„Des Menschen Herz“ so heißt der vorangehende Beitrag 4 und wir haben bemerkt, dass dieses „Herz“ ein sehr verborgener, von außen kaum einsehbarer Raum ist. Trotzdem werden wir jetzt versuchen, einen Blick in diese Verborgenheit zu werfen und die Vorgänge wahrzunehmen, die da im Gange sind. Und wir werden sehen: Dort in der Verborgenheit unseres Herzens werden alle ankommenden Wahrnehmungen, Eindrücke, Erfahrungen, Erkenntnisse … auf eine sehr besondere Weise bearbeitet und verarbeitet. Dazu noch eine Anmerkung: Es wird hier in diesem Beitrag immer wieder um eine visuelle Veranschaulichung eines geistigen Geschehens gehen. Und es wäre naheliegend, entsprechende Bilder und grafische Darstellungen zu entwerfen, die das angemessen darstellen können. Ich tue das hier bewusst nicht, weil es hier um sehr persönliche und immer sehr eigen-artige „Innen-Bilder“ gehen muss, so dass jede Bild-Vorgabe von außen nur störend sein könnte.
Stellen wir uns nun zum Vergleich die Nachrichtenzentrale der Regierung eines Staates vor: Täglich, stündlich, minütlich kommen ganze Fluten von Nachrichten aus dem Inland und Ausland herein. Sie alle müssen geprüft, gewichtet und eingeordnet werden, damit sie für die Entscheidungen der Regierung zur Verfügung stehen. Sind die Nachrichten echt oder „Fake-News“? Welche Bedeutung haben sie für das Regierungs-Handeln und wie passen sie zu den schon vorhandenen Nachrichten und Entscheidungsvorgängen?
Einen ähnlichen Vorgang müssen wir uns auch in der zentrale Aufnahme-, Verarbeitungs- und Bewertungsstelle im „Herzen“ eines Menschen vorstellen. Dort geschieht diese Prüfung, Gewichtung und Einordnung der eingehenden Informationen auf eine geordnete und sehr effektive Weise. Führen wir uns, um die nachzuvollziehen, die „Nachrichtenzentrale“ eines Menschen etwas genauer vor Augen. Stellen wir uns vor: Eine riesige Halle; wir betreten sie durch einen der beiden Haupteingänge, über dem die Aufschrift „Erfahrungen“ leuchtet. Ein weiterer großer Zugang hat die Aufschrift „Kommunikation“. Ein großer Teil dessen, was den Zutritt zu unserer Innenwelt fordert, gründet sich ja gar nicht auf eigene Erfahrungen, sondern beruht auf „direkter“ Kommunikation (z. B. mit Gesprächspartnern), oder auch auf „indirekter“ Kommunikation (z. B. über Bücher, Fernsehsendungen, Internet-Inhalte usw).
Wir erkennen sofort, dass die Halle in verschiedene Abteilungen aufgeteilt ist. Und wir sehen: Überall ist alles in ständiger Bewegung; auch zwischen den Abteilungen ist ein ständiger Austausch im Gang. Als nächstes fällt uns auf, dass diese unaufhörlich fließende Arbeit in zwei Hauptabteilungen geschieht, die links und rechts eines sehr langen Mittelganges angeordnet sind (und wir merken: Das ist keine „Lagerhalle“, wo die Erfahrungen eines Menschen im Gedächtnis gesammelt, sortiert, gestapelt und aufbewahrt werden, sondern eine „Werkhalle“, wo noch ganz Entscheidendes mit den Erfahrungen geschieht).
Im Hintergrund auf der linken Seite sehen wir ein großes Leuchtmuster, wie auf einem riesigen Bildschirm, der die ganze linke Seitenwand ausfüllt. Dieses Leuchtmuster ist jedoch nicht statisch gleichbleibend, sondern in ständiger fließender Bewegung. Man kann erkennen, dass die Arbeitsergebnisse der linken Hauptabteilung dort in dieses Leuchtmuster eingeordnet werden. Ständig werden die neu ankommenden Ergebnisse bestimmten Teilen des Musters zugeordnet, oder, wenn sie dort nicht passen, an einen anderen Platz verschoben. Dadurch geraten Teilbereiche des großen Musters in Bewegung, fließen in andere Richtungen, gruppieren sich neu, nehmen neue Farben und Formen an, damit sie da und dort ein schon vorhandenes Teilstück ergänzen oder vervollständigen können … Ganz oben über dem Leuchtmuster auf der linken Seite liest man die Überschrift „Weltverständnis“. Und das ist offensichtlich nie fertig, sondern befindet sich in einem unaufhörliche Aufbau und Umbau, je nachdem, welche Nachrichten durch den Haupteingang für die Erfahrungen oder durch einige kleinere Nebeneingänge hereinkommen.
Erst jetzt fällt uns auf, dass auch auf der rechten Seite die Seitenwand von einem riesigen Leuchtmuster ausgefüllt ist. Aber dieses Muster ist einfacher strukturiert. Überhaupt scheinen hier weniger logische Formen, als vielmehr emotionale Farben den Eindruck zu bestimmen. Da gibt es Flächen mit einem brennenden Glut-Rot, von dem aus unruhige Bewegungen zu anderen Bereichen ausgehen. Einige Teilflächen sind von einem schwefeligen Gelb beherrscht, das eher abwehrend wirkt, andere von einem düsterem Grau bis Schwarz, das ankommende Impulse verschluckt. Einige größere Flächen zeigen ein klares, strahlendes Blau, das aussieht wie der Himmel an einem sonnigen Sommertag und darin eingelagert freundliche Muster in einem lebendig pulsierendem Hell-Rot, manchmal mit goldenen Markierungen. Von da aus gehen wohltuende Impulse in alle Richtungen. Erst beim genaueren Hinsehen nehmen wir wahr, dass auch diese farbigen Flächen Strukturen haben, die dem Ganzen ihre Bedeutung geben. Die Überschrift über diesem rechten Leuchtmuster heißt „Selbstverständnis“. Und wir merken: Auch auf dieser rechten Seite können die ankommenden Erfahrungen und Informationen nicht direkt bis an das Leuchtmuster gelangen, sondern müssen erst einen komplizierten Verarbeitungsprozess durchlaufen, ehe sie dafür geeignet sind. Das geschieht im Mittelgang und in den Arbeitsräumen rechts von ihm (so wie die Vor-Arbeiten für die Aufnahme in das „Weltverständnis“ in den Arbeitsräumen links des Mittelganges geschehen). Und wir merken: Dort in diesem Mittelgang und den Arbeitsräumen links und rechts davon laufen wichtige Vorgänge für die Aneignung, Bewertung und Einordnung der Erfahrungen. Sehen wir uns diese Vorgänge genauer an:
Wir erkennen im Mittelgang der großen Halle eine Art „Bearbeitungsweg“ mit mehreren Stationen. Jede hereinkommende Information (Erfahrung) muss alle Stationen dieses Weges durchlaufen. Dort werden sie auf bestimmte Kriterien hin abgefragt und mit dem schon vorhandenen Informationsstand verglichen. Schon auf dem ersten Blick fällt auf, dass zwischen den einzelnen Stationen des Mittelwegs und den beiden Außenbereichen ein reges Hin und Her im Gange ist.
Die vier Haupt-Stationen des Mittelgangs sind mit großen Schildern versehen (hier fett gedruckt), auf denen die jeweiligen Schwerpunktfragen genannt wird. Dazu sind einige weiterführende Fragen aufgeschrieben mit großen Pfeilen, welche die Richtung angeben:
Wer/was?
Nach links zum Leuchtmuster Weltverständnis: Wer ist das? Was ist das? Um welche Personen oder Sachverhalte geht es? Welche Personen und Sachverhalte sind besonders wichtig? Aufbau eines Begriffssystems und von Grundlagen des Erkennens und Verstehens
Nach rechts zum Leuchtmuster Selbstverständnis: Wer bin ich? Aufbau eines Selbstbewusstseins, erste Ansätze zur Entwicklung einer Ich-Identität
Wie?
- a) Orientierung
Weltverständnis: Wie sind die Dinge und Menschen meiner Umgebung, welche Eigenschaften haben sie und wie sind sie einander zugeordnet?
Selbstverständnis: Wie bin ich? Was unterscheidet mich von anderen? Wie ist meine Stellung in der Gemeinschaft?
- b) Erklärung
Weltverständnis: Wie funktioniert das? Nach welchen Regeln und Gesetzmäßigkeiten laufen bestimmte Vorgänge ab? Wie werden sie beeinflusst und gesteuert?
Selbstverständnis: Wie „ticke“ ich? Was sind meine Stärken und Schwächen? Wie sehen mich die andern?
Warum?
- a) Entwicklung
Weltverständnis: Wodurch sind die Dinge so geworden wie sie sind? Wie und wohin entwickeln sie sich?
Selbstverständnis: Wodurch bin ich geworden, wie ich bin und wie wird es mit mir weitergehen?
- b) Verantwortung:
Weltverständnis: Wer oder was ist dafür verantwortlich, dass die Dinge so geworden sind, dass sie sich positiv oder negativ entwickelt haben? Und wo liegt meine Verantwortung dazu?
Selbstverständnis: Wer oder was ist verantwortlich für die positiven oder negativen Wendungen, die mein persönlicher Lebensweg genommen hat? Und was ist mein eigener Anteil daran?
Wozu?
- a) Wertung:
Weltverständnis: Was gilt allgemein als wichtig oder unwichtig, wertvoll oder wertlos, richtig oder falsch, gut oder böse?
Selbstverständnis: Was habe ich selbst von dem, was allgemein als wichtig, wertvoll, richtig und gut angesehen wird? Und habe ich auch Anteile an dem, was allgemein als unwichtig, wertlos, falsch und böse gilt?
- b) Sinngebung
Weltverständnis: Was ist der Sinn und das Ziel allen Lebens, der Geschichte der Menschheit und der ganzen Schöpfung?
Selbstverständnis: Was ist der Sinn und das Ziel meines Lebens?
Das sind Grundfragen zum Weltverständnis und Selbstverständnis, die in konkreten Situationen sehr viel detaillierter und differenzierter angesprochen werden, als in der obigen Übersicht. An ihnen vollzieht sich die Prüfung, Gewichtung und Zuordnung unserer Erfahrungen und zusätzlichen Informationen in den Gesamtzusammenhang unserer Weltverinnerlichung. Dabei können wir wahrnehmen, dass auch die beiden großen Teilbereiche „Weltverständnis“ und „Selbstverständnis“ nicht voneinander isoliert arbeiten. Jede neue Situation muss immer aus beiden Blickwinkeln gesehen werden. Jede Umwelterfahrung (besonders mit der sozialen Umwelt) verändert unser Selbstverständnis und jede neue Selbstwahrnehmung beeinflusst auch unsere Welt-Sicht. Beide Teilbereiche bilden doch ein Ganzes: Das Ganze unserer Weltverinnerlichung als Grundlage unseres Seins als „Ich in der Welt“.
Fassen wir das Bisherige zusammen: Wir haben noch das Bild von der großen „Werkhalle“ der „Weltverinnerlichung“ vor Augen mit den beiden großen Abteilungen „Weltverständnis“ und „Selbstverständnis“. Wir kennen schon die Eingangsseite, wo die Wahrnehmungen und Erfahrungen durch unsere Sinnesorgane ins Innere gelangen: Hören, sehen, tasten, riechen, schmecken … und wo wir zusätzlich Informationen aufnehmen, die uns von anderen angeboten werden. Wir haben auch noch die Vorstellung von beiden Abteilungen präsent, wo unsere Erfahrungen verarbeitet und gewertet und in unser Weltverständnis und Selbstverständnis eingeordnet werden.
Aber etwas fehlt noch: Unsere „Werkhalle“ hat ja gegenüber der Eingangsseite noch eine Wand, die wir bisher geschlossen gesehen haben. Aber das kann ja nicht sein, denn das würde ja bedeuten (wenn wir das Bild der „Werkhalle“ wieder auf menschliche Personen rückübertragen) , dass jedes Verständnis der Welt und der eigenen Existenz und alle Motivationen und Impulse der Person im Innern ihres „Selbst“ gefangen blieben, aufwendig erarbeitet, ja, aber nutzlos und wirkungslos. Es muss auch eine „Ausgangsseite“ geben, durch welche die Person sich „äußert“ durch Verhalten, Reden und Handeln.
Im Beitrag 6 „Des Menschen Herz“ haben wir diese „Ausgangsseite“ des Menschseins schon angesprochen. Jetzt aber erkennen wir deutlicher, dass hier nicht eine kurzschlüssige Umsetzung von Erfahrungen in Handlungen erfolgt, sondern dass die Äußerungen des Menschen das Ergebnis eines langen und komplizierten Prozesses der „Weltverinnerlichung“ und der „Selbstvergewisserung“ sind.
Wenn wir uns die Eingangs- und Ausgangs-Seite unserer „Weltverinnerlichung“ anschauen (vgl. Beitrag 2 „Die Verinnerlichung der Außenwelt“), dann stellen wir fest, dass da nicht nur jeweils ein großes Portal als Eingang bzw. Ausgang zur Verfügung steht, sondern dass auf der Eingangsseite viele „Tore“ für Wahrnehmungen aus verschiedenen Richtungen offen stehen (sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen …). Ebenso sind auch auf der Ausgangsseite jeweils mehrere Wege vorgesehen, wie ein Mensch das, was er sich in seinem Innern erarbeitet und angeeignet hat, nun äußern kann: Unbewusstes Verhalten und gezieltes Handeln, handwerkliches Arbeiten und künstlerisches Gestalten, reden und schweigen, wollen und planen … Allerdings haben wir schon im Beitrag „Des Menschen Herz“ und dort in den Abschnitten „Was zu Herzen geht“ und „Was von Herzen kommt“ gesehen, dass der Durchgang durch die Tore der Eingangs- wie die Ausgangsseite einer Person vielfach erschwert oder ganz blockiert sein kann (siehe dort).
Jetzt ist es wichtig, dass wir erkennen, dass zwischen der Eingangsseite, dem Verarbeitungsprozess im Innern und der Ausgangsseite einer Person noch eine viel dynamischere Beziehung besteht, als nur eine logische Abfolge in Form von Eingang>Verarbeitung>Ausgang, nämlich eine „Spirale des Lerngewinns“. Ein Beispiel: Ein kleines Kind macht eben seine ersten Erfahrungen und merkt, wie ungeheuer interessant und lustvoll es ist, alles, was es erreichen kann, anzufassen und auszuprobieren. Und so fasst es bei einem seiner Erkundungs(krabbel)gänge an den Heizkörper (der glücklicherweise nicht allzu heiß ist) und zuckt erschrocken zurück: Das war sehr unangenehm und das Kind krabbelt lieber woanders hin. Aber nach einer Weile sieht doch die Neugier. Es nähert sich vorsichtig dem Gegenstand der unangenehmen Erfahrung und rührt mit der Fingerspitze an den Heizkörper: Immer noch unangenehm. Aber seltsam: Die Wand neben dem Heizkörper fühlt sich ganz normal an. Auch der dritte Versuch beim Heizkörper zeigt das gleiche Ergebnis: Dieses Ding ist unangenehm heiß. Das Umweltverständnis des Kindes hat eine erste „Lernspirale“ durchlaufen: Es hat eine Erfahrung gemacht: Das Ding ist heiß, das tut weh. Es hat diese Erfahrung in sein „Verstehen“ der Welt eingebaut: Es gibt Dinge, die sind unangenehm. Mit diesem „Vor-Verständnis“ hat es dann vorsichtig verschiedene Gegenstände angefasst. Und dabei eine neue, weiterführende Erfahrung gemacht: Manche Dinge sind unangenehm, manche nicht. Das korrigiert nun das erste „Weltverständnis“: Die „Welt“ besteht nicht nur aus unangenehmen Dingen, es gibt auch angenehme.
Wir haben einen Dreischritt des Umgangs mit der „Welt“ vor uns, der eine allgemeine Bedeutung hat: Jede aufgenommene und verarbeitete Erfahrung führt zu einem veränderten Verstehen der Umwelt (das gilt nicht nur für Kleinkinder, sondern ebenso auch für Erwachsene). Dieses veränderte Verständnis verändert ganz selbstverständlich auch unser Verhalten: Wir passen unser Handeln an unser jeweiliges Weltverständnis an und verhalten uns so, wie es unserem veränderten Verstehen entspricht. Das führt aber dazu, dass wir nun durch unser neues Handeln auch neue Erfahrungen provozieren, die unser erstes Verstehen bestätigen oder widerlegen. Unser Verstehen wird wieder korrigiert und nochmals erweitert. So setzt sich der Dreischritt fort: erfahren > verstehen > handeln >> neue Erfahrung > neues Verstehen > neues Handeln usw. wobei jede Wiederholung des Vorgangs auf dem Vorangegangenen aufbaut und somit auf einer etwas höheren Ebene der Vor-Erfahrung abläuft. Die „Spirale des Lerngewinns“ ist in Gang gekommen. So lernen wir seit unseren ersten Kindheitstagen, so schrauben sich unsere Erfahrungen und unser Verstehen und Wissen immer weiter in die Höhe, so baute sich in Zehntausendsen von Jahren das Weltwissen und Weltverständnis der Menschheit auf und so arbeitet auch heute noch jede Wissenschaft.
In diesem Beitrag „Die Zentrale des Selbst“ haben wir uns den Vorgang der „Weltverinnerlichung“ vor Augen geführt, durch den sich Menschen ein je eigenes „Innenbild der Außenwelt“ erarbeiten und ausformen. Noch aber haben wir nicht jene „Instanz“ kennen gelernt, durch welche die Vielfalt der Erfahrungen und deren Verarbeitungsergebnisse zur Einheit einer Person gesammelt werden könnte. Dies soll in folgenden Beitrag „Das ICH und das EGO“ geschehen.