Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Wer bin ich?

Beitrag 3: Persönlichkeit (Bodo Fiebig12. Februar 2019)

Vielfalt des eigenen Selbst- und Weltverständnisses und Einheit der Person, wie passt das zusammen? In diesem Beitrag wird erst einmal ein Blick auf die Vielfalt und Differenziertheit menschlicher Persönlichkeit geworfen, anschließend im Beitrag 4 „Des Menschen Herz“ wird auf die integrierende Kraft im Innern des Menschen hingewiesen, die aus dieser Vielfalt die integrierte Einheit der Person macht.

1 Teilaspekte der Persönlichkeit

Der Mensch ist ein Ganzes, und trotzdem sind wir gewohnt, Teilaspekte dieser Ganzheit zu unterscheiden. Das weckt in uns ein Unbehagen, denn wir empfinden es als unangemessen, Einzelteile und Einzelfunktionen aus dem integrierten Ganzen einer Person herauszulösen und gesondert zu betrachten. Das Ganze ist ja mehr als die Summe seiner Teile. Jeder Mensch ist ein einmaliges unwiederholbares Individuum und kann nur als solches angemessen wahrgenommen werden. Das Entscheidende ist nicht, ihn in seinen Teilaspekten zu erkennen, sondern ihn als Ganzen zu erleben und (vielleicht) auch zu lieben.

Trotzdem brauchen wir ein System von Kategorien, um sinnvoll von der Ganzheit des Menschen reden zu können; und trotzdem ist es notwendig und wichtig, auch von den Teilaspekten des Menschseins etwas zu wissen und etwas von der Komplexität ihrer Zusammenhänge zu verstehen. Wir kommen ja nicht aus ohne sie. Um ein komplexes Ganzes zu erkennen und mit ihm angemessen umgehen zu können, brauchen wir auch eine Wahrnehmung und Zusammenschau der einzelnen Bestandteile und ihrer Funktionszusammenhänge.

Bei jeder Begegnung mit einem Menschen nehmen wir auch solche Teilaspekte wahr: Das Aussehen, die Bewegung und Körpersprache, die Stimme und Sprechweise, die Art zu argumentieren und zu handeln … Und es ist wichtig, solche Einzelaspekte wahrzunehmen, denn der Gesamteindruck, den wir von einer Person haben, setzen wir unbewusst aus solchen Einzelwahrnehmungen zusammen. Dabei hängt die Intensität und Bewertung der Wahrnehmungen von der jeweiligen Gesamtsituation ab, in der eine solche Begegnung stattfindet, und von den Zusatzinformationen, die wir sonst noch über unser Gegenüber haben. Wir werden das Verhalten eines Menschen ganz anders aufnehmen und berücksichtigen, wenn wir bestimmte Details über ihn schon kennen: wenn wir z. B. wissen, dass unser Gegenüber schwer krank ist oder an einer bestimmten Sache brennend interessiert, in einer bestimmten sozialen Position mit bestimmten Vollmachten ausgestattet oder frisch verliebt … Unser Vorwissen lässt uns neue Erfahrungen differenzierter wahrnehmen und leichter einordnen. Das Wissen und das Bewusstsein von der Weite und Vielfalt der Aspekte des Menschseins kann unsere Wahrnehmung der Mitmenschen vor Verein­seitigung und Verengung bewahren. Unser Vorwissen birgt aber immer auch die Gefahr, zu Vorurteilen zu führen. Im Folgenden werden Teilaspekte des Menschseins im Überblick zusammengestellt, ohne sie detailliert zu beschreiben.

  1. a) körperlicher Aspekt

Die körperliche Erscheinung ist das Erste, was wir bei einer flüchtigen Begegnung von einem Menschen wahrnehmen. Sie ist auch der einzige Aspekt, der von einem Gegenüber direkt wahrnehmbar ist. Alle anderen Aspekte, geistige, emotionale usw., müssen sich irgendwie im Körperlichen ausdrücken, damit sie von uns wahrgenommen werden können.

  • körperliche Erscheinung (Aussehen, Gestalt, Bewegungsformen, Körpersprache, Stimme, Sprechweise, erotische Ausstrahlung und sexuelle Attraktivität …)
  • körperliche Eigenschaften (Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Geschicklichkeit, Wahrnehmungsfähigkeit der Sinnesorgane, Alter, Behinderung, Krankheit …)
  • körperliche Ausdrucksfähigkeit (in Bewegung, Mimik, Tanz, Musik, Sprache, darstellender und bild­nerischer Kunst …)
  1. b) Geistiger Aspekt

Beim Menschen hat der geistige Aspekt (im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen) eine überragende Bedeutung. Unser Selbstverständnis und unsere Umweltwahrnehmung hängen weitgehend von ihm ab. Heute leben die meisten Menschen in einer Umwelt, die nicht mehr mit der Instinktausstattung der Urmenschen zu bewältigen ist, sondern in jeder Minute geistige Anstrengungen erfordert, um sich in ihr zurechtzufinden und angemessen zu handeln.

  • geistige Wahrnehmungsfähigkeit (auffassen, erkennen, verstehen, erfassen von Situationen und Zusammenhängen, Sprachverständnis, …)
  • geistige Verarbeitungsfähigkeit (Sachlogisches, schlussfolgerndes Denken, zusammenführen und verknüp­fen verschiedener Fakten, Vorerfahrungen, Details usw. zu einem neuen sinnvollen Ganzen …)
  • geistige Gestaltungsfähigkeit (kreative Ausdrucksfähigkeit sprachlicher, sachlicher, wissenschaftlicher, künstlerischer … Inhalte)
  1. c) emotionaler Aspekt

Wir können die Bedeutung der Emotionalität für die Prägung der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen kaum überschätzen. Sie ist, ob wir das wollen und wahrnehmen oder nicht, in allen anderen Aspekten des Menschseins gegenwärtig und bestimmt die gefühlsmäßige Grundfärbung und den persönlichen Bedeutungsgehalt jeder Situation mit.

  • emotionale Wahrnehmung (emotionale Aufmerksamkeit, Empfindsamkeit, Ansprechbarkeit)
  • emotionale Zuwendung (Fähigkeit, auf emotionaler Ebene Kontakte und Beziehungen aufzunehmen und emotionale Inhalte mitzuteilen)
  • emotionale Gestaltung (Gestaltung emotional begründeter Ausdrucksformen, z. B. sozial angepasst, beherrscht, unterkühlt, intensiv, eruptiv …)
  1. d) sozialer Aspekt

Der Mensch ist kein Einzelwesen, er kann auf Dauer nur als Teil eines sozialen Beziehungsgefüges existieren. Und er kann sich auf Dauer nur in einem menschlichen Miteinander wohlfühlen, in dem er selbst eine als positiv empfundene Stellung einnimmt.

  • soziale Wahrnehmungsfähigkeit (Offenheit und Fähigkeit zur Wahrnehmung sozialer Beziehungen und Interaktionen)
  • soziale Beziehungsfähigkeit (Bereitschaft und Fähigkeit zur Aufnahme und Ausbau von Beziehungen)
  • soziale Gestaltungsfähigkeit (bewusste Gestaltung und Pflege sozialer Beziehungen und Lebensräume)

 

  1. e) kultureller Aspekt

Jeder Mensch ist in eine kulturelle Gesamtsituation und in eine kulturgeschichtliche Entwicklung hineingeboren. Diese prägen sein Weltverständnis und sein Menschenbild, sein Selbstverständnis und seine Persönlichkeit wesentlich mit.

  • Kulturelle Offenheit (positive oder negative Wahrnehmung verschiedener kulturell geprägter Lebensformen und Entwicklungen)
  • Kulturelle Beziehungsfähigkeit (Bereitschaft, sich auf Begegnungen mit anderen Kulturen einzulassen und sie als Bereicherung anzunehmen)
  • Kulturelle Gestaltungsfähigkeit (Möglichkeit der eigenen kulturellen Identität Ausdruck zu verleihen und darin Impulse aus anderen Kulturen aufzunehmen)

 

  1. f) weltanschaulich-religiöser Aspekt

Die Bedeutung dieses Teilaspekts für die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen wird normalerweise sträflich unterschätzt oder ganz vernachlässigt. Dennoch: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das die Erfahrungen seines eigenen Lebens und die Vorgänge in seiner Umwelt in einem als sinnvoll empfundenen Bedeutungszusammenhang stellen kann – und muss (siehe den folgenden Beitrag “Des Menschen Herz“). Religion bzw. Weltanschauung sind nicht verzichtbare Zutaten, sondern notwendige Bestandteile des Menschseins (siehe das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“).

  • religiös – weltanschauliche Ansprechbarkeit (Offenheit für existenzielle Fragestellungen und religiöse Anliegen und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Grundfragen des Glaubens)
  • religiös – weltanschauliche Bindungsfähigkeit (Bereitschaft zu dauerhafter Einbindung in eine Glaubens- und Gesinnungsgemeinschaft)
  • ethische Entschiedenheit (Bereitschaft, ethische Entscheidungen auf der Grundlage von religiösen/weltanschaulichen Überzeugungen auch gegen Widerstände durchzuhalten)

Zu bedenken ist allerdings, dass die Persönlichkeit eines Menschen sich immer zwischen Kontinuität und Wandel bewegt. Sie darf niemals auf die gegenwärtige Erscheinungsweise oder einen bestimmten Stand der Entwicklung „festgenagelt“ werden, und doch ist und bleibt sie auch eine einmalige und unwiederholbare Schöpfung Gottes mit einer unzerstörbaren Identität, die alle Wandlungen mitvollzieht. Darüber hinaus muss man beachten, dass die Fremdwahrnehmung einer Person auch (und oft weitgehend) vom je eigenen Selbstbild und Weltbild (und möglichen Voreingenommenheiten) des „Beobachters“ abhängt.

2 Bedeutung einzelner Aspekte für die Gesamtpersönlichkeit

Alle die oben genannten Aspekte der Persönlichkeit können bei einem Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt und für die Person mehr oder weniger bestimmend sein. Es kommt ja z. B. in einer Gruppe von Jungen auf dem Schulpausehof nicht nur darauf an, dass einer von ihnen über eine bestimmte Muskelkraft verfügt (oder eine überzeugende Redegabe oder Führungsstärke usw.) sondern auch, wie weit er sein Selbstbewusstsein und seine soziale Stellung von diesen Eigenschaften her bestimmt sein lässt. Es können auch starke Begabungen ungenutzt bleiben und brachliegen, sodass sie für das Erscheinungsbild eines Menschen fast ohne Auswirkung bleiben. So kann die Bedeutung der einzelnen Teilaspekte für die Ausprägung der Gesamtpersönlichkeit bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich gewichtet sein durch die jeweilige Intensität, Motivation und Verantwortung, mit der die einzelne Aspekte zum Tragen kommen.

  1. Intensität (Ausmaß und Schwerpunkte einzelner Eigenschaften, Begabungen und Fähigkeiten innerhalb der Gesamtpersönlichkeit). Durch sie können einzelne Teilbereiche eine starke Betonung erfahren.
  2. Motivation (Inhalt und Stärke des Antriebs und des Einsatzes für ein Anliegen). Das Engagement, die Hingabe für ein bestimmtes Anliegen kann die Persönlichkeit eines Menschen stärker bestimmen als eine außerordentliche Begabung.
  3. Verantwortung (Einsatz für ethische Maximen und ihre weltanschaulich – religiösen Begründungen). Die Entschiedenheit für eigene Standpunkte, die Offenheit für die Überzeugungen anderer und die Selbstverpflichtung, sich im Leben, Reden und Handeln an bestimmte ethische Vorentscheidungen zu binden, bilden eine integrierende Kraft, die eine Gesamtpersönlichkeit stärker betonen kann als selbst herausragende Einzelaspekte.

3 Gesamtheit der Person

Wie schon erwähnt, ist die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen nicht einfach gleichzusetzen mit der Summe seiner Einzelaspekte. In jeder Person verbinden und verdichten sich diese Aspekte durch vielfältige interne Beziehungen, Überlagerungen und Abstimmungen zu einer integrierten Gesamtheit, in der die Einzelaspekte erst ihre persönliche Färbung und Bedeutung bekommen. Um diese Gesamtheit geht es im Folgenden. Dabei werden wir jetzt nur einen ersten Eindruck von dieser Ganzheit und Einheit bekommen. In den folgenden Beiträgen „Des Menschen Herz“ und „Die Zentrale des Selbst“ wird noch umfassender davon zu reden sein.

Die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen mit allen seinen Teilaspekten (siehe oben) steht auf zwei tragenden Säulen: Erstens der genetischen Ausstattung und zweitens der Gesamtheit der Formung, welche die biologisch-genetische Grundlage der Person im Laufe ihrer Lebensgeschichte erfahren hat. Seit Jahrhunderten geht der Streit der Gelehrten darum, ob ein Mensch wesentlicher durch sein biologisches Erbe bestimmt wird oder durch seine Lebensgeschichte. Eine solche Unterscheidung und Aufrechnung von Anteilen scheint aus heutiger Sicht wenig sinnvoll. Beide, die biologische (genetische) Ausstattung und die Formung durch die Lebensgeschichte machen immer gemeinsam die Persönlichkeit eines Menschen aus.

  1. a) Ausstattung

Jeder Mensch ist in seiner Erscheinung und seinem Verhalten wesentlich bestimmt durch seine genetische Veranlagung, durch seine einmalige (Ausnahme: eineiige Zwillinge …) genetische „Personenbeschreibung“. Sie bestimmt die biologische Grundausstattung einer Person. Sie ist (bis jetzt jedenfalls) nachträglich, also nach der Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle nicht mehr veränderbar. Freilich kann man manche Erscheinungsformen der genetischen Veranlagung äußerlich korrigieren (Die Haare anders färben, die Nase verkleinern, die Brüste vergrößern …), allerdings nur in dem Rahmen, welchen die biologischen Gegebenheiten zulassen. Aus einem Kind mit angeborener Rechenschwäche wird man kaum einen großen Mathematiker machen können. Wobei uns bewusst sein muss, dass das genetisches Erbe der jeweiligen Elternfamilien mit ihrer langen Liste von Vorfahren bis in die Tiefen der Menschheitsgeschichte reicht. Aber nicht nur das: Alles Leben ist genetisch miteinander verwandt, so dass unsere genetische Ahnenreihe bis zu ersten Urzelle des Lebens reicht. Jeder Mensch ist eine ganz eigene, unverwechselbar besondere Ausprägung dieser großen Ahnenreihe des Lebens. Damit ist aber erst die eine der beiden Säulen der Persönlichkeit genannt. Die zweite, ebenso bedeutsame, ist die Formung der Person durch ihre Lebensgeschichte.

  1. b) Formung

Vom ersten Tag an nach seiner Zeugung (also auch schon vor seiner Geburt) ist ein werdender Mensch äußeren Einflüssen ausgesetzt, positiven (z. B. durch optimale Bedingungen wie Gesundheit und Ernährung der Mutter) wie negativen (z. B. durch Alkoholismus oder Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft). Nach der Geburt werden solche positiven oder negativen Einflüsse ihn durch sein ganzes Leben begleiten. Manche wird er bewusst wahrnehmen, andere werden ihn unbewusst beeinflussen. Jeden Tag seines Lebens wird ein Mensch Erfahrungen machen, die seine Persönlichkeit prägen und verändern: Mangel oder Fülle, Verlust oder Beständigkeit, Nähe oder Verlassenheit, Einsamkeit oder Gemeinschaft, Freude oder Trauer, Krankheit oder Gesundheit, Verachtung oder Wertschätzung, Liebe oder Hass, Erfolg oder Misserfolg, Erniedrigung oder Erhöhung, Unterdrückung oder Freiheit, Bedrohung oder Sicherheit, Glück oder Schmerz …

Solche Erfahrungen wirken aber nicht wie Eingriffe in den Lauf einer Maschine (ein bestimmtes Zahnrädchen geht kaputt und folglich funktioniert ein ganz bestimmtes Teil dieser Maschine nicht mehr richtig). Vielmehr wirkt sich jede Erfahrung auf die Gesamtheit der Persönlichkeit aus. Und diese Gesamtheit enthält auch Vor-Prägungen durch die Geschichte der sozialen Herkunft: durch die Geschichte der Familie und deren sozialen Status, durch die politische, wirtschaftliche und kulturelle Gesamtsituation in bestimmten Phasen dieser Geschichte, durch die Geschichte der Religions- oder Volksgemeinschaft usw. Genau genommen ist in jeder Menschen-Persönlichkeit die Erfahrungswelt des Menschseins in einer bestimmten Schneise der Menschheitsgeschichte gegenwärtig.

Ausstattung und Formung sind die tragenden Säulen der Persönlichkeit. Freilich sind sie uns nie in ihrer ganzen Fülle und Bedeutsamkeit bewusst. Trotzdem prägen sie (ausschnitthaft und oft auch selektiv) unser Ich-Bewusstsein. Und das kann niemals für sich allein existieren. Täglich neu muss es sich mit dem auseinandersetzen, was von anderen Menschen als Reaktion auf das eigene Sein, Reden und Handeln rückgemeldet wird. Unser „Ich“ kann sich nur in der Auseinandersetzung von Selbsteinschätzung und Fremdwahrnehmung, von Weltverständnis und Selbstverständnis bilden und entfalten. Davon wird im folgenden Beitrag „Des Menschen Herz“ die Rede sein.

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