„Wer bin ich?“ Diese Frage war nie leicht zu beantworten. Jetzt, im 21. Jahrhundert, ist es sogar schwer geworden, sie zu stellen. „So etwas wie ein Ich gibt es gar nicht“, behaupten manche und verweisen auf Ergebnisse von Studien, die belegen sollen, dass auch alle geistigen Leistungen von Menschen (also auch die Vorstellung von einem persönlichen, unverwechselbaren „Ich“) nur unbewusste biochemische Vorgänge in ihrem Gehirn sind: Determiniert (also zwangsläufig aus den vorangegangenen Ereignissen folgend) oder rein zufällig, aber immer ohne bewusste Steuerung und Verantwortung. Genau so, wie (nach dieser Vorstellung) das ganze Universum aus zufälligen Ereignissen entstand, ohne Sinn existiert und ohne Ziel sich weiterentwickelt, so sei auch die Existenz jedes einzelnen Menschen zufällig, sinn- und ziellos.
Solche Abwertung ichbewussten Menschseins hat Konjunktur: Getrieben von einer Mischung aus Zukunftsangst und Lust an einer von aller persönlichen Verantwortung befreienden Selbstverneinung, sehen sich viele in der Rolle eines schlecht programmierten Datenverarbeitungsorganismus, der auf Dauer keine Chance hat, mit den viel leistungsfähigeren selbstgeschaffenen Datenverarbeitungsmaschinen Schritt zu halten. Und dann ist es eben völlig nutzlos, über ein „Ich“ des Menschen nachzudenken, wenn künstliche Intelligenz uns sowieso demnächst das Denken abnimmt.
Trotzdem erlebt sich ein Mensch, wenn er eine differenzierte Selbstwahrnehmung zulässt, als etwas Eigenes, als ein „Ich-Selbst“, das sich seiner Existenz als einmaliges, unwiederholbares Individuum bewusst ist. Ist ein solches Ich-Bewusstsein wirklich nur Selbsttäuschung? Vielleicht doch nicht. Offensichtlich ist der Mensch das einzige Lebewesen, das „Ich“ sagen kann, wahrscheinlich das Einzige, das auch „Ich“ denken kann, das sich selbst als unverwechselbare Person empfinden und verstehen kann. Der Mensch ist, soweit wir das erkennen können, auch das einzige Lebewesen, das seine Umweltwahrnehmung in einer zusammenhängenden, die Einzelphänomene sinnvoll verknüpfenden Gesamtschau verstehen kann, in der er selbst eine eigene und besondere Rolle spielt. Wobei wir wahrnehmen, dass sich in jedem Menschen eine biologische Identität (die durch die einmalige Struktur seiner Gene bestimmt wird) und eine geistige Identität (die im Laufe seines Lebens aufgebaut und verändert wird) zu einer einmaligen Identität der Person verbinden. Dabei wird die biologische Identität wesentlich durch das biologische Erbe der Vorfahren, und die geistige Identität wesentlich durch das geistige Erbe der Kultur(en) bestimmt. Hier, in den Beiträgen zum Thema „Wer bin ich?“ wird besonders auf die geistige Identität Bezug genommen, weil sie (im Gegensatz zur genetischen Ausstattung) sich erst durch die Lebens-Erfahrung und deren Verarbeitung allmählich aus- und umformt, gestaltet und wandelt, oft auch beeinträchtigt und beschädigt wird.
1 Das werdende ICH
Wie könnte ein solches Ich-Bewusstsein entstanden sein? (siehe dazu auch Beitrag 10 „Im Wandel der Zeit„.)
Niemand kann heute sagen, wann und unter welchen Umständen zum ersten Mal ein Mensch sich selbst als Individuum wahrgenommen hat. Vielleicht war es nach einem Regen, als ein Einzelner aus einer Sippe von Busch-Jägern sich umdrehte und die Abdrücke seiner Füße im feuchten Boden sah und ihn die überwältigende Einsicht durchfuhr (auch wenn er sie noch nicht in Worte fassen konnte): „Das war ich!“ Vielleicht lernte er schnell, seine Fußabdrücke von denen seiner Sippen-Genossen zu unterscheiden. So wurden sie ihm zum sichtbaren Bild dieses Ich-Gefühls, das sich in seinem Denken zu bilden begann, lange bevor es eine Sprache gab und ein Wort, das ein „Ich-Bewusstsein“ hätte ausdrücken können. Dieses Ich-Gefühl verstärkte sich vielleicht, als er, obwohl noch jung und unerfahren bei der Jagd, zum ersten Mal ein größeres Tier erlegte, und er über dem blutenden, noch lebenswarmen Körper des Tieres einen Triumphschrei ausstieß, der seinem Empfinden Ausdruck verlieh: „Ich, ich habe es besiegt!“ Vielleicht wurde sein Selbst-Bewusstsein dadurch gefestigt, dass der Sippen-Häuptling ihn wenige Tage nach jenem ersten Jagderfolg vor der versammelten Sippe mit einer Lautfolge bezeichnete, die so ähnlich klang wie der Triumphschrei, den er über dem erlegten Tier ausgestoßen hatte. Seitdem „nannten“ ihn alle so.
Vielleicht hatte sich so ein Ich-Gefühl bei einem Mädchen schon in ihren ersten Lebensjahren angebahnt, als ihre Mutter ihr gegenüber den Laut, mit dem sie ihre Kinder zu sich rief, immer mit einer etwas anderen Tonlage, mit etwas anderer Stimmfärbung, mit einer ganz eigenen Betonung aussprach. Vielleicht hatte es auch zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass ihre Geschwister alle eine eigene und je besondere Stimmfärbung hatten, an der sie die Rufenden erkennen konnte ohne hinzusehen und dass auch ihre eigene Stimme und Ausdrucksweise von den anderen erkannt wurde. Das könnte ihr Bewusstsein verstärkt haben, dass sie etwas Eigenes sei, unterscheidbar und unterschieden von allen anderen. Das könnte sich später verstärkt haben, als sie ihr erstes Kind gebar und sie als Mutter eines Kindes ein höheres Ansehen in der Sippe genoss. Eines Tages hat sie dann vielleicht ihre Hände mit Holzkohle geschwärzt und an der Stelle, wo in der Höhle ihr Schlafplatz war, die Felswand mit den Abdrücken ihrer Hände markiert. Auf solche Weise und durch tausend andere kleine Hinweise könnte ein „Selbst-Bewusstsein“ entstanden sein, das zunächst im Wesentlichen aus zwei Komponenten bestand:
- Ich hinterlasse Spuren meines Daseins in der Welt; ich bin der Urheber und Gestalter von Veränderungen.
- Ich werde von meinen nächsten Bezugspersonen als jemand wahrgenommen, der von anderen unterscheidbar ist, anders als alle anderen, und das bringen sie zum Ausdruck, indem sie mich mit einer eigenen, nur mir zugehörigen Lautfolge bezeichnen, mit meinem „Namen“.
Dieser Funke von Ich-Bewusstheit erlosch nicht mit dem Tod seiner ersten „Erleuchteten“. Schon hatten andere Mitglieder der Sippe ihn wahrgenommen und aufgenommen. Schon war die Vorstellung von einem unverwechselbaren „Ich-Selbst“ eingesät in den Nährboden menschlichen Denkens. Dort wuchs sie weiter durch die Jahrtausende bis in die Höhen von Philosophie und Religion. Das Bewusstsein von einem einmaligen, unverwechselbaren „Ich“ ist nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern das Ergebnis einer Menschheitsgeschichte der Selbstwahrnehmung, Selbsterkenntnis und Selbstdeutung.
Das Leben und Erleben, das Denken und Sein, Wollen und Handeln eines Menschen ist offenbar ein sehr komplexes Phänomen. So komplex und so schwer durchschaubar, dass einem schon Zweifel kommen können, ob es allein durch das Zusammenwirken von Reiz-Reaktions-Ketten und zufälligen Ereignissen beschrieben werden kann. Aber wie sollten wir dann dieses Phänomen benennen und erklären? Wie sollen wir überhaupt so einen Gedanken rechtfertigen, dass es etwas gäbe, was mehr ist, als Eigenschaft und Funktion von Materie und Energie, Raum und Zeit?
2 Materie und Sinn
Versuchen wir eine erste Annäherung durch einem Vergleich mit einem weniger komplexen Gegenstand: Nehmen wir dazu ein Buch, einen spannenden Krimi vielleicht oder eine rührende Liebesgeschichte. Materiell betrachtet ist dieses Buch ein hübsches Ding: Mit einem farbigen Einband, mit Seiten aus gutem Papier, die Buchstaben aus schwarzer Druckfarbe … Aber (soweit, denke ich, sind wir uns alle einig), wir werden auch bei der allergenauesten chemischen Analyse des Papiers und der Druckfarbe nicht herausfinden, ob eine herausgerissene Seite nun aus dem Krimi oder aus der Liebesgeschichte stammt. Die Geschichte, die das Buch erzählt, ist offensichtlich nicht durch seine Materie vorgegeben. Es gibt weder im Papier noch in der Druckfarbe so etwas wie eine Krimi-Materie, die sich chemisch-materiell von einer Liebesgeschichten-Materie unterscheiden ließe. Ob der Krimi wirklich spannend ist oder ob die Liebesgeschichte wirklich rührend wirkt, das hängt nicht von der materiellen Zusammensetzung des Papiers und der Druckfarbe ab, sondern vom literarischen Können der Autoren. Offenbar gibt es doch Realitäten (wie der Sinn-Inhalt des Buches), die zwar mit Hilfe von materiellen Mitteln (in diesem Fall Papier und Druckfarbe) dargestellt und weitergegeben werden, die aber nicht in der Materie selbst schon enthalten sind. Ähnliches können wir auch beim Menschen wahrnehmen (siehe dazu auch die Themen „Wirklichkeit und Wahrheit“, im Bereich 3 „Grundlagen der Gesellschaft“ und „Körper, Geist und Seele“, im Bereich 1 „Grundfragen des Lebens“).
Der Mensch ist materiell gesehen nichts Besonderes und er besteht aus nichts anderem, als alles andere in seiner Umgebung. „Staub von der Erde“ ist er, sagt die Bibel* schon vor Jahrtausenden in verblüffender Nüchternheit. Und das stimmt ja auch: Die Atome, aus denen der Körper eines Menschen zusammensetzt ist, sind die gleichen, wie beim Schmutz auf der Straße. Und biologisch gesehen funktionieren seine Organe genau so wie bei anderen Lebewesen auch, und seine Gene sind denen von Säugetieren, einem Hund zum Beispiel oder einer Maus, sehr ähnlich. Wo sollte da ein Ich sein, das sich seiner als einmaliges Individuum bewusst ist?
*1. Mose 2, 7 Lutherübersetzung, Revision 2017
Aber vielleicht gibt es ja auch beim Menschen (wie bei unsrem Buch, siehe oben) „Inhalte“, die nicht schon in der Materie des menschlichen Körpers vorgegeben sind? Gibt es etwa auch im menschlichen Dasein einen „Sinngehalt“, der über das bloß Materielle hinausgeht? Gewiss, der Mensch ist kein Buch, aber wenn wir schon einem Buch (also einem „Ding“ aus totem Material) zugestehen, dass es Träger einer „Geschichte“, also eines Sinngehalts ist, der nicht schon in der Materie des Papiers und der Druckfarbe vorgegeben ist, sollten wir dann wirklich jeden Gedanken zurückweisen, der vermutet, dass auch dem Menschsein eine „Sinngeschichte“ zu eigen ist, die nicht schon durch seine materielle Zusammensetzung vollständig definiert werden kann?
Ja, so eine „Sinngeschichte des Menschseins“ gibt es tatsächlich. Sie existiert in jedem menschlichen Dasein und sie beschreibt in jedem Menschenleben eine absolut einmalige und unwiederholbare „Geschichte des Menschen in seiner Welt“. (Siehe dazu auch die Beiträge zum Thema „Die Frage nach dem Sinn“, Bereich 1 „Grundfragen des Lebens“; diese Inhalte können hier nicht wiederholt werden.) In den folgenden Beiträgen werden wir diese „Sinngeschichte des Menschseins“ (als Grundlage für das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis eines Menschen als ein unverwechselbares „Ich“) etwas genauer anschauen.