Wichtig ist, dass wir verstehen: Die oben bisher beschriebene „Halle“ (siehe Beitrag 5 „Die Zentrale des Selbst“), in der sich unsere „Weltverinnerlichung“ vollzieht und alles, was dort geschieht, stellt die Nachrichtenzentrale des „Staates“ dar, nicht die Regierung, oder anders ausgedrückt: Das Ordnungs- und Bewertungszentrum der Person, nicht ihr Entscheidungsorgan. Das Entscheidungsorgan finden wir (wieder im Bild gesprochen) an der „Decke“ unserer „Nachrichtenzentrale“. Dort steht über allem Geschehen in den „Arbeitsbereichen“ und „Leuchtmustern“ riesengroß und hell erleuchtet das Wort „ICH“. Dabei muss ich hier gleich einem Missverständnis zuvorkommen: Gemeint ist hier nicht eine Art Über-Ich im Sinne Sigmund Freuds, das muss man hier gänzlich ausblenden, um nicht auf eine falsche Fährte zu gelangen. Gemeint ist der Persönlichkeits-Kern eines Menschen, in dem alle Teilbereiche (also seine biologische Ausstattung ebenso wie seine persönliche und allgemeine Vor-Geschichte, sein Weltverständnis ebenso wie sein Selbstverständnis) zusammen mit einem Ich-Bewusstsein, das sich selbst als werdendes, wollendes und handelndes Individuum erkennt, zu einem Ganzen integriert sind.
Dieses ICH hat den (freilich situativ begrenzten) Überblick über alles Geschehen in den beiden Abteilungen „Weltverständnis“ und „Selbstverständnis“ und kann seine Entscheidungen danach ausrichten. Allerdings: Dieses ICH hat auch ein Gegenüber (vielleicht müssten wir, weil wir das ICH in unserem Vergleich oben an der Decke verortet haben, richtiger sagen: Ein „Gegenunter“), und das ist sozusagen der Boden, das Fundament, auf dem alles steht. Es ist die biologische Grundlage, die auch für alles geistige Leben unabdingbare Voraussetzung ist. Es ist unser natürliches EGO und das ist, wie könnte es anders sein, ein Egoist. Es neigt von seinen eigenen Antrieben her immer zu den Entscheidungen, von denen es für sich selbst am meisten erwartet. Das muss uns nicht verwundern, denn unser Ego stammt aus den Tiefen der Entwicklung des Lebens, wo das Prinzip vom „Kampf ums Dasein“ vorherrscht. Der Wille zum Überleben als Individuum, als Familie, Sippe und Stamm ist der stärkste unserer natürlichen Antriebe. Aber er ist nicht der einzige. Nein, sondern der Mensch ist das einzige Lebewesen, das bewusst darüber hinausgehen kann. Er ist das einzige Lebewesen, das nicht nur eine Welt-Wahrnehmung hat, sondern auch ein Welt-Verständnis und nicht nur eine Selbst-Wahrnehmung, sondern auch ein Selbst-Verständnis. Und dieses Verständnis der Welt und der eigenen Person macht es dem Menschen möglich, größere Zusammenhänge zu erkennen und dementsprechend zu handeln.
Das EGO sagt: Ich will fressen. Das Welt- und Selbstverständnis kann sagen: Iss nicht so viel. Erstens ist es ungesund und zweitens wollen andere auch was haben. Und ICH soll und kann mich entscheiden.
Das EGO sagt: Ich will Sex. Das Welt- und Selbstverständnis kann sagen: Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber wenn du deiner Partnerin/deinem Partner treu bleibst, wirst du vielleicht weniger Sex haben, aber euer Miteinander wird ehrlicher, offener und vertrauensvoller sein, auf Dauer auch glücklicher. Und ICH soll und kann mich entscheiden.
Das EGO sagt: Ich will Macht, die ganze Macht. Das Welt- und Selbstverständnis kann sagen: Gerechtigkeit und Frieden sind besser als Macht. Denn Macht haben ist gut nur für wenige. Gerechtigkeit und Frieden sind gut für alle. Und ICH soll und kann mich entscheiden.
Das EGO ist auch die stärkste Triebkraft unserer Emotionen: Kaum etwas anderes kann unsere Gefühle heftiger in Bewegung bringen, als Vorgänge, Erlebnisse, Erfahrungen, die uns selbst (und unsere Nah-Beziehungen zu anderen Menschen) betreffen. Das ICH aber hat die Fähigkeit, auch dazu auf Distanz zu gehen. Nein, nicht um das Emotionale zu verdrängen, aber doch, um auch die emotionale Seite unseres EGO zu ordnen und zu werten. Das ICH hat die Möglichkeit, auch die eigenen Emotionen zum eigenen Selbst- und Weltverständnis und zu den darin enthaltenen ethischen Überzeugungen in Beziehung zu setzen und so zu Entscheidungen zu kommen, die nicht nur emotional bewegt, sondern auch ethisch begründet sind.
Dabei müssen wir uns wieder bewusst machen: Unser persönliches Welt- und Selbstverständnis ist Teil einer viel größeren, umfassenderen Weltwahrnehmung und Weltdeutung der Menschheit in ihrer Geschichte. Die Erfahrungs-Geschichte eines Menschen ist eingebettet in die Erfahrungs-Geschichte der Menschheit (in der jeweiligen Prägung einer besonderen Kultur) und bekommt von dort ihre Weite und ihre Verständlichkeit. Die Weltverinnerlichung eines Menschen enthält unter anderem auch die jeweils individuelle Ausformung (innerhalb einer kulturbedingten und zeitgeschichtlichen Gesamtsituation) des kollektiven ethischen Unterbewusstseins der Menschheit, das in jahrtausendelangen Gärungs- und Aneignungsprozessen in den Regelungen und Wertungen der Kulturen und Religionen der Menschheit entstanden ist. Und dieses „ethische Unterbewusstsein“ ist Teil der kollektiven „Weltverinnerlichung“ der Menschheit, ist Teil der Weltverständnisses und Selbstverständnisses der Völker und Kulturen, die in Jahrhunderten und Jahrtausenden gewachsen sind. Sie speist sich aus den Erfahrungen der Völker und Generationen, die in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Schwerpunkten die ethischen Grundsätze, Entscheidungen und Handlungen von Milliarden Menschen in verschiedenen Kulturen durch die Jahrtausende geprägt haben (siehe dazu das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“).
Das, was wir unser „Gewissen“ nennen, ist, so betrachtet, eine Warnmeldung unserer persönlichen „Weltverinnerlichung“ (in der ja auch individuelle Anteile und Ausformungen dieses „ethischen Unterbewusstseins der Menschheit“ wirksam sind), die jede meiner Handlungsweisen und deren mögliche Folgen mit dem Wertesystem meines eigenen Weltverständnisses und Selbstverständnisses vergleicht und da manchmal Dissonanzen findet („du meinst doch, dass Ehrlichkeit zwischen den Menschen, den Gruppen und Völkern sehr wichtig ist und du hältst dich selbst für einen ehrlichen Menschen, und nun willst du deinen Vorgesetzten anlügen, um bei den Gehaltsverhandlungen besser abzuschneiden?“). Dieses „Gewissen” konkretisiert sich immer wieder neu in der aktuellen Deutung der Erfahrungen innerhalb einer bestimmten Situation mit je besonderen weltanschaulichen und religiösen Begründungen.
Die letzte Entscheidungsinstanz für das Wollen und Handeln eines Menschen ist sein ICH, in welchem sein ganzes Menschsein mit seinem Weltverständnis und Selbstverständnis, mit seinen ethischen Überzeugungen und seinem natürlich-biologisches EGO zu einem einzigartigen Individuum verbunden sind. Das ICH hat die Freiheit der Entscheidung, nicht das EGO. Und das bedeutet: Der Mensch ist frei, sich auch gegen die Begehrlichkeiten seines EGO zu entscheiden. Er wird sich nicht immer wohl fühlen dabei, denn das EGO, seine natürlich biologische Lebensgrundlage ist eine starke Macht im Zusammenspiel seiner Motivationen. Trotzdem sind solche Entscheidungen möglich und werden in der Realität tagtäglich millionenfach vollzogen: Normalerweise wird ein Mensch einen anderen nicht umbringen und ausrauben, auch wenn er in einer speziellen Situation sicher sein könnte, dass niemand davon etwas erfahren würde und er das Geraubte ungestört genießen könnte.
Ebenso kann ein Mensch aber auch gegen die Grundsätze seines Gewissens entscheiden und handeln. Und auch dabei wird er sich nicht wohl fühlen, denn sein „Gewissen“ ist ja nicht etwas von außen Aufgezwungenes, sondern es ist der normative Bedeutungsgehalt seiner eigenen Weltverinnerlichung, und die ist ein wesentliches und unentbehrliches Element seiner eigenen Person. Wenn er sich dagegen entscheidet, wird ein Riss entstehen zwischen seiner personalen Identität und seinem Handeln. Es ist ein Irrtum zu meinen, die Entscheidung für das EGO und gegen das Gewissen wäre in jedem Falle leichter.
In Extremsituationen kann die Orientierung einer Entscheidung an der eigenen „Weltverinnerlichung“ und deren Werteordnungen zu einer Frage um Leben und Tod werden. Etwa wie bei dem Franziskaner-Mönch Maximilian Kolbe, der 1941 im KZ Auschwitz für einen zum Tode verurteilten Familienvater freiwillig in den Hungerbunker ging und dort starb.
Aber, woher kommt dieses ICH, das solche Macht über unser Wollen, Leben und Handeln hat? Es kann doch nicht einfach so aus dem Nichts entstehen! Selbstverständlich nicht. Aber um zu verstehen, woher dieses ICH seine Identität hat und seine Energien bezieht, dazu müssen wir noch einen Schritt weitergehen (siehe den Beitrag 11 „Die Identität des ICH“, zunächst müssen wir aber noch das „Ich“ des Menschen im Zusammenhang seiner Beziehungen und Entwicklungen wahrnehmen (siehe die folgenden Beiträge „Die Quelle des Verstehens“, „Der Baum der Erkenntnis“, und „Im Wandel der Zeit“).