie so zu „konservieren“, dass sie anderen Individuen der eigenen Art (und auch späteren Generationen) zugänglich und nutzbar gemacht werden könnten. Die Ansätze zur Entwicklung einer „Sprache“ bei Tieren beinhalten im allgemeinen nur den Ausdruck einer appellativen Mitteilung (Lockruf, Warnung, Aufforderung …).

Der Mensch dagegen hat mit der Sprache ein Kommunikationssystem entwickelt, das die Möglichkeit bietet, eigene Erfahrungen, Problemlösungen und Ideen zu benennen, sie zu bewerten und zu verknüpfen und sie als gedeutete, von den realen Dingen schon weitgehend abstrahierte „innere Wirklichkeit“ anderen mitzuteilen, sie im Austausch abzugleichen und dadurch auf allgemein gültige Stimmigkeit hin zu überprüfen. Mit der Entwicklung und (viel später der schriftlichen Fixierung) von Sprache hat er die Möglichkeit geschaffen, gedankliche Inhalte (Informationen, Interpretationen, Appelle …) zu vervielfältigen, über weite Strecken zu transportieren und für spätere Generationen aufzubewahren.

Indem der Mensch die Dinge und ihre Eigenschaften und Beziehungen benennt, ordnet er sie ein in sein eigenes Vorstellungs- und Denksystem. Es entsteht in ihm ein subjektives Bild von der Welt um ihn. Aber erst wenn nun mehrere Menschen über ihr subjektives Weltbild miteinander kommunizieren, indem sie Erfahrungen austauschen und ihre subjektiven Interpretationen ähnlicher Erfahrungen miteinander vergleichen, entsteht ein Weltbild von zunehmend über-subjektiver Objektivität. Zumindest bekommt dieses „Weltbild“ eine allgemeine Stimmigkeit innerhalb einer begrenzten Gruppe von Menschen, die in intensivem Erfahrungsaustausch miteinander stehen. Es entsteht eine „Kultur“ (oder Subkultur) mit eigener „Weltanschauung“, die für die Angehörigen einer bestimmten Gruppe von Menschen überzeugend und stimmig ist.

Durch die Entwicklung von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, mit denen Menschen und Informationen Länder und Kontinente überqueren, entsteht nach und nach (und auch das anfanghaft schon seit Jahrtausenden) eine „Weltkultur“ mit einem globalen Weltbild. Der Aufbau weltweiter elektronischer Kommunikationssysteme und die zunehmende Nutzung des Internet beschleunigen diesen Vorgang.

Dazu kommt, dass die Kommunikationsmöglichkeiten des Menschen nicht nur „horizontal“ auf die Breite der gegenwärtigen Menschheitsfamilie ausgerichtet sind, sondern sie reichen auch „vertikal“ in die Tiefen der Geschichte. Der Mensch kann mit Hilfe „konservierter“ (z. B. geschriebener) Sprache sogar mit anderen Menschen geistig in Kontakt treten, die schon längst nicht mehr am Leben sind und auf diese Weise Erfahrungen und Ideen von Angehörigen früherer Generation für sich nutzbar machen.

Die Menschheit hat im Laufe von Jahrtausenden neben ihrem biologischen Genpool einen riesigen geistigen Erfahrungs- und Wissens-Pool, neben dem genetischen Erbe eine riesige kulturelle „Erbmasse“ aufgebaut, die das allermeiste ihrer geistigen Leistungen überhaupt erst möglich macht. Auch die moderne Computertechnologie wäre nicht möglich ohne die ganze Geistesgeschichte des Menschseins, die bis zu den Denkweisen und Kommunikationsformen frühester Menschengruppen reicht und zu deren Versuchen, ihre Umwelt zu verstehen und zu gestalten. Gemeint ist dabei nicht eine ungeheure Anhäufung unverbundener Wissensinhalte, sondern ein in vielen Facetten schillerndes, in allen Sprachen der Welt klingendes „Gesamtkunstwerk“ menschlichen Geistes, in welchem sich alltägliches Erleben und Verstehen mit künstlerischem Ausdruck, philosophischer Gedanken-Architektur, wissenschaftlichem Erforschen und Beschreiben, emotionaler Zu- und Abwendung, religiöser Sehnsucht und Deutung … von Milliarden verschiedener Individuen in den Jahrtausenden ihrer Geschichte durch vielfältige Kommunikation und gegenseitige Beeinflussung zu einem weltumspannenden Ganzen verbinden, das sich ständig verändert und erneuert, als wäre es ein lebendiges Wesen. (Das „Internet“ kann dabei verstanden werden als ein verkleinertes, auf Inhalte, die auf elektronischem Wege kommunizierbar sind, eingeengtes und reduziertes Abbild dieses geistigen „Gesamtkunstwerks“.) Es entsteht, verdichtet und verknüpft sich eine die Erde umfassende Weltsphäre des Geistes, die an die Biosphäre der Erde gebunden ist und an das wortmächtige und sprachhandelnde Wesen „Mensch“.

Diese „Weltsphäre des Geistes“ ist aber nicht eine rein sachliche und kühl-distanzierte Faktensammlung, sondern immer und von Anfang an ein emotional gedeutetes, persönlich gewertetes und manchmal auch egoistisch vereinnahmtes „Weltverständnis“, das unser Selbstverständnis trägt, unsere Beziehungen bestimmt und unser Verhalten steuert.

Die Menschheit als Ganzes hat (zuerst in einzelnen Kulturkreisen, dann zunehmend in globalen Dimensionen) ein „Welt-Bewusstsein“ und ein „Selbst-Bewusstsein“ entwickelt, mit denen sie ihr eigenes Leben in der Welt bedenkt und versteht und in denen auch Raum ist für „Sinngeschichten des Daseins“, die über die bloße Beschreibung von Realitäten hinausgehen, weil sie auch Elemente von „Glaubensgeschichten“ enthalten. Und das ist eine der Voraussetzungen dafür, dass wir in dieser Welt lebensfähig und bewusst handlungsfähig sind (siehe den folgenden Beitrag „glauben und handeln“).

Bodo Fiebig „glauben und leben“ Version 2022-3

© 2022, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.

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