Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Wer bin ich?

Beitrag 4: Das Menschen Herz (Bodo Fiebig12. Februar 2019)

Wir können an der Persönlichkeit eines Menschen verschiedene Teilaspekte unterscheiden (siehe dazu den Beitrag „Persönlichkeit“): Körperliche, geistige, emotionale, soziale, kulturelle, weltanschaulich-religiöse … Die alltägliche Erfahrung mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen zeigt uns aber, dass sich offensichtlich alle Teilaspekte des Menschseins irgendwo im Innersten einer Person zu einer individuellen und integrierten Einheit verdichten. Vor dort sehen wir ungeahnte Kräfte hervorbrechen: Antrieb und Hemmung, Freude und Trauer, Begeisterung und Verzweiflung, Zu- und Abneigung, Einsicht und Verwirrung, Erkennen und Verstehen, Wollen und Tun … Sie deuten darauf hin, dass es eine innerste Mitte der Person gibt, aus der alle Lebensäußerungen ihre Energien beziehen und ihre Ausformung erhalten und in der alle persönlichen Entscheidungen vorbereitet und in Gang gesetzt werden (später im Beitrag „individuelles und kollektives Bewusstsein“ werden wir darauf zurückkommen).

1 Die Mitte des Menschseins

Diese Kräfte aus der Mitte sind so übermächtig gegenüber den Bedürfnissen der einzelnen Teilbereiche, dass sie diese mitreißen können zu großartigen Leistungen – oder in den Tod. Am eindrucksvollsten ist es, wenn in einem plötzlichen, nie vorhersehbaren Umbruch das gesamte körperliche und seelisch-geistige Inventar eines Menschen einer neuen, veränderten Lebenshaltung unterworfen wird (aus dem eifernden Verfolger der ersten christlichen Gemeinden, Saulus, wird Paulus, einer der frühesten Missionare der Christenheit unter heidnischen Völkern), oder wenn bei einem Menschen, dessen Begabungen sich ungeformt und ungenützt in einem ziellosen und ungeordneten Leben verbrauchen, durch ein von außen kaum je wahrnehmbares Ereignis alle Kräfte des Körpers, des Geistes und der Seele nun auf ein Ziel hin zusammengefasst und ausgerichtet werden (aus einem im antiken Römischen Reich ziellos lebenden und philosophierenden jungen Mann wird der Christ, Bischof und Kirchenlehrer Augustinus). Solches geschieht ähnlich dramatisch, wie wenn in einem Staat durch einen Umsturz eine neue Regierung an die Macht kommt, die alle Mittel und Kräfte des Staatswesens auf ein neues Ziel hin zusammenfasst, alle Wertungen neu bestimmt, alle Bestrebungen neu ausrichtet, so dass die Vergangenheit anders gedeutet, die Gegenwart anders erlebt und gestaltet und die Zukunft anders erträumt wird.

Wenn wir danach fragen, ob auch die Bibel so ein innerstes „Ich-Selbst“ kennt, das alles Sein und Tun eines Menschen entscheidend mitbestimmt, dann stellen wir fest: Dies ist tatsächlich der Fall. Altes und Neues Testament verwenden für diese Mitte, für den Wesenskern und das Entscheidungszentrum einer Person den Begriff „des Menschen Herz“. Von diesem „Herzen“ wird gesagt, dass es etwas Verborgenes ist (1.Sam 16,7): „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an“. Und es ist etwas schwer Durchschaubares (Jer. 17,9): „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?“ Dieses „Herz“ ist immer in Gefahr, auch ethisch fragwürdige Motive und Handlungen hervorzubringen (1. Mose 8,21): „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“.

Das Herz des Menschen kann nach Aussagen der Bibel hochmütig und verstockt, verkehrt und irrig, hart und steinern sein, aber auch geängstet und zerschlagen, zerbrochen und demütig. Nach anderen Bibelstellen kann das Herz auch fröhlich sein, willig, einträchtig, rein, gehorsam und fest. Das Herz kann anklagen und verdammen, es kann zu Gott schreien, es kann sich öffnen und geheilt werden. Jesus sagt (Lk 4,18): „Ich bin gesandt, zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind“. Und der Verfasser des Hebräerbriefes (Heb 13,9): „Es ist ein köstlich Ding dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade“.

Das spürbar und hörbar im eigenen Leibe schlagende Zentralorgan des biologischen Lebens wurde zum Sprachbild für das viel umfassender verstandene Zentralorgan menschlicher Existenz.

Der Mensch hat den Tieren voraus, dass er etwas empfinden und wissen kann von einer Bedeutung, einem Sinn und Ziel seiner Existenz (siehe das Thema „Die Frage nach dem Sinn“). Dieses Bewusstsein von Wert und Sinnerfüllung des eigenen Lebens inmitten einer als „sinnvoll geordnet“ empfundenen Umwelt, das ist das eigentliche „Herzensanliegen“ des Menschen und ein Grundbedürfnis aller menschlichen Existenz. Ein Bergsteiger, Polarforscher, Spitzensportler … zwingt seinem Körper fast übermenschliche Anstrengungen und Entbehrungen auf. Nicht wegen des Rundblicks vom Gipfel oder weil der Südpol ein besonders lohnendes Ausflugsziel wäre, nicht wegen des Hauchs von echtem Gold in der olympischen Medaille, sondern wegen der Erfahrung und des Bewusstseins einer besonderen persönlichen Leistung, die ihn aus der Menge der Übrigen heraushebt. Das Bedürfnis nach Identität braucht die Erfahrung einer Einzigartigkeit, die sich positiv von allen anderen unterscheidet.

Selbst ein brutaler Verbrecher kann seine Handlungsweise nur dann durchhalten, wenn er sie in seinem „Herzen“ durch eine Mischung von Robin-Hood-Romantik, Gangster-Gemeinschaftserfahrung und Ganoven-Ehre rechtfertigt. Sogar die Aufseher, Folterer und Massenmörder in den deutschen Konzentrationslegern zur Nazi-Zeit und die Folterknechte aller Länder und Zeiten konnten und können ihr furchtbares „Handwerk“ nur deshalb ausführen, weil sie sich in ihrem Herzen ein Bild von sich selbst und von ihren Opfern zurechtgelegt haben, das ihr Tun als notwendig und nützlich, richtig und gut ausweist. Dies zeigt auch die ungeheure Verantwortung derer, die zwar selbst niemals einem Menschen direkt etwas zu Leide getan haben, aber die Ideen und Rechtfertigungsgründe lieferten, auf Grund derer andere so handeln konnten.

Ebenso kann ein selbstaufopfernder Dienst an Hungernden, Kranken, Behinderten und Sterbenden (z. B. bei Mutter Theresa von Kalkutta) nur getan und durchgehalten werden im Bewusstsein einer persönlichen Berufung und mit der Bestätigung, dass dies ein notwendiges, wertvolles und richtiges Handeln sei. Es ist die Kraft des Herzens, nicht der Hände, die das Entscheidende vollbringt. Sehen wir also nach, was in der Verborgenheit dieses „Herzens“ geschieht.

2 Was uns zu Herzen geht

Das, was in „des Menschen Herz“ hineinkommt, das, was einem Menschen „zu Herzen geht“ und was er sich „zu Herzen nimmt“ fassen wir meist unter dem Begriff „Erfahrung“ zusammen. Damit kann alles gemeint sein, was irgendwie von unseren Sinnen wahrnehmbar ist: jeder Außenreiz, jeder Eindruck, jedes Bild, jedes Geschehen, jeder Klang, jeder Duft oder Geschmack, jede Wärme oder Kälte, jeder Schmerz, jede Berührung, jedes Erlebnis, jede Begegnung, jedes gehörte oder gelesene Wort … Solche Erfahrungen sind jedoch nicht isolierte Einzelfakten, sondern sie sind jeweils in eine bestimmte historische, soziale, politische, ökonomische, geografische, kulturelle und religiös-weltanschauliche Umweltsituation hineingestellt, von der aus sie ihre Bedeutung und ihr Gewicht erhalten.

Erfahrungen sind das Ausgangsmaterial, aus dem wir unser Weltverständnis (siehe Beitrag 2) bauen. Aber nicht nur das, auch unser Selbstverständnis kann nicht unabhängig von unseren Erfahrungen gestaltet werden. Unser Selbst lebt von der Begegnung mit dem Fremden, unser Innerstes von der Berührung mit dem Äußeren, ja es bekommt durch die Auseinandersetzung des eigenen Befindens mit den Erfahrungen aus der Außenwelt die entscheidenden Impulse für die Ausformung seiner Identität. Ohne die Beziehung zum Du (in Annäherung und Auseinandersetzung) kann das Ich nicht Gestalt annehmen. Die Erfahrung ist die Nahrung für personales Wachstum.

Freilich kommen solche Erfahrungen nicht ungefiltert und ungefärbt durch die Einfallstore der Wahrnehmung. Wir haben ja schon Grundmuster des Erlebens, die durch die Sprache und Kultur, in der wir aufwachsen, durch frühkindliche Prägungen und spätere Bildungsprozesse vorgezeichnet sind. Unsere Aufnahmebereitschaft und Sensibilität, unser Vorwissen und Interesse bevorzugen Erfahrungen, die diesem Grundmustern entsprechen.

Und auch nicht alles, was dann doch die Eingangsschleusen der Wahrnehmung passiert, gelangt auch wirklich bis ins Innerste. Da gibt es Barrieren, Mauern und Gräben. Dieses „Herz“, das innerste „Ich-Selbst“ einer Person wird gegen unerwünschte Eindringlinge (vor allem gegen Erfahrungen, die das eigene Selbst-Bewusstsein in Frage stellen könnten) verteidigt, wie eine mittelalterliche Burg. Wird das Neue, eine unerwartete Erfahrung, als unpassend oder gefährlich eingeschätzt (gefährlich vor allem für die Aufrechterhaltung des eigenen Selbstwertempfindens), so tritt eine Reihe von Abwehrmechanismen in Aktion: Das Einfachste ist, die unerwünschte Veränderung einfach zu ignorieren, zu tun, als wäre alles noch so wie bisher. Wenn das nicht gelingt, beginnt man die Mauern der Abwehr um sich herum ein Stückchen höher zu bauen, nun werden die Gitter des Misstrauens herabgelassen, die Gräben der Feindschaft mit den Fluten der Beschimpfung gefüllt, die Pfeile der Bosheit abgeschossen … Jedenfalls zieht man es nun vor, die Festung der eigenen Überzeugungen nicht mehr zu verlassen, Wege, wo einem das Neue begegnen könnte, nicht mehr zu gehen und nur noch solche Erfahrungen an sich heranzulassen, die einem bestätigen, dass alles in Ordnung ist, so wie es immer war.

Der riesige Verteidigungsaufwand zeigt uns den Wert dessen an, was da verteidigt werden soll: Es geht ums Leben, um den Bestand und Fortbestand der personalen Existenz, um die Gültigkeit dessen, was mein Leben bisher ausgemacht hat. Denn wenn das Neue, das mein bisheriges Leben (meine Lebensführung, meine Einstellungen und Handlungsweisen) in Frage stellt, tatsächlich wahr ist, dann müsste ich zugeben, dass ich bisher falsch gelebt habe; dann habe ich bisher falsche Ziele verfolgt, nach falschen Plänen gebaut, mit falschen Maßstäben gemessen und stehe vor der Notwendigkeit, mein Leben neu zu ordnen. Das wird von den Betroffenen fast immer als bedrohlich empfunden. Oft halten Menschen lieber lange Zeit an negativen und quälenden Umständen fest, als dass sie bereit wären, das Gewohnte zu verlassen.

Freilich kommt es vor, dass Mauern nicht standhalten, dass ein Verteidigungssystem zusammenbricht. Fassungslos steht dann der Überwältigte vor Erfahrungen, die sein Innerstes in Unordnung bringen, die er als schmerzlich und gefährlich empfinden muss. In vielen Fällen wird es aber so ein, dass das Neue, vor dem wir uns fürchteten, eher hilfreich ist und die Gefahren und Schmerzen mehr von den Verteidigungsmaßnahmen herkommen als vom Angriff des Neuen.

3 Was von Herzen kommt

Was nun mit den Erfahrungen geschieht, die den Weg ins Innere gefunden haben, was sie dort bewirken und verändern, können wir von außen nicht erkennen. Wir sehen nur als Ergebnis dieses Geschehens im Innern die darauf folgenden Verhaltensweisen der Menschen und stellen mit Erstaunen fest, dass da nur selten ein direkter, kurzschlüssiger Zusammenhang erkennbar wird. Offensichtlich werden die Erfahrungen in der Verborgenheit des Herzens auf immer andere und überraschende Weise „verarbeitet“. Das, was im Innern einer Person geschieht, ist offenbar mehr als eine gradlinige Umsetzung von Erfahrungen in Handlungen. Das personale „Herz“ des Menschen arbeitet offensichtlich nicht nur wie eine „Pumpstation“, wo die Erfahrungen umgewälzt, und als Handlungen wieder ausgegeben werden, sondern eher wie eine innere Bewertungs- und Steuerungsinstanz, wo die Erfahrungen anhand des persönlichen Selbst- und Weltverständnisses gedeutet werden und nach einem komplizierten Aneignungsprozess Anstöße für eigenes Verhalten und Handeln geben (siehe den folgenden Beitrag „Die Zentrale des Selbst“) .

Allerdings treffen solche Handlungsimpulse dann, öfter als uns bewusst ist, auch auf der „Ausgangsseite“ der Person auf Hindernisse: Unsere allgemeinen körperlichen und geistigen Veranlagungen ebenso wie die jeweilige aktuelle gesundheitliche und emotionale Verfassung lassen nur bestimmte Verhaltensoptionen zu und selbst die treffen noch auf äußere Umstände, die nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Andere Bereiche werden von Verboten und Tabus umstellt. Und selbst da, wo keine Verbotstafeln stehen, drängt schließlich der Druck von Rollenerwartungen unser Verhalten in eine bestimmte Richtung. Es wird von Medien und Meinungsmachern beeinflusst, von Mode und Moral überlagert und von Zuständen und Zwängen gelenkt, so dass es oft kaum mehr zu erkennen ist als etwas, was wirklich „von Herzen kommt“.

4 Was das Herz bewegt

Wir haben gesehen, dass das „Material“, mit dem wir im Inneren unseres Herzens umgehen, unsere Erfahrungen sind. Wir haben auch erkannt, dass nicht alle Erfahrungen tatsächlich den Weg ins Innerste finden. Die Erfahrungen aber, die wirklich „uns zu Herzen gehen“ und alle Worte und Eindrücke, die wir uns „zu Herzen nehmen“, die geraten da im Innersten nicht auf ein leeres freies Feld oder in eine Art Lagerhalle (Gedächtnis) wo sie wahllos gesammelt und gestapelt würden, sondern in einen Bereich, den wir eher mit einem riesigen Puzzlespiel vergleichen können. Da ist schon eine Menge Material vorhanden. Einige Teile fügen sich sinnvoll aneinander und lassen bereits einen Bildzusammenhang erkennen, anderes wird noch immer hin- und hergeschoben und findet keinen Platz, wo es sich sinnvoll einfügen ließe. Auf dieses „Spielfeld“ gelangen nun auch unsere neuen Erfahrungen. Das „Spiel“ das dort stattfindet, hat aber einen todernsten Hintergrund: Es geht dabei um die Bewahrung, Bestätigung und Stärkung der Identität eines Menschen oder um deren Gefährdung, Zerbruch und Auflösung.

Nehmen wir als Beispiel den Fall eines leitenden Angestellten einer großen Firma, der seine Person und seine Leistungen im Betrieb für völlig unersetzlich hält, und dem plötzlich gekündigt wird, während andere in seiner Abteilung ihre Stelle behalten. Oder nehmen wir das Beispiel einer Ehefrau in den besten Jahren, die von der festen Überzeugung ausgeht, dass sie von ihrem Mann geliebt wird und sie für ihn erotisch attraktiv und sexuell begehrenswert ist, und die durch einen Zufall herausfindet, dass ihr Mann schon seit Jahren eine außereheliche Beziehung zu einer deutlich jüngeren Frau unterhält. Was machen solche Erfahrungen mit dem Bild, dass diese Menschen in ihrem Innersten von sich selbst ausgemalt hatten?

Seine Dynamik erhält das verborgene Geschehen im Innern des Herzens durch zwei „Spielregeln“, die dabei gelten:

Erstens besteht die Notwendigkeit, jede Erfahrung, die wir als wesentlich und bedeutsam einschätzen, weil sie uns im Innersten getroffen hat, auch wirklich im Sinnzusammenhang des Selbst- und Weltverständnisses unseres Herzens unterzubringen. Jede neue Erfahrung, für die sich keine Möglichkeit finden ließe, sie irgendwie mit dem bestehenden Bild in Passung zu bringen, würde ja das ganze bisherige System in Frage stellen. Das Bild, das hier entstehen soll, ist ja nicht vorgegeben, wie sonst bei einem Puzzle-Bild, wo schon feststeht, wie das „fertige“ Bild aussehen soill, noch bevor das erste Puzzle-Teil gesetzt wird. Es ist für jeden Menschen ein schöpferischer Neuentwurf, der auch misslingen kann.

Es ist aber ganz und gar nicht gleichgültig, ob er gelingt oder misslingt. Mein Verständnis von der Welt in der ich lebe, das ich mir aus den Bausteinen meiner Erfahrungen in der Verborgenheit meines Herzens zusammengesetzt habe, ist ja die Grundlage meines Tuns und aller meiner Lebensäußerungen. Wie sollte ich sinnvoll handeln können, wenn der Bezugsrahmen, in dem dieses Handeln geschieht, unklar ist? Wie sollte ich angemessen auf meine Umwelt reagieren, wenn das Bild, das ich von ihr habe, widersprüchlich ist und ich deshalb auch die Folgen meines Handelns gar nicht abschätzen kann?

Wohl besteht nur in den seltensten Fällen das „Weltbild“ eines Menschen als ein einziges, zusammenhängendes, großes Gemälde, in das alle Erfahrungen sinnvoll und lückenlos eingeordnet sind. Meist sind da im „Puzzlespiel“ des persönlichen Welt- und Selbstverständnisses nur Teilbereiche vorhanden, wo eine Anzahl von Bausteinen schlüssig ineinandergreift, während Verbindungselemente zu anderen Bereichen noch fehlen und manche Einzelerfahrungen noch gar nicht eingeordnet werden können. Manchmal mag da auch nur ein wüster Haufen unverbundener und unbewältigter Eindrücke herumliegen, innerhalb dessen sich einige wenige Elemente zu einer mühsam erzwungenen Ordnung zusammenfinden; eine winzige, unsichere Basis, auf der die ganze Person krampfhaft festgekrallt und schwankend steht.

Um auf gesicherter Grundlage leben und handeln zu können, müssten aber wenigstens die Grundzüge eines – zumindest subjektiv schlüssig erscheinenden – Gesamtbildes der eigenen Umwelt erkennbar sein. Je mehr von den Erfahrungen, die ich täglich mache, sich nicht einordnen ließen in meine Vorstellung von der Welt und von meiner Situation in ihr, und je wichtiger und bedeutungsvoller ich eben diese Erfahrungen einschätzen müsste, desto brüchiger würde das Fundament meines täglichen Lebens und Handelns.

Die zweite der beiden oben genannten „Spielregeln“ heißt: Der Gesamteindruck des Bildes von der Welt, das ich mir aus den Bausteinen meiner Erfahrungen zusammengebaut habe, muss so sein, dass ich selbst darin einen Platz einnehme, den ich als positiv bewerten kann.

Der Sinn dieser zweiten Regel und die Notwendigkeit, sie einzuhalten, liegen auf der Hand: Nehmen wir an, ein Mensch würde in kühler Objektivität (ein anderer vielleicht in einer depressiv verfälschten Wahrnehmung gefangen) alle Informationen, die er von seiner Umwelt über sich selbst empfängt, registrieren und es würde dabei etwa das folgende Gesamtbild seiner Umweltbeziehungen entstehen: „Mein Leben ist gänzlich ohne Sinn, ich werde von niemandem geliebt oder gebraucht, mein Mühen und Tun sind völlig vergeblich. Für andere bin ich nicht Hilfe, sondern Last und ich selbst erlebe mein Dasein als belastet von Unglück, Krankheit und Schmerz, und Besserung wäre auf keinem Gebiet zu erwarten…“ (ein Selbstempfinden, das nicht nur bei alten Menschen vorkommt). Wie sollte er dann die Kraft und den Mut haben, weiterzuleben?

Welche Mühe mag es für einen von Misserfolgen und Ablehnung gedemütigten Menschen bedeuten, sein Bild von seiner Umwelt und der eigenen Situation in ihr jeweils so umzubauen, dass er die Erfahrungen, die er da macht, dennoch irgendwie positiv deuten kann und nicht das ganze System irgendwann in einen Zustand lähmender Hoffnungslosigkeit umkippt! Die meisten Menschen erleben den Wert und die Würde ihres Daseins nicht als etwas Vorgegebenes und Selbstverständliches (etwa wie bei dem Status der Adeligen früherer Jahrhunderte), sondern als etwas Werdendes, ständig sich Veränderndes, etwas mühsam Errungenes und ständig zu Verteidigendes und als etwas sehr, sehr Verletzliches.

„Des Menschen Herz“ als Zentrum des Menschseins, wo das Individuum an seiner „Weltverinnerlichung“ aus Weltverständnis und Selbstverständnis arbeitet, ist auch die Stelle, in der sein Wollen und Entscheiden sich ausformt. Der folgende Beitrag „Die Zentrale des Selbst“ will uns nun vor Augen führen, wie in der Verborgenheit eines Menschenherzens sich ein einzigartiges „Ich“ entwickeln kann.

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