Grundfragen des Glaubens

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Bereich: Grundfragen des Glaubens

Thema: Weltreligionen und biblischer Glaube

Beitrag: Grundlagen des Glaubens (Bodo Fiebig 2017- 9)

Die im ersten Beitrag aufgeführten fünf Thesen zur Frage „Was ist Religion?” sind eigentlich gar keine Antworten auf diese Frage, sondern eher Versuche, die gegenwärtig (im 21. Jahrhundert) gängigen Erklärungsmuster zu benennen. Ob die aber wirklich die Grundlagen des Glaubens beschreiben, die vor vielen Jahrtausenden gelegt wurden, kann bezweifelt werden. Im Wesentlichen zielen diese Erklärungsmuster alle auf die gleiche Grundaussage: „Religionen sind grundsätzlich und ausschließlich etwas von Menschen selbst Erdachtes und selbst Gemachtes. Sie mögen vielleicht in ganz frühen Stadien der Menschheitsentwicklung etwas Nützliches gewesen sein (weil sie den Menschen halfen, mit den unerklärlichen Vorgängen in der Natur besser zurechtzukommen), heute aber sind sie nicht nur überflüssig und sinnlos, sondern eher schädlich und gefährlich.“

Oft wird von „modernen” Menschen argumentiert, dass doch die naturwissenschaftliche „Aufklärung” und der technische Fortschritt die Religionen überflüssig machen. Warum sollte ein Mensch des 21. Jahrhunderts noch irgendwelche Götter anrufen, wenn er doch weiß, dass hinter den Phänomenen seiner Umwelt wissenschaftlich erklärbare Abläufe stehen (und wo das eine oder andere noch nicht schlüssig erklärbar sei, da müsse man nur noch neuere und weiterführende Erkenntnisse ab­warten)?

Dieses Argument ist verständlich. Allerdings muss man sich dabei bewusst sein, dass es sich immer nur auf das Verhältnis des Menschen zu den Gewalten und Phänomenen der Natur beziehen kann. Wir müssen uns ja wirklich nicht mehr vor dem Donner eines Gewitters fürchten und sei er noch so erschreckend laut; zu seiner Erklärung brauchen wir nicht mehr die Vorstellung eines zornigen Gewitter-Gottes, wie den germanischen Thor, der den Hammer schwingt. Wir müssen auch nicht mehr mit magischen Praktiken eine Wunde vom „Medizinmann” beschwören lassen, weil wir wissen, dass eine Entzündung nicht von bösen Geistern kommt, sondern von Bakterien in der Wunde und dass eine entsprechende Salbe eine gefährliche Infektion verhindern kann usw.

Das macht aber keineswegs den Glauben und das Gebet überflüssig, denn wir wissen auch (und auch das wird von keiner Naturwissenschaft in Frage gestellt), dass das Leben und die Gesundheit, die Freude und die Zufriedenheit, die Liebe und das Glück, die Gemeinschaft und der Friede bei den Menschen immer gefährdet sind und keine wissenschaftliche Erkenntnis und keine technische Vorrichtung daran grundsätzlich etwas ändern können.

Bleiben wir trotzdem noch bei diesem Thema: Welches sind (vor Jahrtausenden ebenso wie heute) die „Grundlagen des Glaubens”? Sind das alles nur Phantasien, die aus dem Innern des Menschen kommen, oder können die Religionen der Menschheit auch Antwort auf Impulse sein, die Menschen „von außen“ empfangen, berührend, ansprechend und herausfordernd? Freilich wird niemand bestreiten wollen, dass die Entwicklung von Religiosität auch dem Bedürfnis der Menschen nach Absicherung der eigenen Existenz nachkommt angesichts der Undurchschaubarkeit und Unbeeinflussbarkeit jener Mächte, die auf ihr Leben einwirken (siehe das Thema „Die Ethik des Atheismus“, Beitrag 3 „Entwicklung eines religiösen Deutungssystems“). Aber gibt es nicht trotzdem in den Religionen der Welt einen gemeinsamen „Kern“, der auf entscheidende Entstehungsimpulse von außen hinweist (was immer das dann auch sein mag, das „von außen” auf Menschen einwirkt)? Graben wir also noch eine Schicht tiefer bei der Suche nach den „Wurzeln des Glaubens”.

1 Die zweifache Wurzel des Glaubens

Soweit wird man sich auch mit überzeugten Atheisten einigen können: Religionen (und auch jede andere Form von Weltanschauung und Daseinsdeutung) sind Antworten auf Erfahrungen, die Menschen machen. Religionen entstehen also nicht einfach aus dem Nichts. Menschen erleben etwas und machen sich Gedanken darüber. Das, was „von außen” auf Menschen einwirkt, ist also zunächst einmal die Erfahrung mit der eigenen alltäglichen Umwelt und Lebenswirklichkeit. Etwas Schönes, Wohltuendes freut uns und etwas Bedrohliches und Gewalttätiges jagt uns Angst und Schrecken ein. Und selbstverständlich möchten wir gern die guten, wohltuenden und froh machenden Erfahrungen wiederholen und die schlimmen, leidvollen, Angst machenden Erfahrungen meiden. Das ginge aber nur, wenn wir wenigstens in Ansätzen verstehen könnten, woher die guten oder schlimmen Erfahrungen kommen. Solange sie uns völlig zusammenhanglos und unvorhersehbar überraschen, sind wir ihnen hilflos ausgeliefert. Religionen sind auch Ergebnisse einer deutenden Verarbeitung der individuellen und kollektiven Lebenserfahrung von Menschen durch die Jahrtausende, sind der Versuch, zu verstehen, was geschieht, es verursachenden Kräften zuzuschreiben und diese Kräfte möglichst zum eigenen Gunsten zu beeinflussen. Dass sich damit allein aber nicht die Entstehung der Religionen erklären lässt, werden wir noch sehen.

1.1 Bedrohliche, Angst machende Erfahrungen

Meistens geht man davon aus, dass es die bedrohlichen Erfahrungen waren, die den Anstoß zur Entstehung religiöser Vorstellungen gaben: der Blitz und der Donner, der Sturm, der Hagel, die Dürre und die Überschwemmung, die Hitze und die Kälte und die Finsternis der Nacht, reißende Bestien und giftige Schlangen, Verwundung und Schwäche, Krankheit und Tod. Das waren einige der großen Schrecken der frühen Menschen, die unversehens über sie hereinbrachen. Waren da nicht böse Kräfte am Werk unaufhaltsam, übermächtig? (vgl. den Beitrag „Was ist Religion?“, Abschnitt 1 „Religion als Mittel zur Bewältigung von Angst?”). Und wäre es nicht gut, ja überlebensnotwendig, wenn man diese Kräfte beeinflussen könnte, vielleicht so, dass sie uns verschonen und unseren Feinden schaden? Sollten wir zum Beinspiel, wenn wir ein erlegtes Tier am Feuer braten, ein bestimmtes Teil dieses Tieres doch besser nicht selbst essen, sondern den Flammen als Opfer überlassen? Vielleicht würde dann der große mächtige Feuer-Geist uns verschonen, wenn er als riesiger Steppenbrand Tierherden und ganze Menschengruppen einschließt und verbrennt? Oder allgemeiner gesagt: Welche Verhaltensweisen und Handlungen, welche Beschwörungen und Opfer könnten uns vor den Angriffen des Bösen bewahren?

Aus heutiger Perspektive sieht freilich die Welt ganz anders aus: Die wissenschaftliche Forschung hat die Natur entzaubert. Wir brauchen keine Naturgeister und Dämonen mehr, um die Phänomene unserer natürlichen Umwelt zu verstehen. Dafür sollten wir den Naturwissenschaften dankbar sein! Aber: Ist damit Religion überflüssig und nutzlos geworden?

Soweit könnten sich die meisten Menschen heute wohl einigen: Die Religionen der Völker sind auch so etwas wie „Verarbeitungsprodukte“ lebensbedrohlicher Erfahrungen, sind auch so etwas wie handhabbar gemachte Rettungsphantasien erschrockener, von Lebensangst und Todesfurcht beherrschter Menschen. Aber damit hätten wir bestenfalls eine erste Teilantwort auf unsere Frage nach den „Grundlagen des Glaubens” gefunden. Der zweite (und noch viel wichtigere) Teil dieser Antwort fehlt uns noch.

1.2 Hilfreiche, wohltuende Erfahrungen

Gab es für die frühen Menschen, die in Sippen und Rudeln das Land auf der Suche nach essbaren Pflanzen und jagbaren Tieren durchstreiften, nicht auch gute, hilfreiche und wohltuende Erfahrungen? Ganz gewiss gab es die. Es muss sie gegeben haben, denn sonst hätte wohl keine dieser Sippen und Rudel überlebt. Der Mensch als „Mängelwesen“ ist, langfristig gesehen, kaum lebensfähig ohne Hilfe „von außen“.

Solche „Hilfsbedürftigkeit” besteht aber nicht nur für die Menschen, sondern auch für das Leben insgesamt. Die Grundbefindlichkeit der Materie heißt „tot” (wir sprechen ja auch von „toter Materie”). Die Wahrscheinlichkeit, dass mitten in einer Welt aus toter Materie so etwas wie „Leben” überhaupt entstehen und über längere Zeit am Leben bleiben kann, ist so gering, dass die Statistiker sie nur mit Zahlenkolonnen belegen können, die für konkrete Vorstellungen gar nicht mehr zugänglich sind (siehe das Thema „Leben und Tod”). Die Wissenschaft kann nicht sagen, warum das Leben (gegen alle überwältigende Unwahrscheinlichkeit) dennoch entstanden ist und immer noch existiert. Trotzdem gibt es das Leben. Jede Lebensform, von kleinsten Einzeller bis höchstorganisierten Säugetier, ist eine extrem unwahrscheinliche „Trotzdem-Existenz”, welche lebt, obwohl es sie der Wahrscheinlichkeit nach eigentlich gar nicht geben dürfte. Aber das Leben lebt. Lebt seit Millionen von Jahren. Lebt durch die schützende, helfende, rettende Hand einer Macht, die das Leben will. Ohne das beständige Eingreifen „von außen“ zugunsten des Lebens hätte sich das Leben niemals in der unbelebten und lebensfeindlichen Natur entstehen, sich einnisten und ausbreiten können.

Und noch unwahrscheinlicher wäre es, wenn ein Lebewesen, das von Natur aus so schlecht ausgestattet ist wie der Mensch, sich am Leben erhalten, sich im „Kampf ums Dasein” behaupten und sich über alle Kontinente der Erde ausbreiten und durchsetzen könnte.

Die Menschen der Frühzeit sahen sich in ständiger Lebensbedrohung: Da gibt es Tiere, die sind stark und wir sind dagegen schwach; was können wir gegen einen Löwen ausrichten? Und es gibt Tiere, die sind schnell und wir können nicht mithalten; wie sollten wir eine Gazelle fangen? Sie sehen Tiere, die fressen Gras und werden satt davon, und sie selbst brauchen, um zu überleben, eine sehr vielseitige Ernährung, wie sollen sie die beschaffen? Die Menschen sehen Tiere, die haben Hörner und Hauer, Krallen und Klauen zur Verteidigung oder zum Angriff. Und Tiere, mit einem warmen Pelz wenn es kalt wird, oder einem schützenden Panzer wenn es gefährlich wird. Und sie selbst sind nackt, ohne natürlichen Schutz, von Natur aus unbewaffnet und wehrlos.

Die Menschen als „Mängelwesen” (Arnold Gehlen) erleben Hitze und Dürre, Kälte und Schnee, Hagel und Sturm, Sommer und Winter. Sie erleben Mangel, Hunger und Schwäche, Verwundung, Krankheit und Tod. Und trotzdem: Einer sieht sich selbst an und die Familie, in der er lebt und die Sippe, der er angehört und siehe da: Sie leben noch und er sieht einige seiner Kinder tatsächlich groß werden. Wunder über Wunder. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das etwas (wenigstens ein winziges Etwas) von der Realität seines existenziellen Angewiesenseins bewusst wahrnehmen kann: Dass sein Leben darauf angewiesen und davon abhängig ist, dass da eine „Kraft” ist, die ihn vor manchem Bösen bewahrt und zu manchem Guten verhilft, so dass er leben kann. Genau so erklärt es der Apostel Paulus den heidnischen Leuten in Lystra in Kleinasien (Apg 14, 16-17): Zwar hat er (Gott) in den vergangenen Zeiten alle Heiden ihre eigenen Wege gehen lassen; und doch hat er sich selbst nicht unbezeugt gelassen, hat viel Gutes getan und euch vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, hat euch ernährt und eure Herzen mit Freude erfüllt.

Nach nüchterner Betrachtung der Fakten müsste man eigentlich davon ausgehen, dass das „Mängelwesen” Mensch in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte (trotz sicher damals schon vorhandener Ansätze besonderer geistiger Fähigkeiten) unmöglich über längere Zeit lebensfähig sein konnte, dass es sich im „Kampf ums Dasein” nicht behaupten konnte, dass es beim täglichen „Fressen und Gefressen-werden” den kürzeren ziehen musste. Ohne das beständige Eingreifen Gottes zugunsten des Lebens und zugunsten des Menschseins hätte das Leben nicht entstehen und sich nicht entwickeln können und hätte der Mensch nicht über-leben können und hätte keine Grundlage für einen lebensstärkenden Glauben gefunden. Nur dadurch, dass Menschen immer wieder auch Erfahrungen machen, unerwartet und unverdient, die sich insgesamt so auswirken, dass Menschen überleben, auch manchmal Freude empfinden und Hoffnung entwickeln können, nur dadurch konnten Religionen entstehen, wie wir sie heute kennen. Und solche Erfahrungen gab und gibt es offensichtlich in allen Völkern, Kulturen und Religionen.

Wir finden tatsächlich in allen Formen von Religiosität einen gemeinsamen Kern: die Begegnung mit einer Kraft, die in allem erhaltend und weiterführend gegenwärtig ist, die Berührung durch eine Nähe, die helfend, wohltuend und schützend erlebt wird, das Gegenüber eines Willens, der unserem Wollen vorausgeht und der für uns das Gute will. Die Natur des Kosmos ist offensichtlich so gestaltet, dass auf einem winzigen Planeten in einem der Milliarden Sonnensysteme in einer der Milliarden Galaxien über einen bestimmten Zeitraum hinweg Umweltbedingungen bestehen, durch die das Leben leben und das Menschsein existieren kann, allerdings nur dann, wenn eine lebensfreundliche Kraft sie schützend und helfend begleitet. (Freilich machen Menschen immer wieder auch negative Erfahrungen, Erfahrungen von Mangel und Not, von Leid und Schmerz durch Naturgewalten und Krankheiten, durch Gewalt und Krieg, durch den allgegenwärtigen Tod. Und sie neigen dazu, auch diese Negativ-Erfarungen zu „vergöttlichen“, obwohl sie ja nur das „Normale“ in einer natürlichen Umwelt sind.)

Diese Kraft, diese Nähe, dieser Wille kann dann von den Gläubigen der verschiedenen Religionen in sehr unterschiedlicher Weise wahrgenommen, vorgestellt und angerufen werden: in vielen Gestalten und Formen, in vielen Traditionen und Riten… Das heißt: Die gemeinsame Grundlage der Religionen ist nicht eine gemeinsame religiöse „Idee“, ist keine gemeinsame Gottesvorstellung, sondern besteht in gemeinsamen Gotteserfahrungen, die dann im Laufe der Zeit in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Gottesvorstellungen hervorgebracht haben. In jeder Kultur und jeder Religion haben Menschen Erfahrungen mit der führenden, helfenden, rettenden Gegenwart der Liebe Gottes gemacht und diese Erfahrungen in ihr Weltbild aufgenommen und in ihre Glaubensvorstellungen integriert. Deshalb ist in jeder Kultur und jeder Religion auch etwas vom Wesen und Wollen Gottes gegenwärtig, freilich vermischt mit oft sehr menschlichen Vorstellungen und Motiven, d. h. auch mit Ungöttlichem und Widergöttlichem.

Diese ganz realen, im alltäglichen Leben aller Völker und Kulturen gegenwärtigen Gotteserfahrungen wurden zur gemeinsamen Grundlage aller Religionen. Meinen wir denn, Gott hätte nicht den Menschen schon Gutes getan, hätte ihnen nicht schon seine Liebe gezeigt, bevor sie noch in der Lage waren, ein religiöses Weltbild zu entwerfen? Sehen wir uns die möglichen Gotteserfahrungen, die zur Positiven Grundlage aller Religionen wurden, noch etwas genauer an (siehe den folgenden Beitrag „Über-Lebenserfahrungen“).

2 Gotteserfahrungen

Die Frage des ersten Beitrags „Was ist Religion?“ findet hier eine vorläufige Antwort: Die Religionen der Menschheit sind eben nicht nur Verarbeitungsprodukte von Angstträumen und Rettungsphantasien erschrockener Menschen, nicht nur Versuche zur Erklärung des Unerklärlichen oder Ergebnisse einer spirituellen Evolution, nicht nur Kulturleistungen der Völker oder Herrschaftsinstrumente zur dauerhaften Festigung von Macht (das können sie alles nachträglich auch werden), sondern sie sind zuerst und vor allem Deutung und entfaltende Auslegung (auf je eigene Weise innerhalb von bestimmten Kulturgemeinschaften) für die Gotteserfahrung der Menschheit in Jahrtausenden. Wobei „Gotteserfahrung“ hier nicht nur „Grenzerfahrung menschlichen Lebens“ meint, wo Menschen sich hilflos und ausgeliefert fühlen, sondern die alltägliche Begegnung mit dem Übermächtigen und zugleich hilfreich Gegenwärtigen. Einige solcher Grunderfahrungen der menschenfreundlichen Gottesgegenwart seien hier genannt:

2.1 Allgemeine Gotteserfahrungen

Trotz der Mühsal, der Natur das Lebensnotwendige abzuringen, machen Menschen auch die Erfahrung der Versorgung mit allem Notwendigen. Sie machen Erfahrungen mit der Natur als nährenden und schützenden Lebensraum trotz aller Gefährdung durch ihre unkontrollierbaren Bedrohungen und Gewalten. Sie machen Erfahrungen von Freude und Zufriedenheit trotz aller Entbehrungen und Gefahren.

Sie machen Erfahrungen von Ordnung und Zuverlässigkeit in der Natur (dass auch nach der finstersten Nacht die Sonne wieder aufgeht, dass nach jedem Winter wieder ein Frühling kommt, dass nach jeder Trockenzeit wieder der lebenspendende Regen fällt …) inmitten einer ständig und unberechenbar sich verändernden Umwelt.

Sie machen Erfahrungen von Erneuerung des Lebens inmitten der Allgegenwart von Vergänglichkeit und Tod. Sie machen Erfahrungen von unerwarteter Bewahrung und Errettung in Situationen mit aktueller und existenzieller Gefährdung.

Menschen machen Erfahrungen von Freude mitten im Schmerz, von Gelingen mitten im Versagen, Erfahrungen von unerwarteter Heilung aus schwerer Krankheit, froh machender Befreiung aus lähmender Angst, Erfahrungen von Hoffnung nach tiefer Verzweiflung, von tragendem Trost in schwerer Trauer.

Sie machen Erfahrungen von Zugehörigkeit, Nähe und Zuwendung in der Gemeinschaft trotz des Selbstbehauptungswillens jedes Einzelnen; aber auch von Geborgenheit und Schutz, wenn alle menschlichen Beziehungen zerbrochen sind. Erfahrung von Angenommensein trotz eigenen Versagens, Erfahrungen von Vergebung trotz schuldhafter Belastung der Beziehungen, von Entlastung und Neuanfang in der Gemeinschaft trotz aller menschlichen Eigenheiten und Schwächen der Beteiligten.

Sie machen Erfahrungen von einer Spur von Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit des Lebens inmitten eines unentwirrbaren Zusammenspiels von scheinbaren Zufälligkeiten.

Der Mensch weiß, dass seine Lebenszeit begrenzt ist und er sterben muss. Aber dass er überhaupt Lebenszeit hat und der Tod und der Zerfall ihn eine Zeit lang nicht antasten dürfen, das erfährt er täglich aufs Neue als bewahrendes Wunder. Dass der Mensch eine Zeit lang leben kann und seine Kinder ernähren kann, und eine nächste Generation das Erbe seines Lebens weiterführen kann, das erlebt er als unbegreifliches Geschenk.

Solche ganz realen, im alltäglichen Leben aller Völker und Kulturen gegenwärtigen Gotteserfahrungen wurden zur gemeinsamen Grundlage aller Religionen. Ja, Gott hat den Menschen schon Gutes getan, hat ihnen schon seine Liebe gezeigt, hat ihnen schon Erfahrungen seiner Nähe und Fürsorge geschenkt, bevor sie noch in der Lage waren, ein religiöses Weltbild zu entwerfen. Ja, ganz gewiss: Gott war schon vom Anfang an lebenserhaltend und fürsorgend am Werk und die Menschen haben das schon in sehr frühen Stadien ihrer Entwicklung auch wahrgenommen.

Solche Gotteserfahrungen (wie immer man in den verschiedenen Kulturkreisen sich das Göttliche auch vorzustellen vermochte) waren aber zunächst noch unbenannt und deutungsoffen und wurden deshalb ganz selbstverständlich in verschiedenen Kulturkreisen auch verschieden interpretiert und dementsprechend in menschlich-bildhafte Vorstellungsweisen gefasst. Dabei verbanden sich ganz selbstverständlich die aus den Angst- und Gewalterfahrungen der Völker hervorgegangenen religiösen Phantasien und Wunschträume mit den echten und hilfreichen Erfahrungen der Liebe Gottes. So entstanden ganz verschiedene Deutungsmuster des Göttlichen: Lebenskräfte der Verstorbenen in Dingen, die sie ihren Nachkommen hinterließen (Ahnenkult), machtvolle Geister in Bergen und Bäumen, Wolken und Winden… (Naturreligionen), übermenschliche Mächte, Götter, Geister und Dämonen, mit oft sehr menschlichen Eigenschaften und Motiven (Polytheismus), ein Schöpfergott, der alles bewegt und erhält (Monotheismus) oder allgegenwärtige kosmische Gesetze und Kräfte mit Auswirkungen auf jedes einzelne Leben (Universalismus) und verschiedenste Mischformen aus solchen Vorstellungen. Offenbar nahm der, mit dessen Gegenwart und Zuwendung die Menschen gute und hilfreiche Erfahrungen machten, es in Kauf, in sehr menschlichen und unzulänglichen Bildern erfasst zu werden, um ihnen doch nahe und erfahrbar sein zu können.

Jeder Mensch macht solche Erfahrungen, deswegen ist jeder Mensch auch in irgendeiner Weise religiös. Solche Gotteserfahrungen machen selbstverständlich auch moderne Atheisten; sie weigern sich nur, die verursachende „Macht“ hinter diesen Erfahrungen mit irgendeinem religiös anmutenden Begriff zu benennen. Sie wählen lieber „neutral“ und „wissenschaftlich“ klingende Begriffe wie „Zufall“, oder „Naturgesetz“, oder „Evolution“, schreiben aber dann doch diesen Zufällen, Gesetzen und Entwicklungsvorgängen die gleichen schöpferischen Kräfte zu, wie andere, die dazu „Gott“ sagen.

2.2 persönliche Gotteserfahrungen

Solche allgemeinen Gotteserfahrungen sind aber nur die erste Ebene der Gottesoffenbarung. Es gibt in allen Kulturen und Religionen auch die Erfahrung, dass sich das Göttliche persönlich zu erkennen gibt: in Bildern, in Stimmen, in Berührungen, in Ereignissen und zeichenhaften Vorgängen…, und auch solche Gotteserfahrungen sind nicht einfach nur Einbildung und Selbsttäuschung. Wir könnten sie als „Nah-Gott-Erfahrungen“ bezeichnen. Auch für die Ebene solcher persönlichen Gotteserfahrungen seien einige wesentliche Beispiele genannt:

  • Mystische Erfahrungen, wo Menschen in besonderer Weise die Nähe des Göttlichen, ja fast ein Eins-Sein mit ihm empfinden

  • Erleuchtende Erfahrungen, wo Menschen unvorbereitet Erkenntnisse und Zusammenhänge bewusst werden, von denen sie bis dahin nichts ahnten

  • Normstiftende Erfahrungen, wo Menschen Botschaften empfangen, die zur gesetzgebenden Ordnung für das Miteinander in der Gemeinschaft werden

  • Prophetische Erfahrungen, wo Menschen Botschaften empfangen, die ihre Gemeinschaft vor gegenwärtigen Fehlentwicklungen warnen und auf künftige Ereignisse vorbereiten sollen.

Offensichtlich besteht das, was wir bisher als „Kraft“, und „Wille“ oder das „helfend, wohltuend und schützend Gegenwärtige“ bezeichnet haben, nicht nur aus dem Zusammenwirken blinder Wirkungsprinzipien und Naturgesetze, ist nicht nur Ausdruck einer diffusen kosmischen Energie oder universalen Spiritualität, sondern personale Existenz als persönliches Gegenüber des Menschseins, das mit uns Menschen in Kontakt treten und eine Beziehung aufnehmen will. Alle Religionen haben wesentliche Impulse aus solchen „persönlichen Gotteserfahrungen“ empfangen. Für dieses personale Gegenüber, dem Menschen in persönlichen Erfahrungen begegnet sind, haben sie in den verschiedensten Sprachen Begriffe gebildet, die in etwa dem deutschen Begriff „Gottheit“ entsprechen, wobei man sich in den verschiedenen Kulturen und Religionen diese „Gottheit“ (in Einzahl oder Mehrheit) dann ganz verschieden vorstellen konnte.

Wir sehen also: Es gibt zwei Wurzeln, aus denen sich der weitverzweigte „Baum” der Religionen nährt: Zum einen die Erfahrungen, die Menschen mit den bedrohlichen, erschreckenden, lebensgefährdenden Mächten der Natur machen. Von solchen Erfahrungen her kommen eher die dunklen, angstbesetzten und furchterregenden, manchmal auch gewalttätigen Ausdrucksformen des Religiösen. Zweitens (und da mitten drin und trotz aller bleibenden Gefahr) gibt es auch die allgemeinen und persönlichen Erfahrungen mit der helfenden, heilenden, rettenden Nähe, mit der Menschenfreundlichkeit und Zuwendung eines väterlichen Gottes, der dem einzelnen Menschen Gutes tun will und der aufs Ganze gesehen das von ihm Geschaffene bewahrt, begleitet und zur Vollendung führt. Ohne diese positiven Gotteserfahrungen gäbe es keine Religion, deren ethischen Maßstäbe auf eine helfende, schützende, menschenfreundliche Zuwendung zum Mitmenschen hinweisen. Beide Erfahrungsbereiche, die positiven wie die negativen, sind in allen Religionen gegenwärtig, und selbstverständlich auch in den biblisch begründeten Religionen, Judentum und Christentum.

Ja gewiss, Religionen sind auch Mittel zur Bewältigung der Angst, auch Versuche zur Erklärung des Unerklärlichen, auch Entwicklungen und Leistungen innerhalb eines bestimmten kulturellen Umfelds, auch Mittel zur Erlangung und Absicherung von Macht. Aber sie sind eben immer auch mehr als das. Sie sind, soweit sie sich auf die Erfahrungen der Menschen mit den Wohltaten der Liebe Gottes gründen, die Quelle aller ethischen Maßstäbe und Einstellungen und Verhaltensweisen. Die erfahrene hilfreiche Zuwendung Gottes wird zur Herausforderung, sich nun auch selbst seinem „Nächsten” hilfreich zuzuwenden (siehe Abschnitt 2.5 „Die normative ethische Kraft der Offenbarung”).

Zunächst aber muss auf eine dritte Weise von „Gottesoffenbarung“ (hinzukommend zu den oben genannten „allgemeinen und persönlichen Gotteserfahrungen”) hingewiesen werden, die den Menschen begegnen kann: der Selbstoffenbarung Gottes im Wort.

2.3 Selbstoffenbarung Gottes im Wort

Das Wort (die Sprache) ist eine eigene Wirklichkeit, die es nur im Bereich menschlicher Kommunikation gibt. (Kommunikation gibt es auch im Tierreich, aber eben nicht in der differenzierten Form einer Sprache.) Der überwältigende Eindruck des Sternenhimmels in einer klaren Nacht kann eine tiefe Gotteserfahrung sein, ebenso wie eine unverhoffte Errettung aus höchster Not. Wie verschieden aber sind die Assoziationen und Deutungen, die solche Eindrücke hervorrufen können (und in den verschiedenen Religionen tatsächlich hervorgerufen haben)! Ein Satz hingegen wie: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde (der erste Satz der Bibel, 1.Mose 1,1) ist viel ein-deutiger: Es gab einen Anfang allen Seins, und in diesen Anfang hinein schuf ein Wesen, das hier „Gott“ (Elohim) genannt wird, all das, was wir am Himmel und auf der Erde wahrnehmen können.

Eine Gotteserkenntnis, die über die menschlichen und kulturbedingten Interpretationen der eigenen (individuellen und kollektiven, allgemeinen und persönlichen) Gotteserfahrungen hinausgeht, bedarf einer neuen Form von Gottesoffenbarung. Die Selbstoffenbarung Gottes im Wort ist diejenige Form von Gottesoffenbarung, die auch eine gemeinsame Gotteserkenntnis ermöglicht.

Als die Möglichkeiten sprachlicher Auffassung und Verständigung in der Menschheitsentwicklung weit genug fortentwickelt waren, um auch abstrakte, nicht bildhaft vorstellbare Inhalte benennen und beschreiben zu können, hat jene Macht, von der die ursprünglichen hilfreichen Gotteserfahrungen herkamen, inmitten der Vielzahl und Vielfalt religiöser Vorstellungen in einer ganz bestimmten kulturellen Umweltsituation in einer ganz bestimmten Weltgegend, die wir heute „Vorderer Orient“ nennen, erste sprachlich formulierte Mitteilungen gegeben, die eine Selbstoffenbarung Gottes in menschlich verstehbarer Form enthielten. Dabei bedeutet die Selbstoffenbarung Gottes in einem ganz konkreten ethnischen Umfeld (Israel) keine Zurücksetzung anderer Völker und Kulturen, denn sie ist offen für alle, die sich selbst ihr öffnen wollen. Dies geschah konkret zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten, zuerst im glaubensoffenen Bezugsrahmen einer religiös entwurzelten Familiengemeinschaft (Abraham), später in der Geschichte eines kleinen unbedeutenden, noch nomadenhaft lebenden Volkes (Israel). Diese Selbstoffenbarung Gottes in Wort war nun nicht mehr so unbestimmt und deutungsoffen, wie vorher die „wortlosen“ Erfahrungen. Allerdings gibt es auch in anderen Religionen grundlegende Texte, die als Selbstoffenbarung des Göttlichen verstanden werden (z. B. die Veden im Hinduismus, das Dao de jing im Daoismus Chinas, der Koran im Islam …). Hier in diesem Beitrag wird der Offenbarungsvorgang aus dem Blickwinkel biblischer Heilsgeschichte verstanden. Daraus lässt sich aber nicht der Anspruch ableiten, außerbiblische „heilige”Texte zu als irrelevant zu verurteilen. (siehe auch Beitrag 3 „Offenheit und Entschiedenheit im Glauben“).

Die gemeinsame Gotteserfahrung kann nur eine allgemeine Religiosität mit sehr verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und Gottesvorstellungen begründen. Erst die gemeinsame Gotteserkenntnis, die aus der Selbstoffenbarung Gottes im Wort kommt und durch die das Wesen Gottes selbst, sein Verhältnis zu uns Menschen, seine Absichten, Handlungsweisen, Wege und Ziele wenigstens in Andeutungen erkennbar werden, begründet eine Glaubensgemeinschaft in bewusster Beziehung zu einem personalen Gott. Die Erfahrungen mit der liebenden Gegenwart Gottes hat im Laufe der Jahrtausende sehr viele, sehr verschiedene Gottesvorstellungen hervorgebracht. Durch die Selbstoffenbarung Gottes im Wort können wir aber den kennenlernen und persönlich nahe kommen, von dem diese Erfahrungen stammen. Die Bibel Alten und Neuen Testaments enthält solche Selbstoffenbarungen Gottes im Wort.

Diese Selbstoffenbarung Gottes im Wort der Heiligen Schrift ist auch das entscheidende Korrektiv, das uns davor bewahren kann, unsere schlimmsten, erschreckendsten, traumatischten Erfahrungen, die wir ja auch machen und die uns entweder in einen Zustand von Schreckstarre versetzen oder in uns eine Welle von Abwehr, Gegenaggressivität und Hass auslösen, nun nachträglich religiös auszudeuten und aufzuwerten, sie zu dämonisieren und unseren „Himmel” mit dunklen, gewalttätigen Mächten zu bevölkern. Die Grundlage des biblischen Glaubens ist der dort offenbarte Heilsweg Gottes und die da wirkende Liebe Gottes mit den Menschen, nicht die Vorstellung von einem dunklen, bösen Gegen-Gott (Teufel, Satan), der mit dem Schöpfer des Lebens um die „Seelen” der Menschen ringt (und dann wäre es bis zur letzten Stunde eines Menschen nicht ausgemacht, wer diesen „Götterkampf” gewinnt und die „Seele” des Menschen als Siegestrophäe davonträgt). Siehe den Themenbeitrag „Zeit und „Ewigkeit” und dort die Abschnitte „Lebenszeit und Lebensende” und „ewiges Leben”.

Im Neuen Testament der Bibel wird die Selbstoffenbarung Gottes dann noch weitergeführt, indem dort das offenbarende Wort Gottes als Person in Erscheinung tritt. In Jesus von Nazareth wird die Selbstoffenbarung Gottes auf menschliche Weise anschaubar, erfahrbar und verstehbar; anschaubar im Handeln als Abbild der Liebe Gottes, erfahrbar als helfende und heilende Zuwendung, verstehbar in seiner Verkündigung.

2.4 Selbstoffenbarung Gottes in begleiteter und gedeuteter Geschichte eines erwählten Volkes

Wir können davon ausgehen, dass Gott ganz bewusst unter allen religiösen Milieus, die es vor ca. 4000 Jahren gab, dasjenige auswählte, das einerseits eine hohe Bereitschaft zu spiritueller Offenheit auszeichnete, und das andererseits am wenigsten „vorbelastet“ war von verfestigten religiösen Inhalten und Traditionen, um dort einen ersten Impuls seines Vorhabens einzubringen, durch das er einen Jahrtausende langen Heilsweg beginnen und zielführend begleiten wollte.

Die großen Kulturen der Weltgeschichte (z. B. die mesobotamische, die ägyptische, die indische, die chinesische, die griechisch-römische, die mittel- und südamerikanische …) haben alle auch große Religionen mit großer Strahlkraft und Außenwirkung hervorgebracht. Wie sehr jedoch diese Religionen Ausdruck der jeweiligen Kultur waren, zeigt schon die Tatsache, dass der Untergang der betreffenden Kulturen auch deren Religion mit in die Bedeutungslosigkeit fallen ließ (z.B. die mesobotamische, die ägyptische, die griechisch-römische, die mittel- und südamerikanische … Wer, außer ein paar Spezialisten, weiß denn noch etwas von der Religion der Sumerer oder der Inka?). Nur da, wo die grundlegenden Kulturen erhalten blieben, z. B. in Indien und China (wenn auch mit großen Veränderungen), da blieben auch die dort entstandenen Religionen lebendig und wirkungsvoll (z. B. Hinduismus, Buddhismus, Daoismus).

Der biblische Glaube bildet da eine große Ausnahme. Er entstand nicht als spirituelle Spitzen-Leistung einer großen Kultur, sondern im Lebensraum einer kulturell und machtpolitisch völlig bedeutungslosen Gemeinschaft eines Familien- und Stammesklans wandernder Hirten. Ähnliches gilt auch für das Christentum: Sein Entstehungsimpuls kam aus dem Judentum; aber schon wenige Jahre nach Bildung der ersten Gemeinden wurde dieses Fundament zerstört (70 nach Chr. durch die Vertreibung und Zerstreuung der Juden durch die Römer). Das Christentum entstand als Fremdkörper, als Gemeinschaft der „Herausgerufenen“ und „Ausgesonderten“ (1.Kor 1,2) und „Fremdlinge“ (1. Petr 1,1) im Römischen Reich und in den nordafrikanischen, arabischen und persischen Völkern.

In den biblischen Erzählungen von Abraham und seiner Familie und später in der Geschichte des Volkes Israel finden wir immer beides: Die religiöse Kultur aus dem zeitgeschichtlichen Hintergrund ihrer Geschichte und Umwelt, und darin hineinverwoben, aber doch erkennbar die Offenbarung Gottes und seiner Heilsgeschichte. Der kulturhistorische Hintergrund hat sich immer wieder verändert und doch konnte er die Rahmenbedingungen bereitstellen für die fortschreitende Offenbarung einer einzigartigen Beziehung zwischen Gott und Mensch. Diese historische Rahmenhandlung, innerhalb derer sich das Drama der biblischen Gottesoffenbarung vollzog, soll hier kurz angedeutet werden.

a) Kulturelles Umfeld eines nomadisch lebenden Familienklans

Die Geschichte der Offenbarung Gottes begann als Familiengeschichte mit allem, was Familiengeschichten interessant und manchmal auch abstoßend macht: Hass und Liebe, Betrug und Vertrauen, Flucht und Heimkehr, Verrat und Treue, Streit und Versöhnung… Dies alles im soziologischen Rahmen eines Klans nomadisch lebender Kleinvieh-Hirten, mit den harten Gesetzen einer Lebensgemeinschaft am Rande der Wüste und am Rande des Existenzminimums. Menschlich-allzumenschlich ging es zu, ohne hohe Philosophie, ohne beeindruckende Kulthandlungen, ohne mächtige Staatsorgane, ohne großartige Kunstwerke in Bildern und Bauten … und da hineinverwoben, vorsichtig, behutsam, fast unmerklich, oft erst in der Rückschau erkennbar: der rote Faden der Heilsgeschichte, der sich von da an durch die Geschichte Israels zog, und später auch durch die Geschichte der Völker.

Ja, gewiss, es gab Tausende solcher nomadisch lebender Familienklans mit ihrer je eigenen und besonderen Geschichte, aber nur in diesem einen offenbarte sich das Handeln einer Macht, die schon im kleinsten Anfang die größte Auswirkung mitbedacht und in Gang gesetzt hatte: „In dir sollen gesegnet werden alle Völker auf Erden“.

b) Kulturelles Umfeld eines versklavten, aber wachsenden Familienklans im Umfeld einer Hochkultur

Vom kulturellen Hintergrund der Israeliten während der Jahrhunderte der Sklaverei in Ägypten weiß man fast nichts. Selbstverständlich war das Umfeld der großartigen ägyptischen Kultur und Religion allgegenwärtig, bedrückend und faszinierend zugleich. Aber trotzdem hatten sich offensichtlich die Nachkommen der Abrahamsfamilie das Andenken an „den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (2. Mose 3,6) bewahrt und trotzdem blieben der Segen und die Verheißung gültig und wirksam. Die „Kinder Israels“ waren versklavt, ja, aber gerade dadurch ungebunden von Besitz, Machtpositionen, Kultstätten …, so konnten sie mit (materiell und spirituell) leichtem Gepäck in die Freiheit fliehen.

c) Kulturelles Umfeld eines befreiten, aber heimatlosen Stammesverbands

Grundlage des neuen Selbstverständnisses als Volk Gottes waren Gottesbegegnungen und Gotteserfahrungen in der Wüste: Totales Angewiesensein, Zweifel und Verzweiflung, aber in all dem immer wieder die Erfahrung der Hilfe und Rettung trotz eigenen Versagens. Es war die offene Zeit zwischen der zwangsweisen Gebundenheit in der Sklaverei und der freiwilligen Bindung in der Freiheit des eigenen Landes, in die hinein Gott sich selbst offenbarte. Ein Volk auf der Wanderschaft, keine archäologisch und historisch verwertbaren Spuren hinterlassend außer dieser einen: Dem Wort der Weisung und der Verheißung; diese Spur aber bleibt lesbar und bedeutungsvoll durch die Jahrtausende bis heute.

d) Kulturelles Umfeld eines sesshaft werdenden Stammesverbands

Die Sesshaftwerdung der nomadischen Stämme im „verheißenen Land“ war Chance und Risiko zugleich. Risiko, weil das gesammelte Volk im eigenen Land dazu neigen könnte, ihre spirituelle Offenheit zu verlieren und unter dicken Schichten religiöser Kultur und Tradition zu ersticken. Chance, weil ein ganzes Volk als Trägerschaft der Offenbarung ein wesentlich tragfähigeres Fundament bilden könnte als nur einige Familienklans wandernder Hirten. Während dieser Zeit hatte das Volk Israel keine verfasste Staatsform mit einer zentralen Regierungsmacht (etwa einem König), sondern wurde je nach Bedarf von „Richtern“ geleitet, die keinen dynastischen Anspruch vertraten, sondern jeweils von Boten Gottes benannt wurden.

e) Kulturelles Umfeld eines kleinen Königreichs zwischen den großen Machtblöcken

Das Königtum in Israel war schon im Entstehen gegen den Willen und die Absichten Gottes (1. Sam 8, 4-9), war schon zu sehr Selbstgefälligkeit und Selbstdarstellung, um als Gefäß für einen so leichten und leicht zu übersehenden Inhalt zu dienen, wie die Offenbarung göttlicher Zuwendung und Wegweisung. Trotzdem ging Gott diesen Weg mit und segnete diejenigen, die ihn offenen Herzens beschritten.

Die Zeit der israelischen Könige hat zwei Idealbilder hinterlassen, an dem sich die jeweilige Wirklichkeit der folgenden Jahrhunderte messen lassen musste (und gegenüber denen sie immer nur als ungenügend erscheinen konnte): Einmal das Idealbild von Herrschaft durch einen König, der als „Hirte“ seines Volkes regiert in der (verklärenden) Rückerinnerung an David und zweitens das Idealbild von Staatlichkeit als anerkanntes und starkes Königreich in der (verklärenden) Rückerinnerung an die Zeit unter Salomo. Als Rahmenbedingung für den Empfang und die Weitergabe der Gottesoffenbarung war aber das Königtum in Israel über Jahrhunderte hinweg nur sehr bedingt geeignet.

f) Kulturelles Umfeld eines Volkes in der Verbannung

Nach der Zerstörung Jerusalems durch das Heer des Nebukadnezar und nach der Wegführung großer Teile des Volkes Israel in die Babylonische Gefangenschaft begann im jüdischen Volk eine Phase neuer Aufmerksamkeit und Bereitschaft für die Botschaft Gottes. In der Verbannung, „an den Wassern zu Babel“ (Psalm 137), vollzog sich eine Neubesinnung hin zu den Erfahrungen und Verheißungen mit dem Gott ihrer Väter. Dort wurde nun das geistliche Erbe der Volksgeschichte und der darin enthaltenen Gotteserfahrungen gesammelt, zusammengestellt und neu schriftlich festgehalten. Immer wieder waren es die Phasen der Verunsicherung und Gefährdung der eigenen Existenz als Volks- und Glaubensgemeinschaft, die ihm das Bewusstsein seiner Gottesgeschichte neu stärkte.

g) Kulturelles Umfeld eines Vasallenstaates unter wechselnden Herrschern

Nach der Entlassung aus der Babylonischen Gefangenschaft konnten die Israeliten zwar in ihre Heimat zurückkehren, aber sie waren und blieben abhängige Vasallen fremder Mächte mit fremden Kulturen und deren Religionen. Manchmal ließen diese den Israeliten gewisse Freiräume in der Ausübung ihrer eigenen Religion; manchmal übten sie harten Druck und Verfolgung aus.

h) Kulturelles Umfeld eines vorübergehend eigenständigen Staates in einer Übergangszeit zwischen verschiedenen Hegemonien

Aus dem Aufbegehren gegen religiöse Unterdrückung entstand für kurze Zeit eine staatliche Eigenständigkeit unter dem Herrschergeschlecht der Hasmonäer. Die war aber nur anfangs auf eine Rückbesinnung auf die Werte und Inhalte der überlieferten Offenbarung bezogen und wurde bald von inneren und äußeren Machtkämpfen und kultureller Anpassung an die Mächte ihrer Zeit geprägt.

i) Kulturelles Umfeld einer Provinz des römischen Weltreiches

Die Unterdrücker waren neu, die Unterdrückung war die gleiche: Politische Abhängigkeit, wirtschaftliche Ausbeutung, kulturelle Überfremdung und religiöse Nötigung, nun durch die neue Weltmacht Rom, nur oft noch härter und konsequenter ausgeführt. Skrupellose Vasallenkönige aus der Herodes-Dynastie und gewalttätige römische Statthalter verschlimmerten die Lage noch. Und trotzdem wurde dies zum politischen und religiösen Hintergrund einer endgültigen Gottesoffenbarung: Die Liebe Gottes wurde als Mensch im Menschsein gegenwärtig und erfahrbar. Das Leben des Juden Jesus aus Nazareth wurde erkennbar zur Erfüllung der Verheißungen und Heilszusagen Gottes in der Heiligen Schrift.

Freilich stand die Offenbarung Gottes einerseits und deren Annahme im Volk Israel andererseits immer wieder in einem dramatischen Spannungsverhältnis zwischen Nachfolge und Verweigerung. Die großartige kulturelle und religiöse Umgebung im Vorderen Orient übte immer eine starke Faszination auf den kleinen weltpolitisch meist unbedeutenden Stammesverband der Juden aus. Dem stand zu halten und der eigenen Berufung treu zu bleiben, war Herausforderung über Jahrhunderte. Die Erwählung Israels als Erstempfänger der Gottesoffenbarung im Wort der Weisung und Verheißung ist auch Verpflichtung, und die Vernachlässigung oder gar Verweigerung dieser Verpflichtung stellt immer wieder auch die Existenz Israels als Volk Gottes in Frage.

Das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“ enthält derzeit folgende Beiträge:

Was ist Religion?

Grundlagen des Glaubens

Über-Lebenserfahrungen

Die Quelle der Menschlichkeit

Nur wir?

Frieden durch Religion?

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Grundlagen des Glaubens Version 2018-1

© 2011 Bodo Fiebig

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