Die „Weltverinnerlichung“ eines Menschen (also sein Weltverständnis und Selbstverständnis, siehe Beitrag 2 „Die Verinnerlichung der Außenwelt“) ist nicht ein vorgegebenes Bild, wie eine riesige Landkarte, auf der alle Lebenswege und Stationen schon fertig eingezeichnet sind. Sie ist auch nicht wie ein großes Lagerhaus, in dem alle Erfahrungen in den Regalfächern des Gedächtnisses nach Jahrgängen geordnet aufbewahrt werden. Unsere Weltverinnerlichung, die wir in unseren Lebensjahren aufgebaut und immer weiterentwickelt haben, ist unser persönlichster Besitz, und trotzdem muss uns dabei bewusst sein: Wir stehen auch da auf den Schultern unserer Vorfahren:
Auch wenn die eigene „Weltverinnerlichung“ das persönlichste Eigentum jedes Menschen ist, so ist sie doch primär und von ihren Grundlagen her etwas Empfangenes und nur sekundär und von ihrer Ausgestaltung her etwas aus dem Empfangenen selbst neu Komponiertes. Die Quellen für dieses Empfangene liegen offen: Die eigene Erfahrung und die in den Überlieferungen, Erzählungen und Mythen der Völker, die in den Gewohnheiten, Sprachen und Gesängen der Kulturen, die in den Denkweisen, Dokumenten und Hoffnungen der Religionen … noch wirksame Geschichte der Menschheit mit allen ihren Erfahrungen und deren Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung von ihrem Anfang an, durch die Jahrtausende, bis heute. Und so wie diese Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung in den verschiedenen Epochen der Geschichte und dazu noch in verschiedenen Kulturen der Kontinente sehr verschieden ablaufen konnte, so verschieden können auch heute die Prägungen der Menschen sein und deren Persönlichkeit, die sich durch Annahme und Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen, kulturellen, politischen, religiösen … „Vor-Geschichte“ gebildet hat.
In der Tierwelt sind die Eigenschaften und Fähigkeiten einer Tierart im Genpool dieser Art weitgehend festgelegt. Die Möglichkeiten zum Erwerb individueller Erfahrungen und zur Entwicklung individueller Problembewältigungsstrategien, die über das genetisch festgelegte Instinktverhalten hinausgehen, sind vergleichsweise gering. Noch geringer sind allerdings die Möglichkeiten, erworbene individuelle Erfahrungen und Fähigkeiten mitzuteilen und sie so anderen Individuen der eigenen Art zugänglich und nutzbar zu machen. Die Ansätze zur Entwicklung einer „Sprache“ bei Tieren beinhalten im Allgemeinen nur den Ausdruck einer appellativen Mitteilung (Lockruf, Warnung, Aufforderung, Reviermarkierung …). Meist ist die Weitergabe von Erfahrungen im Tierreich auf Vorgehensweisen beschränkt, die man durch Vormachen und Nachmachen lehren und lernen kann.
Der Mensch dagegen hat mit der Sprache ein Kommunikationssystem entwickelt, das die Möglichkeit bietet, eigene Erfahrungen, Problemlösungen und Ideen zu benennen, sie zu bewerten und zu verknüpfen und sie als gedeutete, von den realen Dingen schon weitgehend abstrahierte „innere Wirklichkeit“ anderen mitzuteilen, sie im Austausch abzugleichen und dadurch auf ihre allgemeingültige Stimmigkeit hin zu überprüfen. Durch Sprache und Begriffsbildung werden abstrakte Gedanken erst denkbar und mitteilbar.
Indem der Mensch die Dinge und ihre Eigenschaften und Beziehungen benennt, ordnet er sie ein in sein Vorstellungs- und Denksystem. Es entsteht in ihm ein subjektives inneres „Bild“ von der Außen-Welt um ihn. Aber erst, wenn nun mehrere Menschen über ihr subjektives Weltbild miteinander kommunizieren, indem sie mit Hilfe der Sprache ihre Erfahrungen austauschen und ihre subjektive Interpretation ähnlicher Erfahrungen miteinander vergleichen, entsteht ein Weltverständnis von zunehmend transsubjektiver Objektivität. Zumindest bekommt dieses „Weltverständnis“ eine allgemeine Stimmigkeit innerhalb einer begrenzten Gruppe von Menschen, die in intensivem Erfahrungsaustausch miteinander stehen. Es entsteht eine „Kultur“ (oder Subkultur) mit eigener „Weltanschauung“, die für die Angehörigen einer bestimmten Gruppe von Menschen überzeugend und stimmig ist.
Durch die Entwicklung von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, mit denen Menschen und Informationen Länder und Kontinente überqueren, entsteht nach und nach eine „Weltkultur“ mit einem globalen Weltbild. Der Aufbau weltweiter elektronischer Kommunikationssysteme und die zunehmende Nutzung des Internet beschleunigen heute diesen Vorgang in nie dagewesener Weise.
Hinzu kommt, dass die Kommunikationsmöglichkeiten des Menschen nicht nur „horizontal“ auf die Breite der gegenwärtigen Menschheitsfamilie ausgerichtet sind, sondern sie reichen auch „vertikal“ in die Tiefen der Geschichte. Er kann mit Hilfe „konservierter“ (z. B. geschriebener) Sprache sogar mit Menschen geistig in Kontakt treten, die schon längst nicht mehr am Leben sind und auf diese Weise Erfahrungen und Ideen von Angehörigen früherer Generation für sich nutzbar machen.
Die Menschheit hat im Laufe von Jahrtausenden neben ihrem biologischen Genpool einen riesigen geistigen Erfahrungs- und Wissens-Pool, neben dem genetischen Erbe eine riesige kulturelle „Erbmasse“ aufgebaut, die das allermeiste ihrer geistigen Leistungen überhaupt erst möglich machen. Gemeint ist dabei nicht eine riesige Anhäufung unverbundener Wissensinhalte, sondern ein in vielen Fassetten schillerndes, in allen Sprachen der Welt klingendes „Gesamtkunstwerk“ menschlichen Geistes, in welchem sich alltägliches Erleben und Verstehen mit künstlerischem Ausdruck, philosophischer Gedanken-Architektur, wissenschaftlichem Erforschen und Beschreiben, religiöser Sehnsucht und Deutung … von Milliarden verschiedener Individuen durch vielfältige Kommunikation und gegenseitige Beeinflussung zu einem weltumspannenden Ganzen verbinden, das sich ständig verändert und erneuert, als wäre es ein lebendiges Wesen. Es entsteht, verdichtet und verknüpft sich eine die Erde umfassende Weltsphäre des Geistes, ein in allen Sprachen der Menschheit klingendes, differenziertes und (bei aller Vielgestaltigkeit) doch im Kern auch allen Menschen gemeinsames Welt- und Menschenbild als größten Schatz des Menschseins, angesammelt und ausgestaltet in Jahrtausenden.
Die Individualität jedes einzelnen Menschen hat in je besonderer Weise Anteil an der biologisch-geistig-kulturellen „Erbmasse“ der Menschheit. In mehrfacher Hinsicht:
- Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen am biologischen Erbe im Genpool der Menschheit und damit auch des Lebens insgesamt (das heißt: trotz aller Individualität jedes Menschen sind doch die Grundbausteine des Lebens (die Zellen, aus denen sein Körper besteht), im wesentlichen noch genau so konstruiert, wie der erste Lebenskeim, der vor Millionen von Jahren entstand.
- Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen am geistigen Erbe der Menschheit, an deren Wissens- und Erfahrungsschatz, der in den verschiedenen Völkern und Kulturen in Jahrtausenden angesammelt wurde und immer weiter ausgebaut, immer neu darstellt und bewertet wird.
- Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen an der Vielfalt sozialer Lebensformen und Zugehörigkeit in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Recht, Information und Kommunikation…
- Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen am künstlerischen Erbe der Menschheit an bildender Gestaltung, Architektur, Musik, Tanz, darstellender Kunst und Literatur…
- Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen an den verschiedenen Systemen philosophisch, weltanschaulich oder religiös begründeter Welt-Deutung, an Lebensgestaltung und Zukunftshoffnung, an Ordnungen und Werten, durch die auch ihre ethischen Haltungen und mitmenschlichen Einstellungen und Verhaltensweisen begründet sind.
All dies ist zusätzlich noch eingeordnet in die je besondere Gesamtsituation der regionalen, geografischen, klimatischen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Umwelt eines Menschen. Das allermeiste dieser Teilhabe vollzieht sich unbewusst und trotzdem ist auch dieses Unbewusste Teil unserer Identität und unseres persönlichen Welt- und Menschenbildes.
Wir sehen: Das Denken und Verstehen eines beliebigen Menschen irgendwo auf dieser Erde ist (bei aller Individualität seines Welt- und Selbstverständnisses) insofern nicht unabhängig und voraussetzungslos, als es mitbeeinflusst ist durch das Denken und Verstehen von Hunderten von Generationen der Menschheitsgeschichte vor ihm. Kein Gedanke, den heute ein Mensch denkt, wäre (in genau diesen Verstehensweisen, Bildern und Gedankengängen) möglich ohne die Entwicklungsgeschichte menschlichen Denkens durch die Jahrtausende. Und trotzdem flicht jeder Mensch, ob Universitätsprofessor und geistig Behinderter, daraus sein eigenes Muster des Denkens und Verstehens, Glaubens und Hoffens.
So entstehen in jedem Menschen
- ein persönliches Weltverständnis
- ein persönliches Selbstverständnis und Menschenbild,
- ein persönliches Verständnis der eigenen Existenz in ihrer (natürlichen, technischen, sozialen, kulturellen …) Umwelt und deren Geschichte,
- und eine persönliche Werteordnung mit einer religiös-weltanschauliche Bindung und Ausrichtung (bei Atheisten selbstverständlich eine atheistische Werteordnung mit einer atheistisch-weltanschaulichen Bindung und Ausrichtung).
Erst diese historisch gewordene und kulturell geprägte und doch auch ganz persönliche und einzigartige „Weltverinnerlichung“ macht den Menschen zu einem geistigen Individuum.