Die Liebe, die in der Bibel mit dem Wort AHaBaH beschrieben wird, bezeichnet nicht nur ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen, sondern sie benennt auch jene elementare Urkraft, die das Schöpfungsgeschehen in Gang setzte und durch Milliarden von Jahren zielgerichtet in Gang hielt (siehe die Themen „Die Frage nach dem Sinn“, Beitrag 1 „Der Anstoß des Seins“ und „Schöpfungsglaube und modernes Weltbild“). Sie speist sich aus der Energie, die in der Einheit Gottes selbst liegt, einer Einheit, die sich (wie in einer Art ersten „Kernspaltung“) teilt und ausspannt und so zum schöpferischen Kraftfeld einer innergöttlichen Liebesgemeinschaft wird. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
5.Mose 6,4 (wörtlich): Höre Israel, JaHWeH, unser Gott, JaHWeH ist einzig (oder: … ist Einer). So lautet die Grundaussage der Bibel vom Eines- und Einzig-Sein Gottes, die in vielen anderen Bibelstellen wiederholt und bestätigt wird z. B. Jes 44,6: So spricht der HERR (JaHWeH) der König Israels und sein Erlöser, der HERR Zebaoth: Ich bin der Erste und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott. Gott ist der Eine und Einzige, der Erste vor aller Zeit und auch noch der Letzte nach Ablauf alles Zeitgeschehens. Die ewige Einheit und Einzigkeit Gottes ist die Grundwahrheit allen Seins und sie ist für das Christentum genau so grundlegend wie für das Judentum.
Von diesem einen Gott heißt es: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde (1. Mose 1,1). Der Satz „Im Anfang schuf Gott …“ geht davon aus, dass der Schaffende selbst unabhängig von allem Geschaffenen existiert. Er macht den Anfang, aber er ist selbst „außerhalb“ dieses Anfangs, also unabhängig von aller materiellen Existenz, die ja erst mit dem ersten Schöpfungsakt (wir nennen ihn etwas naiv und unzutreffend den „Urknall“) ins Dasein trat. Im Gesamtzusammenhang der biblischen Botschaft können wir den Sachverhalt etwa so zusammenfassen:
Es ist ein einziges Sein, das unabhängig von allem Materiellen und unabhängig von Raum und Zeit (also „außerhalb“ und „vor“ aller Schöpfung) existiert. Wir nennen es mit den Mitteln der menschlichen Sprache „Gott“ (bzw. mit dem entsprechenden Begriff in irgendeiner anderen Sprache der Menschheit). Weil unser Dasein als Menschen an Materie, Raum und Zeit gebunden ist, deshalb ist das Göttliche von uns aus nicht wahrnehmbar. Wir können mit den Mitteln menschlicher Erkenntnisfähigkeit immer nur so viel von Gott erfassen, und mit den Mitteln der menschlichen Sprache nur so viel von Gott aussagen, als er selbst uns in Wort und Tat offenbart. Und Gott hat sich offenbart: In der Bibel Alten und Neuen Testaments und in der Geschichte der Schöpfung und der Menschheit. Aus der Fülle der Selbstoffenbarung Gottes über Jahrtausende hinweg, die uns in der Bibel überliefert ist, können wir schließen, dass seine Existenz wesentlich in einem „In-Beziehung-Sein“ besteht, das wir mit den Mitteln der menschlichen Sprache (freilich völlig unzureichend, aber wir haben keine Alternative) mit dem Begriff „Liebe“ umschreiben. Gott ist Liebe (1. Joh 4, 16). In diesem Beitrag nennen wir diese Liebe AHaBaH.
Gott ist Einer; nichts ist neben oder über ihm. Aber kann denn ein „Einziges“ in sich selbst Liebe sein? Braucht nicht jede Form von Liebe ein Gegenüber? Ja, und das ist auch bei Gott so. Gott ist Einer, und doch sind in der Bibel Alten- und Neuen Testaments auch unübersehbare Hinweise darauf enthalten, dass der biblische Schöpfer sich selbst als „Pluralität“ darstellt. Die hebräische Bibel beginnt mit den Worten „bereschit bara elohim …“ (Im Anfang schuf Gott…). Das Wort „elohim“ (Gott) ist eine Mehrzahlform (im Thema „Juden und Christen“, Abschnitt „Das trinitarische Problem“ ist dieser Aspekt ausführlicher dargestellt). Gott ist einzig, ja, aber er ist nicht einsam. Gott ist Einer, ja, aber er ist Einer-in-Beziehung. Gott ist Einer in Beziehung zu einem Du durch die Liebe, die der „Geist“ Gottes ist, d. h. sein innerstes „Wesen“, seine „Substanz“, seine „Identität“. Und dieses „Du“ der Liebe Gottes war schon von Anfang an und vor aller Zeit ausgerichtet auf die Menschwerdung seiner Liebe. In zweierlei Weise: Einmal in der Menschwerdung der Liebe Gottes im „Menschen-Sohn“ (Jesus) und zum andern im „Bild-Gottes-Werden“ aller Kinder Gottes im Reich Gottes unter der Herrschaft des Gesalbten Gottes, seines Messias.
Und dieses Beides ist in Wirklichkeit ein und das Selbe. Die Liebe Gottes ist eine Wirkmacht außerhalb dessen, was wir „Zeit“ nennen. Jesus war vor aller Zeit bei Gott und mit ihm war die ganze Menschheit aller Zeiten schon bei Gott vergegenwärtigt. Jesus vertritt und repräsentiert in der Gegenwart Gottes schon vor aller Schöpfung das ganze Menschsein. In Jesus war alles Menschsein als ersehntes Gegenüber seiner Liebe bei Gott schon „da“, bevor er mit dem „Urknall“ die Schöpfung in Gang setzte.
Jesus sagt, Joh 16,28: „Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen“. Gott, der die Liebe ist, hat seine Liebe „ausgehen lassen“ in die Welt und sie an die Menschheit verschenkt. Das war schon von Anfang an allen Menschseins so: So sehr hat Gott die Welt geliebt („Welt“ hier nicht gemeint als als die ganze materielle Schöpfung, sondern als die Menschheit von Anfang an). Und als die Menschheit dieses Geschenk nicht annehmen wollte, da hat er seine Menschen-Liebe in Menschengestalt von sich ausgehen lassen, damit die zur Keinzelle einer erneuerten Menschheit werden soll. Durch Jesus, den „Sohn“ soll das „Wesen“ Gottes trotz allen menschlichen Ungenügens in der Schöpfung anwesend sein, indem er vorbildhaft die Schöpfungsberufung des Menschen verwirklicht: „Ich und der Vater sind eins“. Dieser Satz Jesu beschreibt die Vollendung der Schöpfung. Wenn die ganze Menschheit in Einheit und Liebe diesen Satz sprechen kann, dann ist die Schöpfung vollendet. Dann ist der Schöpfungsauftrag der Menschheit erfüllt: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“.
Diese Beziehungs-Existenz Gottes hat die Christenheit später in dogmatische Formeln (z. B. im Begriff der „Trinität“) zu fassen versucht, ohne sich immer bewusst zu sein, dass menschliches Reden von Gott immer unvollkommen und missverständlich ist, um so mehr, wenn die „Sache“, um die es da geht, in den biblischen Texten nur sehr vorsichtig- zurückhaltend angedeutet wird.
Diese Unvollkommenheit und Missverständlichkeit gilt selbstverständlich auch für die folgenden Sätze (aber wir brauchen solches „Reden von Gott“, um uns überhaupt seiner bewusst werden zu können): In der Beziehungs-Existenz Gottes (vor und außerhalb jeder Schöpfung) entstand ein Kraftfeld der Liebe von unvorstellbarer Intensität und Spannung. Eine allerwinzigste Ahnung von dieser Spannungsintensität können wir nachempfinden, wenn uns eine tiefe Sehnsucht nach einem innigst geliebten Menschen umtreibt. Diese „Sehnsucht“ Gottes (auch dies ein allzu menschlicher Begriff), der in sich ganz Liebe ist, brachte den Impuls hervor, dass etwas sei, das seiner Liebe entspricht und antwortet. Die Liebe Gottes sucht nach einer Entsprechung seiner selbst als „Bild“ und Gegenüber. Dafür geschieht das alles, was wir „Schöpfung“ nennen.
Es genügt dem Schöpfer nicht, ein gigantisches, aber stummes, lebloses und sinnloses Universum zu schaffen, wie ein riesiges Feuerwerk, das aufleuchtet, eine Weile in großartigen Farben und Formen brennt und dann verlischt. Gott macht das Universum als „Bühne“, als Bühne für ein „Spiel der Liebe“. Und wenn dieses Spiel sich entfaltet, will er, der selbst ganz Liebe ist, dadurch im Geschaffenen gegenwärtig sein. Er will sich in seiner Schöpfung ein Gegenüber erwecken, das sein Ebenbild ist, bewegt von der gleichen Urkraft, die das Universum in Gang setzte. Mitten in der Schöpfung aus toter Materie soll durch die Verwirklichung von Liebe so etwas wie eine „gottgemäße Existenz“ entstehen.
Die Liebe Gottes bricht die Einheit Gottes auf. Noch vor aller Schöpfung geschieht ein Aufbruch der Liebe Gottes hin zu einem geschauten und ersehnten Gegenüber. Die Liebe Gottes ist schon vor aller Schöpfung wirksam und sie liebt ihr Geschöpf wie eine Mutter ihr Kind, noch ehe es geboren ist. Gott öffnet sich und macht sich auf, seiner Liebe ein liebendes Gegenüber zu suchen. Und es macht Gott gar nichts aus, dass der Weg zur Vollendung dieser Liebe nach menschlicher Zeitvorstellung Milliarden von Jahren umfassen wird, denn er selbst ist zeitlos und ewig.
Durch die materielle Schöpfung wird der Schöpfer zunächst nur die „Bühne“ bereiten, auf der dann etwas ganz Unglaubliches in Gang kommen soll: ein „Schauspiel der Liebe“ zwischen Schöpfer und Geschöpf und zugleich auch zwischen verschiedenen Exemplaren einer bestimmten Art seiner Geschöpfe (den Menschen). Und er weiß: Er kann wohl die „Bühne“ des Universums bereiten, er kann das Leben und das Menschsein erschaffen, ob aber die Menschen bereit sein werden, sich auf ein „Spiel der Liebe“ zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen untereinander einzulassen, das ist noch ungewiss. Und er weiß: Er wird dieses „Spiel“ immer wieder neu beginnen müssen, zuerst im Verborgenen mit Einzelnen, die bereit sind, seine Liebe zu erwidern, manchmal in beglückender Entfaltung in hingabebereiten Gemeinschaften, und oft vertrocknend wie ein Baum ohne Wasser oder erstickt und erschlagen von Gleichgültigkeit und Gewalt. Aber er wird dieses Spiel weiterführen durch die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte bis zur Vollendung.
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Bodo Fiebig „Einheit und Aufbruch Gottes“, Version 2018-1
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