Herr, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. (…) Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. (Psalm 90, 1-12 in Auszügen)
So redet die Bibel von der Begrenztheit allen Lebens und auch aller menschlichen Existenz, aber auch von der Rückkehr menschlichen Lebens zu Gott. So wie das Leben (jedenfalls menschliches Leben) mehr ist als nur ein biologischer Vorgang, so bedeutet der Tod eines Menschen mehr als nur das Ende dieser Vorgänge. Das soll nun in vier Schritten verdeutlicht werden:
1 Den Tod überwinden?
2 Biologischer Tod und biologisches Erbe
3 Das geistige Erbe der Menschheit
4 Das ethische Erbe der Menschheit
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1 Den Tod überwinden?
„Die letzte Stunde des Todes“, so nennt Y. Noah Harari, einer der populärsten Wissenschafts-Autoren unsrer Zeit, der kurz hintereinander drei Welt-Bestseller herausgegeben hat, in seinem Buch „Homo Deus“ das Kapitel über den Kampf gegen die Sterblichkeit des Menschen. Mediziner, Genetiker, Biotechniker, IT-Spezialisten … arbeiten in interdisziplinären Forschungszentren mit sehr viel Geld und den klügsten Köpfen daran, die Unausweichlichkeit des Sterbens endlich zu überwinden. Als Beispiel führt er an, dass Google 2013 das Unternehmen „Calico“ gründete, dessen erklärtes Ziel darin besteht, „den Tod zu beseitigen“. Sie wollen ausdrücklich nicht die eine oder andere tödliche Krankheit besiegen, sondern das Sterben und den Tod selbst aus der Welt schaffen. Der Verfasser will (wie es viele andere mit anderen Worten auch tun) damit seine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass in einigen Jahrzehnten tatsächlich „das letzte Stündlein“ des Todes angebrochen sein könnte und danach die Menschen selbst entscheiden können, wie alt sie werden wollen: 500 Jahre, 1000 Jahre …, solange eben die Lust am Leben reicht.
Er übersieht dabei aber etwas ganz Entscheidendes: Unser Dasein ist nicht in erster Linie durch die Endlichkeit des Lebens bedroht, sondern durch die Lieblosigkeit unserer Beziehungen. Was nützen uns 1000 Jahre Lebenszeit, wenn es 1000 Jahre Einsamkeit, Ablehnung, Neid, Missgunst, Betrug, Kampf, Gewalt, Folter und Krieg sind? Nicht die Dauer des Lebens (bzw. die Begrenzung der Lebensdauer) ist das Problem, das gelöst werden muss, sondern die Beeinträchtigung des Menschen-Lebens durch die Bosheit der Mit-Menschen. Das Problem des Lebens ist nicht eine Frage der Lebens-Dauer, sondern eine der Lebens-Qualität.
Der hinter diesem Ansatz stehende Denkfehler ist nicht neu. Im „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ z. B. heißt es im Kapitel über die Grundrechte (Artikel 2, Absatz 2): „Jeder hat das Recht auf Leben und körperlich Unversehrtheit“. Wenn man das wörtlich nimmt, ergeben sich unlösbare Probleme: Wenn jeder ein unbedingtes „Recht auf Leben“ hat, dann dürfte auch sein sehr alt gewordener Mensch nicht ohne sein ausdrückliches Einverständnis sterben. Ja, wollte man diesen Satz so nehmen wie er dasteht, so müsste man jedes Sterben und jede körperliche Verletzung (z. B. durch einen Unfall) als Rechtsbruch an diesem Grundrecht auffassen. Dann müsste man den Tod selbst vor Gericht stellen und anklagen. Und genau das ist es, was die modernen Heilsbringer tun wollen. Dabei ist es ja richtig, mit großem Forschungsaufwand Möglichkeiten zu finden, wie man den Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen oder Infektionskrankheiten durch Bakterien und Viren oder bestimmte Alterungsvorgänge usw. noch besser bekämpfen und die Folgen lindern kann. Aber es ist falsch, den Tod selbst bekämpfen zu wollen. Nicht der Tod ist der Feind des Lebens, sondern die menschliche Bosheit. Sie zu bekämpfen wäre einen hohen Einsatz an Geld und klugen Köpfen wert. Der oben angeführte Satz im Grundgesetz müsste heißen: „Jeder hat das Recht auf Leben ohne absichtliche und böswillige Beeinträchtigung oder Zerstörung durch andere.“ Es geht also bei der Frage nach dem „Lebens-Ende“ nicht darum, den Tod zu bekämpfen, sondern darum, den Lebenden und den Sterbenden ihre Last zu erleichtern.
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2 Biologischer Tod und biologisches Erbe
Es ist ja nicht verwunderlich, dass in einem so komplexen Gesamtsystem, wie ihn ein lebender Organismus darstellt, mit so vielfältigen Abläufen, die alle aufeinander abgestimmt und miteinander verknüpft sein müssen, gelegentlich Störungen auftreten. Wir nehmen solche Störungen wahr als Unwohlsein oder Krankheit. Solche Störungen können aber auch so schwerwiegend sein oder so viele Organe gleichzeitig betreffen, dass es schließlich zu einem Zusammenbruch des Funktionszusammenhangs der Organe im Gesamtorganismus eines Individuums kommt. Ein Lebewesen stirbt.
Aber: Der Tod ist nicht nur Ende, sondern immer auch der Anfang von etwas Neuem. Dieser Satz klingt wie ein unbeweisbarer frommer Spruch. Er ist aber hier zunächst einmal ganz natürlich gemeint und ohne jede religiöse Überhöhung. Wir werden sehen: Das Sterben beginnt viel früher als wir dachten und die Überwindung des Todes hat mit der Erschaffung des Lebens, mit der Entstehung der ersten Urzelle, schon begonnen.
Unser biologisches Sterben beginnt viel früher als wir normalerweise annehmen (vgl. den Beitrag 2 „Lebens-Zeit“). Die einzelnen Zellen der verschiedenen Zelltypen in unseren Organen haben nur eine relativ kurze Lebensdauer (die Gehirnzellen bilden da eine bedeutsame Ausnahme). Dann sterben sie, und mit ihnen würde der ganze Organismus sterben, wenn nicht immer wieder absterbende Zellen durch neu gewonnene Substanz und neu gebildete Zellen ersetzt würden. Wenn wir einzelne Atome, aus denen der Körper eines neugeborenen Menschen-Kindes besteht, markieren könnten und wir würden den selben Körper später im Alter wieder untersuchen, dann würden wir kaum noch eines dieser markierten Atome wiederfinden. Der Körper hat dann praktisch seine ganze materielle Substanz erneuert. Und das Erstaunliche ist, dass dabei die Individualität des Menschen nicht verloren geht. Dieser Vorgang, der in der Biologie als „programmierter Zelltod“ bezeichnet wird, ist für die Erhaltung des Lebens unbedingt notwendig. Nur dadurch, dass der Körper ständig „alt“ gewordene Zellen abstößt und durch neu gebildete Zellen ersetzt, kann er als Ganzes die Lebenszeit der einzelnen Zellen um ein Vielfaches überdauern. Die Erneuerung der Zellen wirkt wie eine fortlaufende Verjüngung des Körpers; ohne sie könnte kein Mensch länger als ein paar Tage leben. Freilich, auf Dauer können dann doch nicht alle Verschleiß- und Alterungsvorgänge rückgängig gemacht werden, sodass schließlich doch auch der Körper als Ganzes altert und stirbt. Trotzdem: Durch den „programmierten Zelltod“ gewinnt der Organismus eines Lebewesens Lebens-Zeit, die ein Vielfaches der Lebensdauer seiner einzelnen Zellen ausmacht. Der Tod (der einzelnen Zelle) ist hier (biologisch gesehen) Voraussetzung für das Weiterleben des ganzen Organismus (siehe Beitrag 2 „Lebenszeit“).
Trotz aller dieser Vorgänge ist es eine unumgängliche Erfahrung unserer Existenz: Ein Mensch stirbt. Aber ist damit „alles aus“, wie man landläufig sagt? Nein, „es“ geht weiter, auch mit den biologischen Aspekten des Lebens. Auf zweifache Weise:
Zunächst werden die biologisch verwertbaren Bestandteile eines Körpers von Fäulnisbakterien und anderen Kleinlebewesen zersetzt und so umgewandelt, dass sie für anderes Leben als Nahrungsgrundlage diesen können. Der Körper wird also beim Sterben dem Kreislauf des Lebens (dem er ja von Anfang an zugehörte) nicht entnommen, sondern wieder in ihn zurückgeführt. Seine biologische Substanz lebt weiter, auch wenn sein individuelles Leben zu Ende ist. Insofern hat die Rede von der „Reinkarnation“ doch einen sinnvollen Kern: Nicht als Wiederkehr eines Individuums in neuer Gestalt, je nach moralischer Qualität des vorangegangenen Lebens, sondern ganz nüchtern als Wiederverwendung lebensgeeigneten Materials in neuen Lebensformen.
Zum Zweiten erfährt auch die biologische Identität des Individuums eine Weiterführung über den Tod hinaus, und zwar durch die Vererbung der individuellen Gene an eine nächste Generation. Durch die Weitergabe der genetischen Erbinformationen wird auch etwas von der Individualität eines Lebewesens vererbt und lebt (wenn auch verwandelt in Folge der Ergänzung durch eine zweite Erbinformation der Elterngeneration) in der Kindergeneration weiter. So, wie in unseren Genen das biologische Erbe der Menschheit und ihrer Vorfahren aus den vergangenen Jahrtausenden noch gegenwärtig ist, so wird auch in späteren Generationen etwas von unserem persönlichen biologischen Erbe gegenwärtig sein. Machen wir uns das bewusst: In jedem von uns lebt die ganze genetische Geschichte des Lebens seit der ersten Urzelle weiter. Und: Die genetische Identität späterer Generationen wird auch durch unsere eigenen individuellen Gene in irgendeine Weise mitbestimmt. Auch die biologische Individualität eines Menschen lebt (sofern eine Kinder- und Enkelgeneration usw. vorhanden sind) in bestimmten Teilaspekten und in immer weiterer Verzweigung und Kombination weiter, wenn er als Individuum stirbt.
3 Das geistige Erbe der Menschheit
Weil die biologische Existenz eines Menschen unabdingbare Voraussetzung auch für alle seine geistigen Funktionen und Leistungen ist, muss der biologische Tod auch das Ende seiner geistigen Existenz bedeuten. Trotzdem erlischt auch die geistige Individualität eines Menschen nicht einfach, ohne Spuren zu hinterlassen. Jeder Mensch hinterlässt auch ein geistiges Erbe. Das mag bei dem Einen eine großartige wissenschaftliche, künstlerische, politische usw. Leistung sein, bei einem Anderen vielleicht nur eine sehr bescheidene Zutat. Das ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass jeder Mensch (bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt) zum geistigen Erbe der Menschheit seinen eigenen Beitrag hinzufügt (durch seine Erfahrungen, sein Wissen, seine Überzeugungen, Ideen, Hoffnungen, durch seine Handlungen und seine „Werke“ die er hinterlässt …). Und dieses „Erbe“ wird (ob das irgendjemand wahrnimmt oder nicht) die Gesamtheit des geistigen Erbes der Menschheit in irgendeiner Weise mitgestalten. Das geistig-kulturelle Erbe der Menschheit sähe heute an einer ganz bestimmten Stelle irgendwie anders aus, wenn irgendein Mensch, vielleicht schon vor Jahrhunderten nicht gelebt hätte, auch wenn heute niemand mehr seinen Namen kennt und auch wenn das meiste seiner individuellen geistigen Existenz längst in Vergessenheit geraten ist. Die jeweils aktuelle geistige Gesamt-Verfassung der Menschheit ist zusammengesetzt aus dem geistigen Erbe von Milliarden von Menschen in verschiedenen Kulturkreisen und in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte in jeweils aktueller Verknüpfung, Deutung und Wertung.
4 Das ethische Erbe der Menschheit
Ebenso wie sich die leibliche und die geistige Existenz eines Menschen beim Tod nicht einfach in nichts auflösen, so geht auch die ethisch verantwortete Existenz eines Menschen bei seinem körperlichen Tod nicht einfach verloren. Jede liebevolle Zuwendung, jede hilfreiche Tat, jedes gute Wort, jede freundliche Geste, jede belastbare Treue, jede verzeihende Haltung, jedes persönliche Opfer… zu Gunsten eines anderen, das alles bleibt in der Erfahrungswelt der Betroffenen, wie ein unvergänglicher Schatz erhalten. Und solche Geschenke der Liebe entfalten bei den Beschenkten selbst und in deren sozialem Umfeld ihre Auswirkungen, die bis weit über den leiblichen Tod des Schenkenden ebenso wie des Beschenkten ihre Bedeutung und ihren Wert behalten. Wobei wir die dunkle Rückseite dieser glänzenden Medaille nicht übersehen dürfen: Auch jede Erfahrung von Bosheit, Missachtung und Gewalttat und deren Auswirkungen bleiben im Gedächtnis der Menschen für lange Zeit erhalten. Auch sie „vererben“ sich weiter und sie prägen die Einstellungen und Haltungen vieler Menschen für lange Zeit mit. Die Tatsache, dass in den modernen Medien vor allem das Negative und Zerstörerische, das Verbrechen und die Gewalttat im Übermaß vervielfältigt und verbreitet werden, verstärkt die negativen Auswirkungen noch. (Siehe im Thema „gut und böse“ den Beitrag 3.1 „Die Öffentlichkeitswirksamkeit des Bösen“.)
Mitmenschlichkeit stirbt nicht mit, wenn ein Mensch stirbt. Sie lebt weiter im Erfahrungsschatz derer, die von ihr beschenkt wurden. Aber nicht nur das: Die Erfahrungen menschlicher Zuwendung (wir könnten auch sagen: Erfahrungen von konkreter Liebe in zwischenmenschlichen Beziehungen) bleiben auch im kollektiven Gedächtnis von Gemeinschaften über lange Zeit wirksam. Solche handelnde Liebe hat Auswirkungen weit über die direkt Betroffenen hinaus und vervielfältigt sich in immer weiteren Kreisen derer, die von ihr berührt wurden. Die Wirkung von bekannten oder unbekannten „Trägern der Mitmenschlichkeit“ (als bekanntes Beispiel sei hier die „Mutter Theresa von Kalkutta“ genannt) stirbt nicht mit diesen Personen, sondern hat Auswirkungen, die das Zusammenleben von Menschen für Jahrhunderte verändern können. Ja, sie prägen, je weiter sie sich vervielfältigen, die Kultur und die zwischenmenschliche Verfassung ganzer Völker.
Das ethisch aufbauende oder zerstörende „Erbe“, etwa eines Martin Luther King in den USA oder eines Heinrich Himmler in Deutschland, ist mit deren Tod nicht verschwunden, ja wir können heute zuschauen, wie dieses Erbe sich z. B. in der „Black-Lives-Matter“-Bewegung und in neonazischen Umtrieben in Deutschland immer wieder neu aktualisiert. Wir können diese Erfahrung noch weiter generalisieren: Das, was wir „Gewissen“ nennen, ist die jeweils individuelle Ausformung des kollektiven ethischen Unterbewusstseins der Menschheit (mit verschiedenen Ausprägungen in einzelnen Kulturen, die von deren religiöser Orientierung wesentlich mitbestimmt werden). Unser „Gewissen“ wurde in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Schwerpunkten von den ethischen Grundsätzen, Entscheidungen und Handlungen von Milliarden Menschen in verschiedenen Kulturen durch die Jahrtausende vor-geprägt auch wenn es im Einzelnen dann eine sehr individuelle Ausprägung hat.
Dieses ethische Prägung reicht auch in die Zukunft hinein. Das gegenwärtige Leben jedes einzelnen Menschen wird (ob wir uns dessen bewusst sind, oder nicht) in der Zukunft (ob wir wollen oder nicht) das ethische Erbe der Menschheit in irgendeiner Weise mitgestalten. Und vielleicht wird meine heutige Entscheidung, wie ich mit einem bestimmten Menschen heute umgehe, hart und abweisend oder freundlich entgegenkommend, mit darüber entscheiden, ob einige Generationen später, wenn ich längst gestorben bin, in einer bestimmten angespannten Situation eine kriegerische Auseinandersetzung in Gang kommt oder eine friedliche Verständigung möglich wird (wobei da ja nicht in erster Linie meine einzelne Haltung und Handlung den Ausschlag gibt, sondern die Art und Weise, wie sie hineingeordnet sind in die Vielzahl der Haltungen und Handlungsweisen vieler Menschen, welche die ethische Grundstimmung einer Epoche prägen).
Trotzdem: Auch wenn Spuren der körperlichen, geistigen und ethischen Existenz eines Menschen im Ganzen des Lebens und im Ganzen des Menschseins erhalten bleiben, so sehen wir doch die individuelle Existenz eines Menschen durch seinen Tod beendet. Aber auch da müssen wir nachfragen, ob diese Sicht nicht zu „kurzsichtig“ ist (siehe den Beitrag „Der TOD und ICH“).
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Bodo Fiebig „Lebens-Ende“, Version 2017-11
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