Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: sein und sollen

Beitrag 12: Allgemeine und persönliche Berufung (Bodo Fiebig6. Januar 2023)

Bisher war vom „sollen“ vor allem als einer allgemeinen Berufung des Menschseins die Rede. Die Zentralaussage dafür ist der Satz aus der „Schöpfungsgeschichte“ von der Bestimmung des Menschseins (1. Mose 1, 26+27): Und (es) sprach JHWH: Machen wollen wir Menschen in unserem Bild, gemäß unserer Gleichheit. (…) Und JHWH schuf den Menschen in seinem Bild, im Bilde JHWHes schuf er ihn, männlich und weiblich erschuf er sie. Die erkennbare und erfahrbare Vergegenwärtigung der Liebe JHWHes in der Gemeinschaft des Menschseins, das ist die allgemeine Berufung aller Menschen.

Hier, im letzten Beitrag zum Thema „sein und sollen“ muss noch auf die persönliche Komponente dieser Berufung hingewiesen werden. Das geht selbstverständlich nicht so direkt und allgemeingültig wie bei der allgemeinen Berufung des Menschseins, denn die Berufung des Einzelnen ist von JHWH ja immer sehr individuell auf den Einzelnen zugeschnitten. Aber es gibt Beispiele: Biblische (Adam, Noah, Mose, David, die Propheten, Maria, Petrus, Johannes …), geschichtliche (Augustinus, Franziskus, Dietrich Bonhoeffer, Hildegard von Bingen, Therese von Avila, Edith Stein …) und aktuelle (Menschen, denen wir begegnen und an deren Leben etwas von der Realität dieser Berufung sichtbar wird).

Dabei sollte man sich nicht nur an den großen Heiligen und Glaubenshelden orientieren, deren Wege waren immer sehr besonders und fast immer von großem Leiden geprägt. Es kommt darauf an, die eigene Berufung zu entdecken, die den eigenen von JHWH gegebenen Begabungen und Impulsen entspricht. Aber immer sollte dabei die Frage bedacht werden, wie sich die eigene und persönliche Berufung dem Miteinander der Gemeinschaften zuordnet, in denen man jeweils lebt (z. B. Ehe, Familie, Nachbarschaft, Arbeitsgemeinschaft, Gemeinde …), die ja auch jeweils eine eigene und ganz besondere Berufung haben. Und: Wie sich das Eigene (als Einzelne oder als Gemeinschaft) in die Gesamtberufung des Menschseins einfügt.

Der Mensch kann sein „Sein” nur dann ganz ausleben, wenn er sein „Wollen” an seinem (jedem Einzelnen ganz speziell angebotenen) „Sollen” orientiert. Freilich kann ein Mensch diesem „Sollen” nie hundertprozentig entsprechen. Darauf kommt es auch gar nicht an; Vollkommenheit ist nie das Ziel für irgendein Geschöpf in dieser Welt und Zeit. Ziel des Menschseins ist es, bei JHWH zu sein. 1.Joh 4, 16: JHWH ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in JHWH und JHWH in ihm.

Entscheidend ist dabei, dass jeder/jede Einzelne in der Gemeinschaft die eigene Berufung als von JHWH gewollte und unbedingt notwendige Ergänzung für die Berufungen der anderen sieht.

Und: Dass jede/r Einzelne die Berufungen der anderen (und möglicherweise ganz anderen) als von JHWH gewollte und unbedingt notwendige Ergänzung für die eigene Berufung erkennt und anerkennt.

Und: Dass alle jeweils Beteiligten davon ausgehen, dass nur JHWH selbst wissen kann, wie alle Berufungen und Begabungen (der Einzelnen wie der Gemeinschaften) zusammenpassen und zusammenwirken, damit sie ein Ganzes ergeben, in dem alle Berufungen aller Beteiligten zur Erfüllung kommen.

Und: Dass alle Glieder einer biblisch gläubigen Gemeinschaft einander helfen und beistehen bei dem Bestreben, immer deutlicher die besondere Berufung jedes/r Einzelnen im Gesamtzusammenhang der Menschheitsberufung zu erkennen, zu bestätigen und zu verwirklichen.

Das macht ja die besondere Würde des Menschseins aus, dass ein Mensch nicht einfach nur eine Zeit lang existiert, bis seine Existenz durch den Tod wieder gelöscht wird, sondern dass er etwas sein kann und werden soll, das weit über seine eigene bloße materielle und biologische Existenz hinausgeht. Dieses „Etwas”, das der Mensch werden soll, gibt seinem „Sein” eine unauslöschliche Zukunftsperspektive, die nicht nur eine ferne Zeitdimension meint, sondern die sich schon im Hier und Jetzt ansatzweise verwirklichen kann: Nämlich, dass in der Gemeinschaft des Glaubens, Lebens und Handelns ein „Bild” des Schöpfers entsteht, ein erkennbares und erfahrbares Gleichnis dessen, dem alles Sein sein Dasein verdankt. Und das nicht nur als Idee, als religiöse Gedankenspielerei, sondern als handfest-realen Lebensvollzug im Miteinander und Füreinander einer durch freie Zuordnung und Hingabe geformten Gemeinschaft.

Der Mensch kann erst dann sein Menschsein verwirklichen, wenn er in der Gesamtheit seiner Beziehungen (und eingeordnet in die Gemeinschaft des Menschseins) zum „Ebenbild” JHWHes wird, das heißt zur wahrnehmbaren Vergegenwärtigung seines Schöpfers in dessen Schöpfung. Und das durch die (menschlich immer unvollkommene, aber doch echte und ehrliche) Verwirklichung dessen, was JHWH in ihn hineingelegt hat (die Liebe, die das Wesen JHWHes ist),.

Und das ist wahrhaftig möglich, hier auf unserer Erde, jetzt in unserer Zeit.  Nicht deshalb, weil wir es wollen, sondern, weil JHWH es für uns will; und es ist das Höchste und Größte, was er für uns wollen kann. Und wenn JHWH es will, dann wird er es auch zustande bringen, trotz aller unser Fehler und trotz allen unseres Ungenügens, wenn wir nur wirklich wollen und zulassen, dass er in uns und mit uns das bewirkt, dass wir immer mehr und immer leidenschaftlicher das werden wollen, was wir sein sollen.

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