„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so heißt der erste Satz im ersten Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Und wir wissen, dass er nicht stimmt. Die Würde des Menschen ist in der Realität leider doch antastbar und verletzlich. Jeden Tag wird die Würde von Menschen auch in unserem Land millionenfach nicht nur „angetastet“, sondern beschädigt, manchmal geschändet und mit Füßen getreten (man könnte dabei z. B. an die große Zahl von Frauen denken, die allein in unserem Land mit mehr oder weniger Gewalt in die Prostitution gezwungen werden). „Die Würde des Menschen darf nicht angetastet werden“, wäre eine ehrlichere Formulierung. Sie würde uns daran erinnern, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde jederzeit und für jeden eine Aufgabe und Herausforderung ist und bleibt. Zunächst müsste aber erst einmal geklärt sein, was diese große Begriff der „Menschenwürde“ in der kleinen Perspektive des Alltags eigentlich konkret meint.
1) Würde durch Wertschätzung
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, dessen Wert und Würde nicht ausschließlich von seinen persönlichen Qualitäten (z. B. Körperkraft oder Intelligenz) und seinen sozialen Rangordnungen (z. B. seiner Position in hierarchisch geordneten Machtsystemen) bestimmt sind. Einige Beispiele mögen das belegen:
Einem behinderten Kind z. B., das von seinen Eltern mit kaum nachlassender Hingabe und uneingeschränkter Liebe und Hochachtung gepflegt und gefördert wird, kommt dadurch eine Würde zu, wie sonst kaum einem „normalen“ Menschen mit überdurchschnittlichen Begabungen und Fähigkeiten.
Ein junger Mann, eine junge Frau, deren Äußeres nicht den gängigen Modeansichten entspricht oder deren Verhalten, Redeweise und Körpersprache nicht dem erwarteten, an Vorbildern aus Film und Starkult orientierten Stil folgt, mögen in den Augen vieler Gleichaltrigen nur Randfiguren der „Szene“ sein, wenn aber auch nur ein einziger Mensch ihnen in aufrichtiger Zuneigung begegnet und in unerschütterlicher Treue zu ihnen hält, so erfahren sie dadurch eine Aufwertung und Würdigung, um die sie auch die geschicktesten Flirt-Experten und erfolgreichsten Beziehungskünstlerinnen beneiden.
Ein alt gewordener Mensch, der von seinem nächsten Bezugspersonen als eine vom Leben geformte und durch viele, auch leidvolle Erfahrungen gereifte Person geachtet und geschätzt wird, obwohl er jetzt, schwach und hinfällig, kaum etwas davon noch realisieren und darstellen kann, ist von einer Würde umgeben, die mancher junge und erfolgreiche Mensch schmerzhaft vermisst.
Wir stellen als erstes Ergebnis unserer Suche nach dem Wesen und der Herkunft von Menschenwürde fest: Die Würde eines Menschen misst sich mit dem Maß der Achtung und der Liebe, die ihm von anderen entgegengebracht wird.
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Wenn wir nach den Menschen gefragt werden, die in unseren Augen die Bedeutendsten der vergangenen Jahrzehnte waren, Menschen, an denen die Würde des Menschseins am überzeugendsten erkennbar wurde, so stellen wir im Rückblick überrascht fest: Es waren nicht die Mächtigsten und Erfolgreichsten, nicht die Sportlichsten, Klügsten und Schönsten. Uns fällt vielleicht Nelson Mandela ein, der nach den schrecklichen Jahrzehnten der Rassentrennung in Südafrika das Volk zu Schritten der Befriedung und Versöhnung führte oder Martin-Luther-King, der für die Überwindung der Rassentrennung in den USA kämpfte oder Mutter Theresa von Kalkutta, die ihr ganzes Leben und Sein in den Dienst an den Geringsten und Ärmsten, den Leidenden und Sterbenden stellte, oder auch Menschen aus unserer nächsten Umgebung, die in großer Hingabe und Treue ihre Gaben und Kräfte für andere einsetzen.
Wir halten als zweites Ergebnis fest: Die Würde eines Menschen misst sich mit dem Maß der Achtung und der Liebe, die er selbst anderen Menschen entgegenbringt.
Wenn das aber so ist, und die Würde des Menschseins sich mit diesem doppelten Maß der Mitmenschlichkeit messen lassen muss, dann bleiben alle Anstrengungen zur Selbstaufwertung grundsätzlich vergeblich, dann kann ein Mensch vielleicht etwas für die Höherstufung seiner sozialen Position tun, aber wenn es um die Würde des Menschseins geht, dann kann er am ehesten etwas zur Würdigung seiner Mitmenschen beitragen, aber kaum etwas für sich selbst.
Selbstaufwertung (siehe Beitrag 7 „Ich und die andern“) oder Würdigung des Mitmenschen (mit anderen Worten ausgedrückt: Egoismus oder Liebe), das ist der entscheidende Unterschied. In Demut achte einer den andern höher als sich selbst (Phil 2,3), so rät der Apostel Paulus vor etwa zweitausend Jahren der christlichen Gemeinde in Philippi. Nicht, weil er ein geringes Selbstwertgefühl für eine christliche Tugend hält, sondern weil er weiß, dass die Wertschätzung des andern (die ich ihm gebe und die ich von ihm empfange) die Säule ist, die das eigene Selbstbewusstsein trägt. Das Fundament aber, auf dem beides (Selbstbewusstsein und Wertschätzung des Nächsten) ruht, kann sich der Mensch nicht selbst legen und wenn er sich noch so sehr darum bemüht. Diese Grundlegung geschieht im Wesentlichen, bevor ein Mensch sie bewusst wahrnehmen und willentlich damit umgehen kann. Auf zwei Ebenen: einer menschlich-sozialen Ebene und einer göttlich-spirituellen Ebene.
Die menschliche Ebene ist jedem sofort zugänglich: Die Erfahrungen der frühesten Kindheit, vor allem durch die liebevolle Zuwendung der nächsten Bezugspersonen (oder eben durch deren grobe Misshandlung, kalte Ablehnung, desinteressierte Vernachlässigung, hilflose Überforderung …) prägen unmittelbar die emotionale Grundstimmung und ebenso die geistigen Grundhaltungen, die unsere Umweltwahrnehmung, unser Weltverständnis und unser Selbstwertempfinden entscheidend mitbestimmen (siehe dazu auch das Thema „Friede auf Erden“).
Schwieriger ist es mit der zweiten, der geistlichen und göttlichen Ebene. Einerseits gehört die religiöse Prägung des Elternhauses mit zum oben genannten familiären Umfeld, sie ist Teil der kulturellen Einbettung der Familie in den größeren Sozialzusammenhang der Gesellschaft (oder auch nur in einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, z. B. einer Glaubensgemeinschaft). Andererseits begegnet uns hier eine Grundlegung menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, dessen Fundamente noch viel tiefer liegen, als die des gesellschaftlichen Miteinanders: in der voraussetzungslosen Liebe Gottes.
2 Menschenwürde durch Gottesliebe
Jer 31,3: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. So spricht Gott zu den Menschen seines Volkes Israel. Wenn schon die Achtung und die Liebe, die sich Menschen untereinander entgegenbringen so grundlegend sind für die Würde des Menschseins (siehe oben), wie viel mehr dann die Liebe dessen, der alles Menschsein geschaffen hat. Seine Liebe ist bedingungsloser, unerschütterlicher und hingabebereiter, als es menschliche Liebe je sein kann. Ja, sie mündet in letzter Konsequenz in der Selbsthingabe Gottes an das Menschsein als Gegenüber seiner Liebe. 1. Jo 4,9: Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Nicht nur, dass wir durch ihn leben sollen, sondern auch, dass wir durch ihn in der Liebe leben sollen. Joh 13, 34+35: Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Ja, Gott hat uns, das Menschsein als Ganzes und jeden Menschen als Einzelnen, gewürdigt, Träger und Spender der Liebe zu sein, die das innerste Wesen seiner Gottheit ausmacht (1. Jo 4, 16: Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm). In Jesus ist diese Liebe Gottes Mensch geworden und das Menschsein zur anschaubaren Vergegenwärtigung Gottes (1. Mose 1,27: Und Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn). Und diese menschgewordene Liebe Gottes soll nun (zunächst in der christlichen Gemeinde, aber dann auch in allem menschlichen Miteinander) zum Wesensmerkmal des Menschseins werden. Röm 5,5: …die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist.
Diese Ausgießung der Liebe ist Selbsthingabe Gottes: Gott gießt seine Liebe (und damit sich selbst) aus ins Menschsein, ganz konkret und erfahrbar in der Person seines „Sohnes“ Jesus von Nazareth. In ihm war die Liebe Gottes so gegenwärtig und wirksam, dass sie bereit war, sich ganz ins Menschsein zu investieren, auch auf die Gefahr hin, dass sie dort missachtet, gehasst, verraten und getötet wird. Durch den Geist Gottes kann die Liebe, die das innerste Wesen Gottes ausmacht, auch zum Wesenskern des Menschseins werden. Dabei ist diese Hingabe Gottes so rückhaltlos, dass die Verletzung der Liebe unter den Menschen (in jedem menschlichen Miteinander) auch die Würde Gottes verletzt. Gleichzeitig ist durch diese Hingabe Gottes das Menschsein selbst zu einer Würde „aufgewertet“, die jedes „menschliche“ Maß übersteigt.
3 Aufwertung des Menschseins durch göttliche Berufung
Die Würde des Menschseins (im Unterschied zu allen anderen Lebewesen) besteht darin, dass der Mensch nicht ein bloßes Naturwesen ist (das auch), auch nicht nur ein Kulturwesen (das auch), sondern von Gott zu einem besonderen Dasein berufen (vgl. Beitrag 11 „Die Identität des Ich“). Das Menschsein hat ein Ziel: Die Abbildung Gottes in der geschaffenen Welt. 1. Mose 1, 26+27: Und es sprach Gott: Machen wollen wir Menschen in unserem Bild, gemäß unserer Gleichheit. (…) Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich erschuf er sie (eigene Übersetzung, siehe den Themenbeitrag „Schöpfungsglaube und modernes Weltbild“). Dieses Ziel erreicht der Mensch aber nicht schon durch seine biologische Existenz und seine geistig-kulturelle Entfaltung. Auch der körperlich Vollendetste und geistig Gebildetste ist damit noch nicht Bild Gottes. Er ist von diesem Ziel genauso weit entfernt wie der körperlich und geistig Behinderte. „Zum Bilde Gottes“ bedeutet ja nicht, dass der Mensch dem Aussehen nach Gott nachgebildet wäre. In der ganzen Bibel steht nichts darüber, wie Gott aussieht. Aber die Bibel ist von der ersten bis zur letzten Seite voll davon, was Gott tut, was er aus Liebe tut. Darin also, im Tun der Liebe soll der Mensch ein Abbild Gottes sein. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns… (1. Johannes 4,12, Luther-Übers.).
Weil „niemand Gott jemals gesehen“ hat, gibt Gott ein sichtbares Gleichnis seines Wesens in die Schöpfung. Das, was den Menschen Gott ähnlich macht, ihm zum Bilde, das ist sein Liebender-und-Geliebter-Sein: Mann und Frau, zwei, liebend einander zugetan. Da Gott den Menschen schaffen wollte als einen, der ihm ähnlich sei, musste er ihn als ein Wesen schaffen, das zum Geben und Empfangen von Liebe fähig und bereit ist. Die Liebe zwischen Mann und Frau soll das am deutlichsten erkennbare Zeichen für das Wesen und die Anwesenheit Gottes in der Schöpfung sein. Aber nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau kann Abbild Gottes in der Schöpfung sein, sondern jede Liebe, die bereit ist, um des andern willen sich selbst zurückzunehmen, die sich am andern freut, ohne ihn besitzen und beherrschen zu wollen, die sich verschenkt, ohne nach Gegenleistungen zu fragen. Durch die tätige Verwirklichung solcher Liebe wird das Menschsein zum sichtbaren und erfahrbaren Gleichnis Gottes.
Welche Wertschätzung bringt Gott, der Schöpfer des Universums und Erhalter allen Lebens dem Menschsein entgegen, dadurch, dass er sich selbst im Menschsein (durch die im Miteinander von Menschen verwirklichte Liebe) vergegenwärtigen will! Und welche unüberbietbare Würde verleiht er damit dem Menschsein als Ganzes, jeder menschlichen Gemeinschaft, indem er sie „zu seinem Bild“ erwählt und beruft!
Zugleich rührt uns aber auch ein großes Erschrecken an angesichts unserer Erfahrungen in Gegenwart und Geschichte, wie weit sich menschliches Dasein im Denken, Reden und Handeln von dieser Grundberufung des Menschseins entfernen kann!
Wer bin ich? Auf diese Frage gibt es nur sehr subjektive und sehr vorläufige Antworten. Objektiv (weil in Gott begründet) und bleibend gültig dagegen ist die Antwort auf die Frage „wer soll (und kann!) ich sein?“: Abbild der Liebe Gottes in der Gemeinschaft des Menschseins“.