„Sein und sollen? Nein, danke, nicht schon wieder! Ich bin den ganzen Tag lang derjenige, der etwas soll. Mein Chef sagt mir, was ich zu tun habe und wie er das haben will. Ich würde ja gern manches anders machen, als ich es soll, aber wenn ich das nicht so mache, wie er sich das vorgestellt hat, dann gibt es Ärger. Da bleibt für mich selbst, für meine individuellen Ansichten, Fähigkeiten, Begabungen, Pläne, Bedürfnisse… nicht viel Raum. Und da soll ich noch Lust haben auf eine Religion, die mir ständig sagt: Du sollst und Du sollst nicht? Nein, danke. Ich bin ja nicht gegen den Glauben an einen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der die Naturgesetze eingerichtet und die Kräfte des Universums in Gang gesetzt hat. Aber damit soll’s auch gut sein; aus meinem privaten Leben soll er sich raushalten. Da will ich selbst entscheiden können, was ich will oder nicht.”
So oder so ähnlich denken und reden viele und das ist auch sehr verständlich. Auf einen „Gott“, der nichts anderes sein will als unser oberster Chef, der uns sagt, was wir tun sollen und wie wir das machen sollen und vor allem, was wir nicht tun dürfen, auf so einen könnten wir gern verzichten. Aber ist der Gott der Bibel nicht genau so ein „Chef”? Versteht sich nicht zumindest das Alte Testament selbst als „Gesetz” (Thora), das vor allem aus Vorschriften und Verboten besteht („… du sollst“ und „du sollst nicht …“)?
Nein, das wäre ein grundsätzliches und schwerwiegendes Missverständnis der Bibel Alten und Neuen Testaments und des Gottes, von dem da die Rede ist. (Im Folgenden verwende ich für den biblisch offenbarten Gott, um ihn von anderen „Göttern“ zu unterscheiden, den biblischen Gottes-Namen JHWH – wie der richtig ausgesprochen wird, weiß niemand mehr. Siehe dazu auch das Thema „Gott“ im Bereich „Grundfragen des Glaubens“).
Was JHWH uns sagen will, ist nicht in erster Linie das, was wir tun sollen oder das, was wir nicht tun dürfen, sondern das, was wir sein sollen. Der entscheidende An-Spruch der biblischen Botschaft an uns meint keine Vorschriften für unser Tun, sondern eine Zielangabe für unser Sein. Und erst dann, erst in zweiter Linie (damit dieses Sein auch gelingen kann), da gibt uns JHWH dann auch wichtige Hinweise auf Verhaltensweisen, die diesem „Sein“ entsprechen und die auf guten Wegen weiterführen. Sehen wir also genauer hin, was es mit diesen Begriffen auf sich hat: Sein und sollen. Zunächst geht es dabei um das Begriffspaar „wollen“ und „sollen“, denn daran entzünden sich die Widersprüche.
Sollen oder wollen, diese beiden Begriffe beschreiben – jedenfalls im Verständnis vieler Menschen der Gegenwart – den Konflikt zwischen Rückständigkeit und Moderne, zwischen Fremdbestimmung und Freiheit. Etwas „sollen” bedeutet Abhängigkeit, Unfreiheit, Unterdrückung, bedeutet, nicht selbst entscheiden zu können, was man tun will. Aber gerade dieses „Selbst-entscheiden-können” (und dann auch die Freiheit und die Möglichkeiten haben, das, wofür man sich entschieden hat, auch tatsächlich zu verwirklichen) das bedeutet dann Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Freiheit, Modernität.
Das ist, für sich genommen, eine selbstverständliche und im allgemeinen auch richtige Sichtweise. Viele aber identifizieren dann ganz automatisch und ohne weiter darüber nachzudenken, solches als einengend empfundenes „Sollen” mit Religion und solches von allen Vorschriften befreites „Wollen” mit einer religionsfreien Einstellung, und da kann es natürlich nicht verwundern, dass eine (mehr oder weniger bewusste) Gott-Losigkeit als die wesentlich attraktivere Alternative angesehen wird. Religion erscheint vielen als aufgezwungenes Regelwerk, welches das meiste, was ihnen Spaß macht, mit Tabus umstellt und das ihrer Eigeninitiative enge Grenzen setzt. Im Gegensatz dazu verbinden sie eine religionsfreie Haltung mit Befreiung, Selbstbestimmung und Menschenwürde.
Soweit wäre alles ganz einfach und spräche sich eindeutig gegen Religion und für eine atheistische Einstellung und Gesellschaftsform aus, wäre da nicht eine sehr reale und zugleich überraschende Erfahrung (vor allem die Erfahrung des vergangenen 20. Jahrhunderts):
Ausgerechnet die Gesellschaftssysteme, die sich selbst als religionskritische „Befreiung” verstanden (das waren für die Gesellschaften Europas seit der Französischen Revolution im Wesentlichen der Liberalismus, der Kommunismus und der Nationalismus), haben in der historischen Realität sehr schnell unerbittliche Zwangssysteme entwickelt.
Überall dort, wo sie tatsächlich irgendwo an die Macht gekommen waren, wurden sie zu gewalttätigen Diktaturen (siehe das Thema „Die Revolution und ihre Kinder“ im Bereich „ mitreden – kontroverse Diskussion“, dort sind die Verhältnisse und Entwicklungen eingehender dargestellt).
Beispiele dafür waren die bewusst atheistisch-kommunistischen Systeme in der Sowjetunion und ihren Vasallenstaaten, auch in China unter Mao, in Kambodscha usw. oder auch im heutigen Nordkorea. Diese Volks-Befreiungs-Kommunen waren (bzw. sind) in Wirklichkeit Parteidiktaturen mit einer für alle verpflichtenden und zwangsweise verordneten Ideologie (und den entsprechenden Vorschriften für das Leben und Handeln der „Genossen“).
Als Beispiel für die zweite Form der Verwirklichung einer religionsfeindlichen Ideologie muss man das atheistisch-nationialistische „Dritte Reich“ in Deutschland nennen, eine Ideologie, welche „Gott“ durch eine selbsterdachte „Vorsehung” ersetzte und das Christentum durch eine religiös überhöhte Rassenideologie.
Und ja: Auch die atheistisch-liberalistische Ideologie in der Form eines rücksichtslosen Turbo-Kapitalismus, wie er sich in vielen Regionen der Erde breit gemacht hat, muss zu diesen Zwangssystemen gerechnet werden.
Herausragendes gemeinsames Merkmal aller dieser atheistischen Befreiungssysteme wurden schon bald nach ihrer „Machtergreifung“, und nach und nach immer massiver und brutaler, die Gefangenenlager (der GULAG in den Eiswüsten Sibiriens in der Sowjetunion, die „Umerziehungslager” der „Kulturrevolution” in China unter Mao oder die Straflager im heutigen Nordkorea ebenso wie die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalisten in Deutschland usw, usw.). Gefangenenlager, in denen im 20. Jahrhundert viele Millionen unschuldiger Menschen bis zum Äußersten durch Zwangsarbeit ausgebeutet und schließlich umgebracht wurden (siehe das Thema „Die Ethik des Atheismus”). Bisher hat es auf dieser Erde kein bewusst und betont atheistisches und staatlich verfasstes System gegeben, dass seinen Bürgern die Freiheit gelassen hätte, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen.
Und das gilt auch für die heutigen liberalistischen Systeme der Weltwirtschaft und der globalen Finanzwirtschaft (jedenfalls da, wo sie in der Form eines ungebändigten Raubtier-Kapitalismus in Erscheinung treten). Systeme, die für ihre systembedingten und systemnotwendigen „Billigproduzenten” in den „Billiglohnländern” ebenfalls Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung, Sklaverei-ähnliche Arbeitsbedingungen, Hunger und Tod bedeuten. Ihre „Konzentrations- und Arbeitslager” sind die Fabrikhallen oder Bergwerke in vielen Ländern Asiens und Afrikas und Südamerikas, wo jeweils Tausende unter menschenunwürdigen Bedingungen für Hungerlöhne arbeiten und manchmal auch sterben.
Es waren diese großen „Menschheits-Beglückungs-Ideologien“ des 20 Jahrhunderts, die eben dieses Jahrhundert zum weitaus blutigsten der ganzen Menschheitsgeschichte machten!
Trotzdem wirft man ungeprüft und oft sehr emotional bewegt, den Religionen (und vor allem den biblischen Religionen, Judentum und Christentum) vor, vor allem mit Geboten und Verboten die Menschen in geistiger Abhängigkeit und in beengender Unfreiheit des Lebens und Handelns zu halten.
Als bekanntestes Beispiel dafür gelten die sogenannten „Zehn Gebote“ (in der Bibel, im 2. Buch Mose, Kapitel 20, Verse 1-17). Ich nenne sie hier die „zehn Weisungen“ (siehe den folgenden Beitrag).
Alle Beiträge zum Thema "sein und sollen"
- wollen oder sollen?
- Die zehn Weisungen
- Was ist der Mensch?
- Mitten in dieser Welt
- Die Perspektive der Vollendung
- Der zweite Teil der Schöpfung
- Vergegenwärtigung des Himmlischen auf der Erde
- Vorverwirklichung des Zukünftigen in der Gegenwart
- Die Herausforderung des Menschseins
- Das Licht der Menschlichkeit
- Das Leuchtbild der Gemeinschaft
- Allgemeine und persönliche Berufung