Wozu ist das Mensch-Sein geschaffen? Wozu sind wir da? Jahrtausende lang haben Menschen um diese Frage gerungen, bis sie (gewiss nicht alle, aber doch viele) in unserer Zeit, enttäuscht und frustriert, diese Frage als irrelevant zur Seite gelegt haben: Der Mensch sei im Verlauf zufälliger Entwicklungen in dieses Dasein geworfen, ohne Sinn und Ziel und deshalb sei es völlig Sinn-los, nach einem Sinn und Ziel des Daseins zu fragen. Das heißt: Man will der Herausforderung, seinen Daseinssinn zu enträtseln ausweichen, indem man ihn verleugnet. Aber damit, dass man sich dieser Frage entledigt, ist sie ja nicht erledigt, zumindest nicht für Menschen, die sich mit „Geld verdienen und Spaß haben” als alleinigen Lebenssinn nicht abfinden wollen. Stellen wir uns also dieser Frage: Was ist der Mensch und wozu ist er da?
Was macht das Menschsein des Menschen aus? Seine Intelligenz, die ihn aus der Menge der übrigen Lebewesen heraushebt? Seine Sprachfähigkeit und die Entwicklung der Schrift, mit deren Hilfe er Erfahrungen, Wissen, Überlegungen, Emotionen… mitteilen und austauschen kann? Seine technischen Errungenschaften, vom Rad bis zur Weltraumrakete, vom Zählbrett bis zum Supercomputer, von der Erdhöhle bis zum Wolkenkratzer, vom Rauchzeichen bis zur globalen Kommunikation …? Das alles sind Ergebnisse jahrtausendelanger, immer weiter aufeinander aufbauender Denk- und Gestaltungsprozesse und großartige Leistungen des menschlichen Geistes. Aber machen sie allein schon das Besondere und Einzigartige des Menschseins aus? Was ist es, das den Menschen zum Menschen macht? (Siehe dazu auch die Themen „Wer bin ich?” und „Die Frage nach dem Sinn”.)
Die Bibel sagt: Materiell gesehen ist der Mensch gar nichts Besonderes. „Staub vom Erdboden” ist er, heißt es da (1. Mose 2, 7). Und die Bibel hat recht: Die Atome, aus denen ein menschlicher Körper zusammengesetzt ist, unterscheiden sich in nichts von denen, die den „Staub vom Erdboden” bilden. Auch biologisch gesehen ist der Mensch nichts Besonderes. Biologisch funktioniert er genau so wie jedes andere Lebewesen auch. Und genetisch ist er den Säugetieren, einem Hund z. B. oder einer Maus, ganz eng verwandt.
Das Besondere des Mensch-Seins liegt nicht in seiner Materie und nicht in seiner Biologie. Worin aber dann? Was macht denn dann das Mensch-Sein des Menschen aus? Die Bibel sagt: Das Besondere am Menschen liegt in seiner Berufung, liegt in dem, was er sein kann und werden soll. Jedes Tier erfüllt den Sinn seines Daseins allein schon durch sein Da-Sein als Mit-Geschöpf im Beziehungsgefüge des Lebens. Es kann seinen Lebenssinn nicht verfehlen. Der Mensch aber hat die Erfüllung seines Lebenssinns als Aufgabe bekommen, die er erfüllen oder auch versäumen kann. Er ist das einzige Lebewesen, das den Sinn seines Daseins nicht in sich selbst hat, sondern ihn suchen und finden und als Berufung annehmen muss.
Aber was ist das für eine Berufung? Das steht schon ganz am Anfang der Bibel, in der „Schöpfungsgeschichte“ (1.Mose 1, 26-27, wörtliche Übersetzung): Und (es) sprach Gott: Machen (wollen) wir Menschen in unserem Bild, gemäß unserer Gleichheit. (…) Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bilde Gottes schuf er ihn …
Biblisch gesehen ist dieses auf zwei Beinen aufrecht gehende Lebewesen „Mensch” nicht definiert durch das, was es ist (ein relativ intelligentes Säugetier) sondern durch das, was es sein soll: „Bild” JHWHes, Abbild und Darstellung des innersten Wesens dessen, der das Universum geschaffen hat.
Der Mensch ist im Vergleich zu allem Vorangegangenen eine wirkliche Neuschöpfung JHWHes, trotz seiner biologischen Nähe zu den Säugetieren. Und dieses „ganz Neue“ ist nicht materieller und nicht biologischer Art, sondern besteht in einer besonderen, nur die Menschen betreffenden Berufung: Die Schöpfung „Mensch“ soll „Bild“ sein, Ikone – Ikone JHWHes, das heißt: Sichtbare Darstellung des Schöpfers in der Schöpfung, anschaubare Vergegenwärtigung JHWHes mitten in einer scheinbar Gott-losen Welt. Dabei ist aber der Mensch keine optische Abbildung JHWHes, als wäre JHWH ein Wesen mit menschenähnlicher Gestalt, mit Armen und Beinen, mit Augen, Mund und Nase… (dann wäre ja JHWH ein Abbild des Menschen, und so haben sich Menschen zu allen Zeiten ihre Götter vorzustellen versucht, schauen wir uns doch die Götterbilder der Religionen an).
Nein, der Mensch ist keine optische Abbildung JHWHes sondern eine wesentliche. Durch das Menschsein soll das Wesen JHWHes in der Schöpfung anwesend sein. Aber, wer ist JHWH, was ist denn sein eigentliches Wesen? Und wozu hat er uns geschaffen und was erwartet er von uns? Die Antworten auf solche Fragen sind von uns aus nicht zugänglich. Wir können mit den Mitteln menschlicher Erkenntnisfähigkeit nur so viel von JHWH erfassen und mit den Mitteln menschlichen Sprache nur so viel von JHWH aussagen, als er selbst sich uns offenbart.
Und JHWH hat sich offenbart: In der Schöpfung, in der Geschichte Israels, im Leben, Reden und Handeln Jesu, auch in der Geschichte des Judentums und der Christenheit der vergangenen 2000 Jahre und in der Weltgeschichte und Heilsgeschichte bis heute. Und in dieser Selbstoffenbarung JHWHes über Jahrtausende hinweg können wir wahrnehmen, dass die Existenz JHWHes wesentlich in einem „In-Beziehung-Sein“ besteht, einem „In-Beziehung-Sein“, das wir mit den Mitteln der menschlichen Sprache (freilich völlig unzureichend, aber wir haben keine Alternative) mit dem Begriff „Liebe“ umschreiben (siehe den Themenbeitrag „AHaBaH – das Höchste ist Lieben).
In der Bibel klingt das so: 1. Joh 4, 7-8: Ihr Lieben, lasst uns einander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. Das also (das, was hier mit dem Begriff „Liebe” umschrieben wird), das ist es, was das Gott-Sein JHWHes ausmacht, sie ist sein eigentliches „Wesen”, seine „Substanz”, seine „Person“, seine „Identität”.
Die Bibel beschreibt (in deutscher Übersetzung) das Wesen JHWHes in drei Worten: JHWH – ist – Liebe. Damit ist alles Wesentliche über den Gott der Bibel ausgesagt: Sein Wesen ist ein „Für-den-andern-da-sein“ in voraussetzungsloser Annahme und uneingeschränkter Zuwendung, in unerschütterlicher Treue und opferbereiter Hingabe. Und diese Liebe, die das Gott-Sein JHWHes ausmacht, die soll nun als sein „Ebenbild” auch das Mensch-Sein des Menschen bestimmen. Das, was das Menschsein des Menschen ausmacht, ist die Fähigkeit zu lieben. Zu lieben aus bewusster Hingabe an ein Du. Zu lieben, auch wenn es für das eigene Ich Nachteile einbringt. Zu lieben, auch, wenn es etwas kostet, auch, wenn es einmal viel kostet.
Solche Liebe, die sich bewusst an ein Gegenüber hingibt, die nicht sich selbst erhöhen, sondern dem andern zur Erfüllung seines Menschseins und zur Freude am Dasein helfen will, die sich aus freiem Willen für eine Gemeinschaft engagiert und die sich sogar selbst unter Zurückstellung des eigenen kreatürlichen Lebenswillens für das Gefährdete und Verlorene einsetzen kann, um es zu retten, das ist das Göttliche, das sich im Menschsein widerspiegeln soll als sein Ebenbild und das durch den Menschen in der Schöpfung gegenwärtig und wirksam sein soll.
Das bedeutet: Der Rahmen dessen, was der Mensch von JHWH her sein und werden soll, ist so weit gesteckt, dass für sein persönliches, selbstbestimmtes „Wollen” schier unbegrenzte Möglichkeiten bleiben. Der entscheidende An-Spruch JHWHes an uns meint keine Vorschriften für unser Tun, sondern eine Zielangabe für unser Sein. Und erst in zweiter Linie, damit dieses Sein auch gelingen kann, da gibt uns JHWH wichtige Hinweise auf Verhaltensweisen und Handlungen, die diesem Sein entsprechen, oder auch nicht.
Wir nennen diese Hinweise „Gebote“, eigentlich sind sie „Weisungen“, also Weg-Weisung, Richtungs-Weisung, Gebrauchs-Anweisung für das Leben, manchmal auch Zurecht-Weisung, wenn man sich verlaufen hat (siehe dazu den Beitrag „Die 10 Weisungen“). Dem Streben des Menschen sind von den biblischen Geboten her keine Grenzen gesetzt, denn dort geht es nicht darum, was ein Mensch wollen und tun darf oder nicht, sondern wie er das, was er will, verwirklicht: Im Miteinander und Füreinander menschlicher Gemeinschaft oder getrennt vom Mitmenschen und gegen ihn.
JHWHes „Weisungen” (wir nennen sie nicht ganz korrekt „Gebote“) sind Anweisungen, die uns helfen sollen, (in aller Unvollkommenheit menschlichen Bemühens) das zu werden, was wir von Anfang an sein sollen. Sie wollen uns bewusst machen, was die Herausformung „wahren Menschseins“ erleichtern und fördern oder sie erschweren kann.
Das also sind die Weisungen JHWHes wirklich: Hilfen zu einem Leben, in dem wir das werden können, was wir sein sollen. Aber was ist es denn, was wir sein sollen, hat da nicht jeder seine ganz eigenen Vorstellungen? Ja, und das ist auch gut so. Aber trotzdem gibt es in all dem eine grundsätzliche und gemeinsame Zielrichtung: Die Schöpfungs-Berufung des Menschseins ist es, (siehe oben) „Ebenbild“ seines Schöpfers zu werden, anschaubares und im Tun nachahmbares „Bild“ dessen, was das Gott-sein JHWHes ausmacht: Die Liebe.
Diese Liebe unter den Menschen soll zur Überwindung des universalen Ego-Prinzips der Evolution werden. Sie ist das Gegenmodell zum „Kampf ums Dasein”, und zum Prinzip vom „Fressen und Gefressen-werden”, die sonst alles Leben beherrschen. Mitten in einer Natur, in der jedes Lebewesen um seinen Lebensraum und seine Lebensmittel und im sein Leben kämpfen muss, schafft JHWH mit dem Menschen ein Geschöpf, das die Möglichkeit hat, seinen Lebensraum bewusst als Raum der Gemeinschaft zu gestalten und seine Lebens-Mittel im bewussten Miteinander und Füreinander zu erwerben, einem Miteinander und Füreinander, das über den Rahmen der eigenen „Wir-Gemeinschaft“ (Familie, Sippe, Volks- oder Religionsgemeinschaft) hinausgeht. Niemand behauptet, dass das einfach wäre, auch die Bibel nicht, aber sie betont die Gewissheit, dass es jederzeit möglich wäre und dass es sich, überall da, wo es gelingt, wie ein Freudenfest anfühlt.
Und so soll das Menschsein zum „Ebenbild“ JHWHes werden. Kein optisches, sichtbares Bild, sondern ein im Miteinander erfahrbares. In der Bibel lesen wir nichts darüber wie JHWH aussieht, aber die Bibel ist von der ersten bis zur letzten Seite voll davon, was JHWH tut, was er aus Liebe tut. Darin also, im Tun der Liebe, soll der Mensch, soll jede menschliche Gemeinschaft, ja soll das Menschsein als Ganzes ein erkennbares „Abbild“ JHWHes werden.
Nein, das ist nicht unmöglich! Trotz aller schuldhaften Verirrung und Entfremdung menschlichen Lebens und Handelns ist doch das Bild der Liebe JHWHes im Menschsein nicht gänzlich verloren und zerstört. Es ist trotz allem erkennbar, anschaubar, erfahrbar und nachahmbar, wenn auch zunächst nur in einem Einzigen. Wer mich sieht, der sieht den Vater, sagt Jesus (Joh 14,9). In seinem Leben, Reden und Handeln ist wahres Menschsein als „Ebenbild“ JHWHes verwirklicht. Aber damit spricht Jesus für sich das aus, was eigentlich die Schöpfungs-Berufung allen Menschseins ist: Eben-Bild JHWHes zu sein. Wenn man die Menschen anschaut, nicht wie sie aussehen, sondern wie sie miteinander leben und wie sie miteinander umgehen, und wie sie einander lieben, dann soll man eine erste, vorsichtige Ahnung davon bekommen: So, so ist JHWH. Und das kann sich in aller Vorläufigkeit und Gebrochenheit menschlicher Gemeinschaft hier und jetzt an jedem Ort dieser Erde vollziehen.
Wir wissen selbst, wie sehr dieses Bild JHWHes im Menschsein unter uns überdeckt, verdunkelt, verzerrt und entstellt ist. Nur in Jesus, in seinem Leben, Reden und Handeln ist ein menschlich wahrnehmbares „Bild“ JHWHes unter uns gegenwärtig, das wirklich die Fülle seiner Liebe widerspiegelt, aber eben nicht als optisch erkennbare Gestalt (wir wissen ja nichts darüber, wie Jesus als Mensch ausgesehen hat), sondern als Vergegenwärtigung und „Bild” der Liebe JHWHes im miteinander Leben, Reden und Tun.
Wir sehen: Es genügt dem Schöpfer nicht, ein gigantisches, aber stummes, lebloses und sinnloses Universum zu schaffen, wie ein riesiges Feuerwerk, das aufleuchtet, eine Weile in großartigen Farben und Formen brennt und dann verlischt (siehe das Thema „Zwischen Schöpfung und Vollendung”). Nein, JHWH macht das Universum als eine Art „Bühne“, als Bühne für ein „Spiel der Liebe“ und das soll sich hier, hier auf dieser armen, leiderfüllten und doch auch so wunderschönen Erde „abspielen”. Und wenn dieses Spiel der Liebe sich entfaltet, will der Schöpfer-Gott, der selbst ganz Liebe ist, dadurch mitten im Geschaffenen gegenwärtig sein.
JHWH will sich in seiner Schöpfung ein Gegenüber erwecken, das sein Ebenbild ist, erkennbare und erfahrbare Vergegenwärtigung seiner Liebe mitten in dieser Welt und mit dem er eine Liebesbeziehung beginnen kann.
Nun kann man natürlich fragen: Ist das nicht eine sehr einseitige Interpretation der biblischen Texte, wenn man sie auf ein einziges, alles umfassendes Thema reduziert, in diesem Falle auf das Thema der Liebe unter den Menschen als „Bild” und Vergegenwärtigung JHWHes? Ich meine: Nein, und ich berufe mich dabei auf eine Kernaussage Jesu im Neuen Testament (deren Bestandteile er aus dem AT zitiert): Mt 22, 37-40: Du sollst den Herrn, deinen Gott, (ja, was sollst du kleiner Mensch für den großen Gott, der das Universum geschaffen hat?) Du sollst den Herrn, deinen Gott, … liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (sagt Jesus). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Hören wir genau hin: Nach Jesu Aussage „hängen” das „Gesetz” (gemeint ist die „Thora“, also die 5 Bücher Mose) und die „Propheten” (hier gemeint als Zusammenfassung der übrigen Schriften des AT), in diesem „Doppelgebot der Liebe”, das heißt in der Verwirklichung der Liebe im Verhältnis zwischen JHWH und Mensch, Mensch und JHWH und zwischen den Menschen untereinander. Dieses Liebesgebot ist das „höchste und größte”. Das heißt: Die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments muss (nach diesem Wort Jesu) mit dem Blick auf dieses Zentralgebot gelesen werden, wenn man sie richtig verstehen will.
Das also ist der Mensch (genauer: die Berufung des Menschen in der Gemeinschaft des Menschseins), oder das soll er sein und werden: Göttliches Leben in toter Materie, Keim der Liebe im Nährboden des Lebens, wo sonst der Kampf ums Dasein tobt, sichtbare und erlebbare Vergegenwärtigung JHWHes inmitten eines sonst scheinbar Gott-leeren Universums. Ebenbild des Schöpfers mitten in dieser geschaffenen Welt.
Siehe den folgenden Beitrag „Mitten in dieser Welt“
Alle Beiträge zum Thema "sein und sollen"
- wollen oder sollen?
- Die zehn Weisungen
- Was ist der Mensch?
- Mitten in dieser Welt
- Die Perspektive der Vollendung
- Der zweite Teil der Schöpfung
- Vergegenwärtigung des Himmlischen auf der Erde
- Vorverwirklichung des Zukünftigen in der Gegenwart
- Die Herausforderung des Menschseins
- Das Licht der Menschlichkeit
- Das Leuchtbild der Gemeinschaft
- Allgemeine und persönliche Berufung