Gott will auf dieser Erde ein alle und alles umfassendes System des Guten verwirklichen, in dem nichts Böses mehr Raum haben kann. Das wird geschehen im Friedensreich des Messias, wenn er sichtbar kommt, um diese Erde von allem Bösen zu befreien. Bis dahin kann das Gute immer nur modellhaft verwirklicht werden, zeitlich und räumlich begrenzt, aber doch in einer Echtheit und Tiefe, die schon jetzt (trotz aller menschlichen Schwächen und Unvollkommenheit) etwas von der Vollendung widerspiegelt.
1 Das kleine Modell des großen Friedens
Wie könnten wir sagen, etwas sei unmöglich, wenn es doch Gottes erklärter Wille ist? Er hat alle Macht, seine Pläne durchzusetzen. Wenn es um die Verwirklichung seines Reiches geht, ist Gott bereit, Wunder über Wunder zu tun, so wie er es durch Jesus und dann in der frühen Christenheit (und auch später) getan hat. Er will und kann jede Voraussetzung dafür schaffen, dass sein Reich der Liebe unter den Menschen entsteht und wächst. Nur die Liebe selbst will er nicht erzwingen, weil sie dann nicht mehr frei und echt wäre. Gott stellt seine ganze Herrschermacht in den Dienst seiner Vaterliebe, damit unter seinen Kindern auch auf der Erde das Reich des Guten Wirklichkeit wird. Ja mehr noch: Er gibt sich selbst, seine opferbereite Liebe, ins Menschsein, um durch die Macht seiner Liebe im Miteinander der Menschen jedes Böse zu entmachten und alles Gute freizusetzen.
Wie das in unserer Gegenwart aussehen soll, das können wir uns an einem bildhaften Vergleich deutlich machen: Wenn man ein sehr großes und sehr schönes Haus bauen will und viele einladen will, daran mitzubauen, dann ist es gut, wenn man von diesem Haus ein Modell anfertigt. (Wir müssen dabei unterscheiden zwischen „Modell” und „Schablone”. Ein Modell kann ein sehr individuelles Haus abbilden; eine Schablone kann immer nur das Gleiche reproduzieren.) Viele Menschen können sich von einer bloßen Beschreibung keine Vorstellung machen, wie das Haus wirklich aussehen soll. Sie brauchen ein Modell, damit sie es anschauen und „begreifen“ können.
So macht es Gott. Er will auf der Erde ein Haus bauen, das größer und schöner sein wird als alles, was Menschen je geplant haben. Es ist das Haus des Guten, der Liebe und der Einheit der Verschiedenen, in welchem die ganze Menschheit auf dieser ganzen Erde wohnen soll. Und weil dieses Haus so unvorstellbar groß und vielgestaltig und schön werden soll, deshalb will Gott ein Modell davon machen, damit die Menschen es sehen und Lust bekommen, selbst daran mitzubauen und darin zu wohnen.
Dieses „Haus“, das Gott bauen will, ist das, was Jesus das „Reich Gottes“ nennt, ist die erneuerte und vollendete Schöpfung. Das „Anschauungs-Modell“ dafür, das hier und jetzt entstehen soll, ist eine Gemeinschaft von Erstlingen, die in ihrem Miteinander hier und jetzt schon etwas (wenigstens etwas!) von dieser Erneuerung und Vollendung verwirklichen. Es genügt nicht, wenn die Botschaft von der Liebe Gottes nur gesagt und gehört wird. Sie muss auch sichtbar und handgreiflich erfahrbar werden. Die ursprüngliche und immer noch gültige Berufung des Menschen, Ebenbild Gottes, d. h. durch die Liebe Abbild seines Wesens zu sein, muss jederzeit und auch heute dargestellt und vorgelebt werden, sonst fehlt der Menschheit das Vorbild des göttlichen Wesens für das rechte Menschsein.
Es geht nicht ohne das Abbild der Liebe Gottes unter den Menschen. Wenn in dieser armen, leiderfüllten und doch so wunderschönen Schöpfung die Liebe und durch sie das Gute als Lebenselement des Menschseins nicht mehr gegenwärtig und erfahrbar wäre, dann hätte die Menschheit ihren Auftrag und die Schöpfung ihre Lebenskraft verloren.
Menschen biblischen Glaubens und guten Willens konnten (in der Anfangszeit des Christentums) als Bürger oder Sklaven in den Metropolen und Provinzen des Römischen Reiches leben. Sie konnten als Handwerker oder Bauern in den Städten und Ländern leben oder als Händler die Flüsse auf- und abwärts ziehen. Und: Sie können als Menschen des 21. Jahrhunderts auf allen Kontinenten und in allen Kulturen der Welt leben und Beziehungen mit Menschen in fernsten Ländern pflegen. Ihre wesentliche Aufgabe bliebe immer die selbe: Dass da, wo sie einander begegnen oder wo sie in Gemeinschaft leben, in ihrem Leben und Handeln, ihrem Miteinander und Füreinander ein Schimmer vom Glanz der Liebe Gottes sichtbar wird als „Ebenbild“ der Liebe Gottes.
2 Die Aufgabe
Das Volk Gottes hat in dieser Welt und Zeit eine Aufgabe. Es soll und kann nicht das endzeitlich vollkommene, umfassende Heil herbeiführen, vorwegnehmen, erzwingen, berechnen, es kann und soll auch nicht so tun, als ob es schon da wäre und dabei die Augen vor den Realitäten dieser Welt verschließen. Das alles kann und soll das Volk Gottes nicht.
Aber es kann und soll, zeichenhaft und vor-abbildend, die Grundzüge des Heils in aller Unvollkommenheit und Bruchstückhaftigkeit doch schon jetzt und hier sichtbar, erkennbar und nachvollziehbar machen. Es kann und soll den Glanz der himmlischen Herrlichkeit schon in dieser Welt und Zeit ein wenig zum Leuchten bringen. Es kann und soll den Geschmack des himmlischen Friedens schon auf dieser Erde ein wenig schmecken lassen. Es kann und soll die Barmherzigkeit und Liebe Gottes schon jetzt und hier wie eine zarte Berührung spüren lassen. Es kann und soll wenigstens ein paar Grundtöne des himmlischen Lobgesangs schon hier auf der Erde zum Klingen bringen.
Das Modell der vollendeten Schöpfung, wo es einmal kein Leid und kein Geschrei, keinen Schmerz und keinen Tod, keine Gewalt und keine Ungerechtigkeit, keinen Hunger und keine Armut, keine Angst und keine Verzweiflung mehr geben wird, das Modell dafür, das schon hier und heute entstehen soll, ist nach dem Willen Gottes das alltägliche Miteinander unter denen, die schon hier und jetzt und mitten in dieser Welt Gut und Böse zu unterscheiden versuchen, um bei aller menschlichen Schwäche und Unvollkommenheit sich für das Gute zu entscheiden und es zu tun und sich gegen das Böse zu entscheiden und es zu meiden.
„Baupläne“ d. h. Beschreibungen, wie dieses Modell für das Haus der Liebe aussehen soll, wie das Volk Gottes leben soll, damit es ein Zeichen ist, an dem man in einer Art Vor-Schau erkennen kann, wie die Verwirklichung des Heils aussehen wird, gibt es im Alten und Neuen Testament genug. Zum Beispiel Jesaja 58, 6-7: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Wenn das, was der Prophet Jesaja hier aufzählt, wirklich alltägliche Lebenspraxis im Volk Gottes wäre, dann wäre es tatsächlich ein Zeichen der himmlischen Herrlichkeit im Reich Gottes inmitten der Finsternis dieser Welt, dann wäre es Bild der Liebe Gottes, Hoffnungszeichen in einer scheinbar verlorenen Schöpfung. Parallel dazu könnte man aus dem NT die ganze Bergpredigt und große Teile der übrigen Reden Jesu, vor allem aber sein Leben und Handeln (also wie er mit den Menschen umgegangen ist) anführen, um zu zeigen, wie das Modell des zukünftigen Heils in dieser Welt und Zeit aussehen soll.
In der Apostelgeschichte lesen wir, dass die erste Jüngergemeinde ganz konkret, und trotz aller menschlichen Schwächen für viele in ihrer Zeit erkennbar diesem Bild entsprach: Apg 2,44-47: Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. (…) Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Und Apg 4, 32-35: Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen. Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wer von ihnen Äcker oder Häuser besaß, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte.
Solche Formen des gemeinsamen Lebens (oder auch ganz andere, wenn sie nur von der gleichen Liebe gestaltet sind) können auch heute überall verwirklicht werden, wo Menschen sich von Jesus von der Macht des Bösen befreien und zu einer Lebensgemeinschaft der Einheit im Miteinander und Füreinander der Liebe führen lassen. Und das nicht als weltferne Utopie und wirklichkeitsscheuen Wunschtraum, sondern als handfest-konkreten Lebensvollzug. Nur so kann in der Jüngerschaft Jesu ein Erfahrungsraum entstehen, in dem schon hier und jetzt (andeutungsweise und trotz aller menschlichen Schuldhaftigkeit und Gebrochenheit) ein Vor-Zeichen der Vollendung, ein Vorgeschmack des alles umfassenden göttlichen Schalom wahrzunehmen ist.
In Joh 13, 34-35, sagt Jesus zu seinen Jüngern: Ein neues Gebot gebe ich euch… (Wir können auch sagen: „eine neue Erkenntnis von Gut und Böse“, die Gebote sind ja nichts anderes als die Erkenntnis von Gut und Böse in kurze Regeln gefasst) … ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Eine Jüngergemeinschaft, die so lebt, kann (trotz aller menschlichen Schwäche und Schuld) so etwas werden wie ein „Pflanz-Garten der Nächsten-Liebe“, wie ein Nährboden, wo am Baum der Erkenntnis ebenso wie am Baum des Lebens die Früchte der Gottes- und Menschenliebe auch heute schon wachsen und reifen.