Unser menschliches Zeitempfinden ist sehr unsicher. Manchmal kommt uns ein bestimmter Zeitabschnitt sehr lang vor, ein anderes Mal scheint uns ein Zeitabschnitt sehr kurz zu sein, obwohl uns ein Blick auf die Uhr zeigt, dass beide Male die genau gleiche Zeitspanne vergangen ist. Noch viel unsicherer wird unsere Zeitwahrnehmung, wenn wir es mit biblischen Aussagen über Zeitabläufe zu tun haben. Das sagt Jesus z. B. (Offb 3,11): „Ich komme bald …“ oder: (Mt 16,28): „Wahrlich, ich sage euch: Es sind etliche unter denen, die hier stehen, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie den Menschensohn kommen sehen in seinem Reich.“ Und jetzt sind schon zweitausend Jahre vergangen und das angekündigt Ereignis ist immer noch nicht eingetroffen! Wie soll man das verstehen?
Wir müssen umdenken: Jesu Naherwartung, die in vielen seiner Aussagen deutlich wird, war keine schwärmerische Fehlinterpretation der Absichten Gottes, die von der Gemeinde später wieder zurückgenommen und mühsam korrigiert werden musste (wie viele Theologen meinen), sondern sie entsprach dem beschlossenen Willen Gottes, dass dies so geschieht.
Dieser Gedanke kann uns irritieren: Also, das kann doch wohl nicht sein, dass der Plan Gottes, d. h. etwas was er sich vorgenommen hat und öffentlich verkündigen ließ, dass dies dann nicht zu Stande kommt. Sind denn die Pläne Gottes so leicht zu durchkreuzen, zieht Gott seine Zusagen so leicht wieder zurück, wird Gott so schnell seinen eigenen Versprechungen gegenüber untreu, dass er etwas sagt, und es geschieht nicht? Nein, ganz gewiss nicht. Es liegt nicht an Gottes Untreue oder Wankelmütigkeit, wenn wir nichts von der Erfüllung seiner Verheißungen wahrnehmen, sondern an unserer Blindheit. Gottes Vorsätze sind unerschütterlich. Er führt seine Pläne durch und nichts kann ihn aufhalten, seine Verheißungen kommen zum genau festgelegten Zeitpunkt zur Erfüllung, bei ihm gibt es keinen Rückzieher und keine Verzögerung.
Erinnern wir uns, was im Beitrag 1 „Zeit-Bilder“ über das biblische Zeit-Verständnis gesagt wurde. Wir können jetzt dieses Bild noch einmal herholen und etwas erweitern. Wir haben gesehen: Das biblische Zeit-Bild ist epochal. Jede Zeitepoche hat ihre von Gott vorgegebene Ausrichtung, ihr festgelegtes Ziel und ihr Zeitmaß. In unerschütterlicher, unaufhaltsamer Gleichmäßigkeit geht Gottes Heilsweg von Station zu Station, von Ziel zu Ziel. Allerdings, nach unseren menschlichen Zeitvorstellungen kann sich der gleiche Abschnitt der Heilsgeschichte Gottes in ganz verschiedenen Zeiterfahrungen darstellen. Es gibt für das menschliche Zeiterleben der Gottesgeschichte offenbar verschiedene Zeitebenen: Die Ebenen von Tagen, Wochen, Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten … und die sind noch nicht festgelegt, sondern hängen von unseren Einstellungen und Verhaltensweisen ab. Ich will das an einem biblischen Beispiel deutlich machen:
Als das Volk Israel nach der Flucht aus Ägypten an der Grenze zum verheißenen Land angekommen war, da verließ die Israeliten plötzlich der Mut, sodass sie es nicht wagten, in das Land einzudringen, obwohl Gott ihnen seine Hilfe zugesichert hatte. In wenigen Tagen und Wochen hätten sie das Land einnehmen können. Aber durch den Ungehorsam des Volkes in dieser heilsgeschichtlich bedeutsamen, ja entscheidenden Situation, verschob sich auf einmal die menschliche Zeiterfahrung für die Israeliten von der Ebene von Tagen auf die Ebene von Jahren. 40 Jahre mussten sie nun durch die Wüste irren, bis sie heilsgeschichtlich wieder an genau der gleichen Stelle angelangt waren und sie den Schritt tun konnten, den sie ohne ihren Ungehorsam in wenigen Tagen hätten vollziehen können.
Durch den Ungehorsam des Gottesvolkes wurde das Geschehen für die menschliche Zeiterfahrung von der Ebene von Tagen auf die Ebene von Jahren verlagert. Für das Zeitmaß Gottes, für das „1000 Jahre wie ein Tag“ sind, war alles unbeirrbar und unaufhaltsam seinen vorgegebenen Weg gegangen. Wir können uns das bildhaft so vorstellen: Je näher wir uns zu Gott halten, seinen Weg mitgehen, seine Liebe wirken lassen und seinen Willen tun, desto unmittelbarer erleben wir das Fortschreiten der Heilsgeschichte Gottes auf das Ziel hin, wo er alles neu machen wird. Und je mehr wir uns von Gott, vom Zentrum seines Willens und seiner Liebe entfernen, seinen Heilsweg verlassen und uns an der Peripherie menschlicher Triebe, Ängste, Wünsche und Vorstellungen aufhalten, desto länger wird für unser menschliches Zeiterleben der Weg, der für den gleichen „Fort-Schritt“ der Heilsgeschichte nötig ist.

Sehen wir uns dazu die entsprechende Grafik an: Da ist ein Ausschnitt der Heilsgeschichte als Zeitleiste dargestellt. Unten sind die entsprechenden Abschnitte und Stationen im unerschütterlichen Gleichmaß der Ordnung Gottes angedeutet. Darüber sind die gleichen Zeitabschnitte in der menschlichen Zeiterfahrung dargestellt. Es beginnt hier mit den Jahrhunderten vor Christus bis zum Zeitpunkt der Geburt Jesu. Die Zeitabläufe bewegen sich auf der Ebene von Jahrhunderten. Das Reich Alexanders des Großen ist entstanden und zerfallen, die Seleukiden haben eine unerbittlich antijüdische Herrschaft aufgerichtet, die durch den Umsturz der Makkabäer/Hasmonäer beendet wurde. Danach kam die Unterdrückung durch die Römer und das Reich des Herodes … Weltgeschichtlich betrachtet eine turbulente Zeit. Heilsgeschichtlich und von Gott her gesehen, hatte sich kaum etwas bewegt.
Dann aber geschieht durch die Geburt Jesu Entscheidendes. Ein ganz neuer Abschnitt in der Heilsgeschichte Gottes beginnt. Etwa dreißig Jahre lang bleibt das im Verborgenen. Danach, im öffentlichen Wirken Jesu, geschehen innerhalb von etwa drei Jahren wesentlichere Heilsereignisse als sonst in Jahrhunderten. Am Schluss des Lebens Jesu drängen sich die umwälzendsten Vorgänge, wie sie in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte zuvor noch nie geschehen waren, in drei Tagen zusammen: Passion, Tod und Auferstehung Jesu. Zerstörung und Neuschöpfung des Heils in wenigen Stunden. So sieht das im Licht unserer Zeiterfahrungen gesehen aus. Vor den Augen Gottes hatte jeder dieser Abschnitte das genau gleiche Zeitmaß.
Nach der Himmelfahrt Jesu, in der Zeit der urchristlichen Gemeinde und den Anfängen der Kirche, ereigneten sich innerhalb weniger Jahre und Jahrzehnte entscheidende Entwicklungen: Das frühe Christentum breitete sich mit großer geistlicher Vollmacht und Durchschlagskraft in der damals bekannten Welt aus.
Dann aber geschahen entscheidende Ein- und Abbrüche: Die sich mächtig ausbreitende heidenchristliche Kirche trennte sich von ihren judenchristlichen Wurzeln. Die Einheit des Volkes Gottes aus Juden und Heiden zerbrach. Und danach folgten unaufhörlich neue Spaltungen innerhalb der heidenchristlichen Kirche. Infolge dieses Ungehorsams gegenüber der erklärten Absicht Gottes (vgl. Jo 17, 20-23) verlagerte sich nun das Zeitgeschehen weit weg vom Zentrum des Heils auf die Ebene von Jahrhunderten (wobei dann aber doch zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten durch bestimmte Menschen mächtige Zeichen des Heils sichtbar wurden, wo, wie in einem Zeitraffer, heilsgeschichtliche Entwicklungen vorweggenommen wurden, die die allgemeine Kirche und Menschheit erst in Jahrhunderten nachvollziehen konnten).
Erst im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert kamen dann Entwicklungen in Gang, die den Gang der Ereignisse aufs Ganze gesehen wieder beschleunigten: die Rückkehr des jüdischen Volkes in sein verheißenes Land entsprechend jahrtausendealter Verheißungen und die Gründung des Staates Israel. Dazu eine Bewegung zu mehr Einheit unter den Christen, durch die, wenigstens ansatzweise, manche Spaltungen und Trennungen der Jahrhunderte überwunden werden konnten. Und es wird in der Zukunft entscheidend vom Glauben und Verhalten der Christen abhängen, ob diese Entwicklung direkt und auf kurzem Wege zur Vollendung im Reich Gottes führt, oder ob wir wieder für Jahrhunderte in der Warteschleife des Ungehorsams bleiben.
© 2012 Bodo Fiebig, göttliches Zeitmaß und menschliches Zeitempfinden, Version 2017-10
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