Bisher haben wir den Menschen als Einzelnen gesehen, zwar in bestimmten historischen und gesellschaftlichen Bezügen, aber doch als den „Menschen für sich“. Das aber kann niemals genügen. Der Mensch sieht sich selbst immer als „Mensch in Gemeinschaft“ und kann auch von außen nur so sinnvoll wahrgenommen werden.
1 Das gefährdete Ich
Wer bin ich? Wer bin ich in der Gemeinschaft und im Vergleich mit meinen Mitmenschen? Bin ich stärker, geschickter, schöner, klüger, reicher, mächtiger als sie, oder schwächer, ungeschickter, hässlicher, dümmer, ärmer und ohnmächtiger? Wer bin ich für die Menschen, mit denen ich zu tun habe? Schätzen sie mich, meine Eigenart und meine Nähe, oder verachten und meiden sie mich? Welche Auswirkungen hat mein Dasein, mein Leben und Handeln? Wird mein Verhalten, mein Wollen, Reden und Tun angenommen oder zurückgewiesen? Habe ich einen halbwegs gesicherten Lebensraum, wo ich in Freiheit und selbstbestimmt mein Leben gestalten kann, oder bin ich unterdrückt, gefangen und fremdbestimmt? Kann ich das, was ich zum Leben brauche und was ich darüber hinaus gern mag, mir selbst erarbeiten oder bin ich auf andere angewiesen; wird es mir gerne gewährt oder wird es mir bewusst vorenthalten? Zu welchen Gemeinschaften darf ich mich zählen? Gehöre ich zu einer starken Mehrheit oder zu einer schwachen Minderheit und welchen Platz nehme ich innerhalb dieser Gemeinschaften ein? Was macht den Wert und die Würde meiner Person aus und wozu bin ich da?
Solche Fragen werden selten öffentlich ausgesprochen und trotzdem sind sie da und unterschwellig aktiv, und sie bestimmen unser Selbstbewusstsein ebenso wie unsere Umweltwahrnehmung, unser Empfinden ebenso wie unser Verhalten. Das Erleben und die Deutung unserer eigenen Existenz und (in enger Beziehung dazu) unser Bild von der Welt, in der wir leben, prägen entscheidend unser Selbstbewusstsein im Innern und unsere Aktivitäten nach außen.
Die Rückmeldungen aus der sozialen Umgebung können eine Bestätigung des eigenen Selbstwertempfindens sein oder auch im Widerspruch zum eigenen Selbstbild stehen. Kritisch für die eigene Existenz wird es immer dann, wenn ein (oft mühsam errungenes) positives Selbstverständnis auf negative, manchmal auch bewusst herabwürdigende Fremdeinschätzungen trifft. Solche Widersprüche können eine Person zutiefst verunsichern und verletzen. Die neue Modewaffe im sozialen Kampfgetümmel des Großstadtdschungels, das Mobbing, nutzt gerade diese Verletzlichkeit, um unliebsame Konkurrenten/innen auszuschalten, und manchmal erweist sie sich auch im wörtlichen Sinne als tödlich. Gerade in der Pubertät, wo junge Menschen noch auf der Suche nach ihrer Identität sind, können abschätzige und herabwürdigende Urteile von außen (die noch dazu in der Welt-Öffentlichkeit des Internet ausgebreitet und vervielfältigt werden) persönliche Katastrophen auslösen.
Das eigene Selbstbild kann sich nur in der Wechselwirkung von Selbsterfahrung und Fremdeinschätzung herausbilden und festigen. Dass es zwischen beidem mehr oder weniger große Differenzen und Spannungen gibt, ist selbstverständlich. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen. Und es bedarf schon eines in langer Lebenserfahrung gefestigten und in vielen Niederlagen erprobten Selbstbewusstseins, um dabei nicht allzu sehr abhängig von fremden Urteilen zu sein.
Die Frage „Wer bin ich“ kann man sich als Mensch nicht selbst beantworten, jedenfalls, solange man nicht wie Robinson allein auf einer einsamen Insel lebt. Unsere eigene Selbsteinschätzung muss sich immer wieder, täglich viele Male, mit dem auseinandersetzen, was von anderen Personen als Rückmeldung auf unser Verhalten, manchmal auch auf unsere bloße Gegenwart auf uns zukommt. Das eigene Selbstverständnis kann sich nur in der Wechselwirkung von Selbsterfahrung und Fremdeinschätzung herausbilden und festigen.
Die oben genannten Fragen zielen auf eine vergleichende Bewertung: Größer oder kleiner, besser oder schlechter usw. Ob wir das wollen und gut heißen oder nicht, wir vollziehen ständig solche Bewertungen. Schon in den ersten Zehntelsekunden einer Begegnung haben wir unser Gegenüber taxiert und eingeordnet, haben unsere gefühlsmäßige Zu- oder Abneigung empfunden, gemessen und fixiert (manchmal sogar schon langfristig festgelegt). Und wir wissen (auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind), dass wir in gleicher Weise selbst von den anderen beteiligten Personen taxiert, eingeordnet und fixiert werden. Deshalb versuchen wir, bewusst oder unbewusst, unsere soziale Wertigkeit hervorzuheben, vielleicht sogar mit unlauteren Mittel zu erhöhen. Es geht um den Wert unserer Person im sozialen Beziehungsnetz.
2 Selbst – Aufwertung
Was hat den höchsten Wert: Gold, Platin, Diamanten? Nichts von alledem. Der höchste, absoluteste und unüberbietbarste aller Werte wird mit nur drei Buchstaben geschrieben, mit drei ganz großen Buchstaben: I-C-H. Ich selbst, meine Existenz, meine Wünsche und Bedürfnisse, mein Leben und Überleben, das ist der höchste aller Werte für jedes empfindungsfähige Lebewesen, und natürlich auch für den Menschen (wobei „natürlich“ hier ganz wörtlich gemeint ist, in der Bedeutung „von der naturgegebenen Veranlagung her“: Von seinen natürlichen Anlagen her ist der Mensch ein Egoist. Später werden wir sehen, dass dieser „natürliche“ Aspekt beim Menschen nicht der allein gültige ist oder bleiben muss). Und dieser Ich-Wert ist nicht vorgegeben und unveränderlich. Schon bei höherentwickelten Tieren gibt es veränderliche Wert-Stufen und Rang-Folgen. Ob es die Hackordnung auf einen Hühnerhof ist oder die Rangordnung in einem Wolfsrudel, auch Tiere nehmen Wertungen vor. Eine Bienenkönigin hat im Bienenschwarm eine andere Wertigkeit als eine Arbeitsbiene. Bei rudelbildenden Tieren gibt es die Position des Leit-Tieres und die nachgeordneten Ränge, bis hin zu den Schwächsten, die sich beim Fressen mit dem zufriedengeben müssen, was die stärkeren Tiere übriglassen.
Solche Rangordnungen gibt es selbstverständlich auch beim Menschen, ja, hier sind die Abstufungen und Wertmaßstäbe noch viel differenzierter und komplexer, geht es doch hier nicht nur um die Position des körperlich Stärksten, sondern um einen ganzen Katalog abgestimmter kulturbedingter Wertungen und ihrer Folgen. In einem großen Industrieunternehmen gibt es von der Putzfrau bis zum Vorstandsvorsitzenden Dutzende von Rangpositionen mit sehr unterschiedlichem Ansehen, unterschiedlicher Macht und finanzieller Ausstattung (und uns fällt gar nicht auf, wie selbstverständlich uns z. B. die Zuordnungen „die Putzfrau“ und der Vorstandsvorsitzende sind).
Für die Menschen ist es deshalb um so wichtiger, die eigene Position in der Werteordnung der Gemeinschaft zu erkennen und alle Anstrengungen zu unternehmen, sich geschickt aufzuwerten und in den oberen Rängen zu etablieren. Dabei geht es aber nicht nur um rein sachliche und objektive Wertungen, sondern eher um ein Hin und Her von Selbstwahrnehmung und Fremdeinschätzungen, bei dem manche die eigene Person und Position in einem goldenen Licht verklärt sieht, von dem in den Augen der anderen kaum ein Schimmer zu zu erkennen ist.
Schon im Tierreich ist es für das Leben und Überleben des einzelnen Tieres von entscheidender Bedeutung, sich innerhalb der Lebensgemeinschaft selbst aufzuwerten, etwa durch Rangkämpfe im Rudel. Hier kommt es auf Kraft und Geschicklichkeit an, auch auf Mut und Ausdauer. Der Sieger steigt in der Rangordnung des Rudels eine Stufe höher und hat bessere Chancen, sich zu ernähren und fortzupflanzen. Es geht in der Natur nicht nur um den „Kampf ums Dasein“, sondern auch um den „Kampf um die besten Plätze“, denn nur die bieten ausreichende Überlebenschancen. Beim Menschen ist das genau so. Allerdings geht es bei ihm nicht nur um den Platz in einer natürlichen Rangordnung, sondern es geht zusätzlich auch noch um den Platz in noch viel komplexeren kulturellen Systemen, von den Rangkämpfen in den Jagdgemeinschaften der Frühmenschen bis zum alltäglichen Intrigenspiel und Machtkampf um Positionen und Gehälter in den Bürotürmen großer Unternehmen im 21. Jahrhundert. Im Laufe von Jahrtausenden haben Menschen ein ganzes System von Selbstaufwertungs-Strategien entwickelt, um in diesen Positionskämpfen erfolgreich zu sein. Im Folgenden werden einige der wichtigsten Strategien genannt, mit denen Menschen ihre soziale Position aufzuwerten versuchen.
- a) Selbstaufwertung durch Selbstdarstellung
Das muss noch gar keinen negativen Beigeschmack haben. Jede Frau, die sich hübsch anzieht, die durch ein gut abgestimmtes Make-up ihre Schönheit hervorhebt und durch eine entsprechende Körpersprache die Attraktivität ihrer Person geschickt in Szene setzt, betreibt eine Form von Selbstaufwertung, durch die sie sich von anderen positiv absetzen will und jeder Mann tut, mit etwas anderen Mitteln, genau das Gleiche. Solche Art von Selbstdarstellung ist gewiss nicht zu beanstanden. Fragwürdig können Neigungen zur Selbstaufwertung allenfalls dann werden, wenn sie zu Mitteln greifen, die kulturell nicht akzeptiert oder ethisch nicht zu verantworten sind (siehe die Punkte f bis h).
- b) Selbstaufwertung durch materiellen Besitz
In praktisch allen Kulturen gilt Reichtum nicht nur als materieller, sondern auch als sozialer Wertfaktor. Es mag einer noch so unsympathisch, hässlich oder unbegabt sein, wenn er über ein beachtliches materielles Vermögen verfügt, wird er als bedeutendes Mitglied der Gemeinschaft wahrgenommen und entsprechend behandelt. Das Streben nach materiellem Besitz dient also nicht nur dem Ziel, wertvolle Dinge zu besitzen, sondern vor allem dem Ziel, durch sie eine Aufwertung im sozialen Rangsystem zu erreichen. „Mein Haus, mein Auto, mein Boot …“, mit diesen Worten klatscht in einem Werbespot für Anlageberatung ein erfolgreicher „Geldvermehrer“ seine Trumpfkarten vor seinem „Gegner“ auf den Tisch. Wenn mein Haus größer ist als deines, mein Auto schneller, mein Boot teurer, dann bin ich selbst dir überlegen.
- c) Selbstaufwertung durch Leistung und Erfolg
Am eindeutigsten ist das bei messbaren Leistungen: Wer 100 Meter in 9,8 Sekunden laufen kann, ist Weltspitze, da gibt es nichts zu deuteln. Die meisten Leistungen aber sind nicht eindeutig messbar, sondern unterliegen Bewertungen, die sich mit der Mode ändern. Wer will eine künstlerische, wissenschaftliche, politische oder menschlich-soziale „Leistung“ exakt messen und bewerten? Der Maler Vincent van Gogh hat zu Lebzeiten kein einziges seiner Bilder verkauft, niemandem wären sie auch nur ein paar Franc wert gewesen; heute zahlt man Millionen Euro für das kleinste und geringste seiner Werke. Es kommt also nicht nur darauf an, etwas Außerordentliches zu leisten, sondern vor allem darauf, sich und seine Leistung gut zu „verkaufen“. Und weil man den tatsächlichen Wert einer Leistung oft nicht objektiv feststellen kann, nimmt man einfach den Gewinn, den sie abwirft, als Wertmaßstab: Wer mehr verdient, wird auch als Mensch höher geachtet, auch wenn er seine höheren Gewinne vielleicht mit menschlich sehr fragwürdigen Methoden erwirtschaftet. Oft werden durch massiven Werbe-Einsatz „Leistungen“ hochgejubelt und sehr erfolgreich vermarktet, die sich wenig später als höchst minderwertig erweisen. „Erfolg macht sexy“, heißt das Motto, und man misst den „Erfolg“ am liebsten in Euro oder Dollar.
- d) Selbstaufwertung durch Positionen und Macht
Titel, Ämter, Orden, das sind sichtbare und vorzeigbare Markierungen für die Positionen eines Menschen in einem hierarchischen System. Der „Oberregierungsschuldirektor“ ist eben mehr als nur ein „Regierungsschuldirektor“, und wenn es zwei Oberregierungsschuldirektoren gibt, dann muss eben einer zum „Leitenden Oberregierungsschuldirektor“ ernannt werden, damit jeweils klar ist, wer wem was zu sagen hat. So lächerlich das klingt, so hat es doch ernsthafte (und meist negative) Konsequenzen: Der „Leitende Ober…“ entscheidet, wo’s langgeht. Wer im System die höhere Position hat, der hat automatisch recht, auch dann, wenn er im speziellen Einzelfall keine Ahnung von der Materie haben sollte. Die Position verleiht Macht, wenn es darum geht, die eigenen Vorstellungen durchzusetzen, nicht die Kompetenz. In einem hierarchischen System kommt also alles darauf an, immer höhere Positionen zu erringen, und bei manchen Amtsinhabern ist das erfolgreiche Selbstmanagement auf der Karrierestufenleiter die einzige herausragende Begabung, die sie in ihr Amt mitbringen. Für die sachliche Arbeit hat man ja seine Untergebenen.
- e) Selbstaufwertung durch Identifikation
Mein Verein hat gewonnen, unser Boxer hat durch k.o. gesiegt, eine von uns ist „Miss Universum“ geworden, oder hat den „Oskar“ als beste Schauspielerin bekommen … Auch wenn ich selbst gar nichts dazu beigetragen habe, wertet es mich doch auf: Ich gehöre zu denen, die gewonnen haben, zu den Stärksten, den Schönsten und Besten. Eine gewonnene Fußballweltmeisterschaft kann eine ganze Nation in Euphorie versetzen. Jeder hat mitgesiegt und fühlt sich stark und überlegen, auch wenn er die Spiele nur vom Fernsehsessel aus mitverfolgt hat. „Wir sind Papst!“ titelte eine große Boulevardzeitung in Deutschland, als Kardinal Ratzinger zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wurde. Große Sportereignisse, Pop-Events, eine königliche Hochzeit…, das sind Identifikations- und Selbstaufwertungs-Orgien für Millionen und werden ganz bewusst auch so inszeniert.
- f) Selbstaufwertung durch Beraubung und Ausbeutung anderer
Wirklich dramatisch werden Selbstaufwertungsbestrebungen dann, wenn sie (vielleicht durch eigene böse Erfahrungen oder auch durch schnelle Erfolgserlebnisse) in eine anti-soziale Richtung gelenkt werden. Da merkt einer, dass es leichter ist, anderen etwas wegzunehmen, als selbst etwas zu erarbeiten oder dass mit der Ausbeutung von Arbeitssklaven in den Billig-Lohn-Ländern viel größere Gewinne zu machen sind, als mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und Löhnen im eigenen Land.
Oder: Wenn ich schon nicht durch eigene Leistungen zum Erfolg komme, dann kann ich eine befriedigende Selbstaufwertung auch dadurch erreichen, dass ich meine Konkurrenten übervorteile, dass ich durch Betrug oder Raubkopien, durch Korruption oder Industriespionage meinen „Gegnern“ wirtschaftlichen Schaden zufüge. Auch so kann man Verhältnisse zum eigenen Vorteil verändern, kann sich gegenüber den Konkurrenten als erfolgreicher und somit „überlegen“ erweisen.
- g) Selbstaufwertung durch Erniedrigung und Entwürdigung anderer
Wer kennt nicht die Versuchung, über andere, die man als erfolgreicher, attraktiver, kompetenter … empfindet, negativ zu reden, ihnen alles mögliche Schlechte nachzusagen? Ein unauffällig gestreutes Gerücht oder eine gezielte Mobbing-Attacke kann einen Konkurrenten „fertigmachen“ und den Verleumder selbst aufwerten. Wer nach unten tritt, steigt leichter nach oben. Der Literaturwissenschaftler Professor Victor Klemperer, der, als Jude mit einer „arischen“ Frau verheiratet, das „Dritte Reich“ überlebte, beschreibt in seinen Tagebuchaufzeichnungen, mit welcher herablassenden Verachtung Nazischergen (selbst geistig oft sehr minderbemittelt, aber ausgestattet mit aller Macht des Systems, ja mit Macht über Leben und Tod) ihr Bewusstsein haushoher Überlegenheit gegenüber ihm, dem jüdischen „Untermenschen“ zum Ausdruck brachten.
- h) Selbstaufwertung durch Verletzung und Tötung anderer.
Mancher besonders grausame Mord, bei dem ein Täter sein Opfer nicht nur mit einer Kugel oder einem Messerstich tötet, sondern gleich mit dutzenden Schüssen zerfetzt oder mit unzähligen Messerhieben niedermetzelt, hat genau dies zum Hintergrund: den Triumph eines sonst irgendwie Unterlegenen über seinen verhassten „Feind“, die langangestaute, nun alle Hemmungen durchbrechende Wut und zugleich die befreiende Lust, es ihm jetzt heimzuzahlen, ihn endlich einmal die eigene Überlegenheit spüren zu lassen, nochmal und nochmal… Aber nicht nur in solchen extremen Ausbrüchen zeigt sich die Neigung zur Selbstaufwertung durch körperliche Schädigung anderer. Schon ein Fußballspieler, der seinem Gegner aus der anderen Mannschaft durch absichtliches Foulspiel eine schmerzhafte Verletzung zufügt (vor allem dann, wenn die eigene Mannschaft aussichtslos im Hintertreffen ist), zeigt im Grunde ein ähnliches Verhaltensmuster.
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Die meisten Menschen können es nur schwer ertragen, wenn das eigene individuelle und kollektive Selbstbild (ich bin der Bessere, wir sind die Besseren) durch offensichtliche Fakten oder fremde Meinungen in Frage gestellt wird und sie benutzen die oben genannten Strategien (und vielleicht auch noch andere), um (zumindest nach außen hin) ihre gefährdete Position wiederzuerlangen oder noch zu erhöhen. Trotzdem sind die Ergebnisse solcher Selbstaufwertungs-Bemühungen sehr fragwürdig, weil sie den Wert und die Würde des Menschseins nicht entscheidend beeinflussen können (siehe den Beitrag 12 „Wert und Würde“).
Allerdings würden wir unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen sträflich vereinseitigen, wenn wir es vor allem als Konkurrenzsituation verstehen würden. Unser Verhältnis zu unseren Menschen-Nachbarn ist existenziell viel tiefer begründet und viel inniger, als wir uns es gemeinhin vorstellen.
3 Werte-Gemeinschaft
So sehr wir zu solchen Selbst-Aufwertungs-Strategien neigen, so wissen doch aus Erfahrung, dass sie nur von begrenzter Wirksamkeit sind. Sie sind eher Ersatz-Befriedigung für jene „Werte“, um die es eigentlich geht, die man aber im eigenen Leben und Erleben vermisst. Das, was jeder Mensch unbedingt zum Leben braucht (außerhalb des materiell Lebens-Notwendigen an Nahrung, Kleidung, Wohnung usw.), das kann man für kein Geld der Welt kaufen oder durch Ansehen und Macht erzwingen: Z. B. persönliche Freundschaft, gegenseitiges Vertrauen, belastbare Treue, fraglose Zuneigung, beglückende Nähe, echte Anerkennung, erfahrbares Angenommen-sein, unbestrittene Zugehörigkeit, tragfähige Gemeinschaft, sichere Geborgenheit, begründete Hoffnung, frohe Erwartung … Wobei die letzten drei genannten „Werte“ (sichere Geborgenheit, begründete Hoffnung, frohe Erwartung …) uns auch von anderen Menschen nicht verlässlich geschenkt werden können. Welcher Mensch hätte denn die Möglichkeit und die „Voll-Macht“ uns solche Werte „wirk-lich“ (also als erfahrbare Wirklichkeit) zuzueignen? Da sind wir auf „Geschenke“ angewiesen von einem „Beziehungs-Gegenüber“, welches auch über diese Werte verfügen kann (siehe Beitrag 11 „Die Identität des ICH“).
Solche Beziehung-Werte kann man sich nicht aneignen, wie man sich (durch Kauf oder Raub) ein wertvolles Schmuckstück aneignet. Solche Beziehungs-Werte kann man sich nur von anderen schenken lassen. Und was man da nicht geschenkt bekommt (oder sich nicht schenken lassen will), das hat man auch nicht. Aber: Wir haben die Möglichkeit, selbst diese Werte anderen schenken. Wenn es um das Eigentliche geht, können wir unser „ICH“ nicht selbst „aufwerten“, da zählt nur die „Du-Aufwertung“ des Menschen durch seine Mitmenschen.
Heute redet man ja viel von „Werte-Gemeinschaft“ und meint damit die in einer Gesellschaft gültigen grundlegenden sozialen Regeln und ethischen Normen; die sind wichtig und notwendig (siehe Beitrag 10 „individuelles und kollektives Bewusstsein“).
Hier rede ich aber von einer „Werte-Gemeinschaft“ ganz anderer Art: Von einer Gemeinschaft, wo einer den anderen (und alle sich gegenseitig) mit den oben genannten „Beziehungs-Werten“ beschenkt. Jesus (im „Neuen Testament“ der Bibel) sagt zu seinen Anhängern (Jo 13, 35) „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ und Paulus (Phil 2,3) „… jeder achte den andern höher als sich selbst“. Einander mit solchen lebensnotwendigen und frohmachenden Beziehungswerten beschenken, das nennt die Bibel „Liebe“ und ihre Verwirklichung würde eine „Werte-Gemeinschaft“ schaffen, die das Menschsein insgesamt aufwertet. Davon werden wir in den Beiträgen 10 „Die Identität des Ich“ und Beitrag 11 „Wert und Würde“ noch mehr erfahren.