Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: sein und sollen

Beitrag 8: Vorverwirklichung des Zukünftigen in der Gegenwart (Bodo Fiebig6. Januar 2023)

2.2 Vorverwirklichung des Zukünftigen in der Gegenwart

So wie Jesus in seinem irdischen Leben Vergegenwärtigung war von etwas Himmlischen auf der Erde, von etwas „Jenseitigem” im „Diesseits“ dieser Welt, als Bild JHWHes im Menschsein, so war sein Leben auch Vergegenwärtigung und Vor-Verwirklichung von etwas Zukünftigem jetzt und hier in unserer Gegenwart.

JHWH hat für seine ganze Schöpfung eine Vollendung vorgesehen und verheißen, die das „Sehr gut“ des Anfangs zur Erfüllung bringt. Schon im Alten Testament ist davon die Rede: Jes 2, 3-4: Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, wie man Krieg führt.

Gewiss, das ist jetzt noch „Zukunftsmusik“, und doch soll die „Melodie” dieser Zukunftsmusik, die Realität des himmlischen Friedens hier in dieser geschundenen und ihrer Erwählung entfremdeten Menschheit, schon hier und heute anklingen.

Im Leben Jesu war schon ein voller Ton dieser „Zukunftsmusik“ zu hören: Lk 4,16-21: Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61,1-2): »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. Vorverwirklichung der Vollendung mitten in der Unvollkommenheit der Zeit.

Und das war nicht nur vollmundige Ankündigung, sondern es wurde sichtbare und spürbare Realität (Mt 15,30-31): Und es kam eine große Menge zu ihm; die hatten bei sich Gelähmte, Verkrüppelte, Blinde, Stumme und viele andere Kranke und legten sie Jesus vor die Füße, und er heilte sie, so dass sich das Volk verwunderte, als sie sahen, dass die Stummen redeten, die Verkrüppelten gesund waren, die Gelähmten gingen, die Blinden sahen; und sie priesen den JHWH Israels. Hier war eine Vor-Ahnung des Heils im Reich JHWHes, das Jesus als „Frohe Botschaft“ verkündigte, schon erfahrbare Wirklichkeit geworden. Das Handeln Jesu bestätigte seine Botschaft.

Und doch war das vorerst nur eine zeichenhafte Vor-Verwirklichung dessen, was sich im Reich JHWHes noch zu seiner ganzen Fülle und umfassenden Erfüllung entfalten soll (Offenbarung 21,3b-5): Siehe da, die Wohnung Gottes  bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!

Und dieses ganz Neue sollte nicht nur im Leben Jesu gegenwärtige Wirklichkeit werden, sondern es soll (so sehr es noch „Zukunftsmusik“ bleibt und so leidvoll uns immer wieder die Gebrochenheit und Vergänglichkeit alles Gegenwärtigen bewusst wird) auch schon hier und heute in der Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen Jesu eine zeichenhafte Vor-Erfüllung finden, trotz aller menschlichen Unvollkommenheit. Wie sollte denn diese blinde, unwissende und ungläubige Menschheit eine Sehnsucht bekommen nach der Vollendung bei JHWH, wenn sie nicht schon hier und heute etwas von dieser Vollendung sehen, schmecken und erfahren könnte im Miteinander der Gemeinde Jesu?

Die uralten Menschheitsprobleme, die Gier nach Besitz und Macht, nach Erfolg und Ruhm sollten in der Gemeinde nicht mehr ihre zerstörende Gewalt entfalten können. Durch die Einheit (trotz aller Gott-gewollten Verschiedenheit) in der einen Liebesgemeinschaft aller Jünger und Jüngerinnen Jesu sollte auch jede Trennung zwischen „wir“ und „ihr“ überwunden werden, die heute noch wie damals die Menschheit nach Rassen und Klassen, Völkern und Kulturen trennt. So soll der eine Leib Christi entstehen, die eine „Verkörperung“ seiner Liebeseinheit mit dem Vater im Heiligen Geist. Vor-Zeichen des kommenden Friedensreiches, angefochten zwar von innen und außen, aber trotz aller menschlichen Unvollkommenheit echt und gültig.

Im Leben der christlichen Urgemeinde und in vielen gläubigen Gemeinschaften auch in unserer Gegenwart wurde und wird es andeutungsweise sichtbar: Apg 2,42-47a Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. (…) Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.

So soll mitten in dieser argen und doch auch so schönen Welt der Same des Gottesreiches aufgehen wie Saatgut, das auf festgetretenen, steinigen, dornenüberwucherten Boden fällt, wie Weizen in einem Unkrautacker, wie ein Senfkorn, aus dem ein Baum wird, wie ein kleines Stück Sauerteig, das eine große Menge Mehl durchsäuert (Mt 13, 1-33).

JHWH beginnt seine größten Vorhaben immer ganz klein und unauffällig. Trotzdem: Ohne diese modellhaft-vorläufige Vor-Verwirklichung des Zukünftigen in der Schwachheit und Unvollkommenheit menschlichen Tuns hier und heute, inmitten einer schuldbeladenen, friedlosen Menschheit, ohne das will JHWH sein vollkommenes Reich der Erfüllung und des Heils, der Versöhnung und des Friedens nicht beginnen.

JHWH selbst wird beim Wiederkommen seines Messias sein vollkommenes Reich mit unwiderstehlicher Macht verwirklichen, ja, gewiss, aber er wartet zuvor auf die Vor-Verwirklichung seines Reiches hier und heute durch das menschlich unvollkommene Bemühen seiner Kinder, durch das der Name JHWHes geheiligt wird und der Wille des Vaters geschieht „wie im Himmel, so auf Erden“.

Die (immer unzureichenden und oft auch fragwürdigen) Ergebnisse dieses Bemühens um Gemeinschaft, Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden wird JHWH, wenn das Vollkommene kommt, nicht für ungültig erklären oder gar vernichten, sondern er wird sie von allem Schuldhaften reinigen und sie so, geheiligt und geläutert, als Rohmaterial für die Gestaltung seines Reiches der Liebe und des Friedens verwenden.

Durch diese „doppelte Vergegenwärtigung”, die Vergegenwärtigung des Jenseitigen im Diesseits und des Zukünftigen in der Gegenwart, die in der Lebens- und Liebesgemeinschaft des Menschseins ein wenn auch immer unvollkommenes und bruchstückhaftes aber doch erkennbares und anschaubares „Bild” des Schöpfers in der geschaffenen Welt verwirklicht, durch sie kann die Schöpfung vorankommen auf dem Weg zur Vollendung, denn JHWH achtet dabei nicht auf die Vollkommenheit der Ergebnisse, sondern auf die Echtheit des Lebens und der Liebe.

Was dann noch fehlt (und es wird gewiss noch ganz viel fehlen) das wird er selbst, wenn es soweit ist, aus der Fülle seiner göttlichen Liebe dazutun. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere (von JHWH) dazugegeben (Mt 6, 33). Genau so, wie er aus der Fülle seiner Liebe und Macht dann auch noch das hinzufügen wird, was von Menschen niemals erreicht werden kann: Die Überwindung des Todes und allen Leids und die Überwindung aller Feindschaft zwischen aller Kreatur.

Nein, es gibt keinen unüberwindbaren Abstand mehr zwischen JHWH und Mensch, Mensch und JHWH, denn JHWH selbst hat ihn überwunden. Durch die Hingabe seiner Liebe in dem Menschen Jesus von Nazareth hat JHWH allem Menschsein göttliche Würde verliehen. Als die Mensch gewordene Liebe JHWHes den Menschentod starb, konnte Jesus sterbend sagten: Es ist vollbracht. Ja, es ist vollbracht. In Jesus war, stellvertretend für die ganze Menschheit aller Völker und Generationen, das Menschsein zum Abbild der Liebe JHWHes geworden. Und durch ihn und in seiner Nachfolge kann jede menschliche Gemeinschaft zum Lebensraum der Liebe werden und zur Vergegenwärtigung JHWHes mitten in dieser Welt.

Und manchmal, selten genug, können wir ein bisschen, wenigstens einen Hauch davon wahrnehmen: Und dann spüren wir, überrascht und erschüttert: Diese Erde könnte ja doch ein Paradies sein – trotz aller Fragwürdigkeit menschlicher Existenz, menschlichen Wollens und Tuns in dieser Zeit.

Menschsein – wozu? Dazu, dass Menschen das werden, was sie sein sollen: Ebenbild JHWHes, Darstellung und erfahrbare Verwirklichung der Liebe JHWHes im Miteinander und Füreinander menschlicher Gemeinschaft, durch die der Name JHWHes geheiligt wird und sein Wille geschieht und so das Reich JHWHes kommt, wie im Himmel, so auf Erden.

(Im nächsten Beitrag soll davon die Rede sein, welche Herausforderung diese „Vergegenwärtigung des Himmlischen auf der Erde“ und diese „Vorverwirklichung des Zukünftigen in der Gegenwart“ für das „Volk Gottes“ hier und heute enthalten kann.)

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