Jedes Licht wirft, wenn es auf die realen Gegenstände dieser Welt trifft, einen dunklen Schatten, auch das Licht der Liebe Gottes, das sich im Miteinander der Menschen widerspiegeln soll. Der dunkle Schatten, das negative Gegenbild der Liebe, der Hingabe an ein Du, ist nicht der Hass, sondern der individuelle und kollektive Egoismus, die übersteigerte Ichbezogenheit oder Wirbezogenheit. Sie erst bringen alle negativen Folgen hervor: Habsucht und Machtbesessenheit, Ausbeutung und Gewalt, Hass und Krieg.
Am „Baum der Erkenntnis“ (siehe den Beitrag „Essen vom Baum der Erkenntnis“) muss deshalb nicht nur die Einsicht in das Gute wachsen, sondern auch die Wahrnehmung, das frühzeitige Erkennen des Bösen. Wenn wir das Böse nicht erkennen und benennen und ächten, werden wir ihm irgendwann hilflos ausgeliefert sein.
1 Die öffentliche Wirksamkeit des Bösen
Ein besonderes Phänomen unserer Gegenwart ist es, dass das Böse eine nie dagewesene öffentliche Wirksamkeit entfaltet. Unsere Zeit ist durch eine allgegenwärtige und im Zeichen der Globalisierung weltweite Öffentlichkeit gekennzeichnet.
Durch die Massenmedien und die milliardenfachen Angebote des Internet, die diese Öffentlichkeit herstellen, wird nun allerdings ein öffentliches Bewusstsein geprägt, das sich oft (und zum Teil manipulativ gesteuert) weit von den tatsächlichen Verhältnissen entfernt, und zwar einseitig zum Bösen hin. Das Böse wird veröffentlicht, nicht das Gute. Das Schreckliche, Zerstörende, Gewalttätige wird berichtet, das Schöne, Freundliche, Hilfreiche nicht. Wenn man heute in den Medien etwas offensichtlich Schönem und Gutem begegnet, kann man fast immer davon ausgehen, es ist nur Werbung oder „Fake“, und das heißt normalerweise: „geschönte“ Wirklichkeit oder glatte Lüge. Das allein wäre schlimm genug, aber es wird ja in den Medien zusätzlich das tatsächlich vorhandene Böse noch künstlich um ein Vielfaches vermehrt durch fantasievoll ausgedachtes und faszinierend inszeniertes Böses (Gewalt und Mord als genüsslich konsumierbare „Unterhaltung“ in Büchern, Filmen, Computerspielen …).
Das Gegenteil, nämlich dass ein öffentlichkeitswirksames Medium etwas Gutes „erfindet”, um das vorhandene Gute zu stärken, kommt praktisch nie vor. Und es wäre auch gar nicht wünschenswert. Etwas Derartiges geschieht meist nur in Diktaturen, wo man durch Schönfärberei die schreckliche Wahrheit verdecken will. Es wäre auch gar nicht nötig, so etwas zu tun, wenn nur das tatsächlich vorhandene Gute wenigstens annähernd in dem Maße veröffentlicht würde, wie es seinem tatsächlichen Anteil in unserer realen Umwelt entspricht.
Es gibt, was die Öffentlichkeit des realen Bösen angeht, zwei Formen: Das heimliche Böse, das möglichst unerkannt bleiben will und das demonstrative Böse, das die Öffentlichkeit will und sucht. Die wichtigste Form des heimlichen Bösen ist das Verbrechen, die wichtigste Form des demonstrativen Bösen ist der Terrorismus. Das Verbrechen fürchtet Aufdeckung und Strafe und will deshalb möglichst im Dunkeln bleiben. Der Terrorismus will Angst und Schrecken verbreiten und versucht deshalb mit möglichst spektakulären Gewaltaktionen die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu wecken.
Das Überraschende in unserer gegenwärtigen Situation ist nun, dass auch das heimliche Böse an die Öffentlichkeit drängt. Das klingt im ersten Moment widersinnig, hat aber trotzdem Sinn und Methode: Diejenigen, die Böses tun oder beabsichtigen, die wollen zwar, dass ihre persönlichen Untaten im Verborgenen bleiben, aber sie wollen gleichzeitig, dass das Verbrechen als Tatsache und Thema überall präsent ist. Das heimliche, reale Böse sucht die Bestätigung und die Rechtfertigung durch das öffentlich dargestellte Böse. Es will sich zur selbstverständlichen Begleiterscheinung allen gesellschaftlichen Lebens erklären, will sich kokett und aufreizend in Szene setzen, bis es ganz „normal” erscheint. Es will alle Schlagzeilen bestimmen, alle Nachrichten beherrschen – und meist gelingt ihm das auch: Einer von tausend Menschen begeht ein Verbrechen und schon ist er es, der alle Gedanken bewegt und alle Gespräche bestimmt.
Diejenigen, die Böses tun oder beabsichtigen, wollen den Unterschied zwischen gut und böse relativieren und nivellieren: Ist nicht jede böse Tat eine Folge unglücklicher Umstände, z. B. einer schlimmen Kindheit oder ungünstiger gesellschaftlicher Verhältnisse, und ist es nicht ungerecht, den Täter dafür verantwortlich zu machen? Andererseits: Stecken nicht hinter jedem scheinbar Guten auch eigensüchtige Motive, die es sehr fragwürdig aussehen lassen?
Freilich gibt es das alles auch und dann muss es auch entsprechend berücksichtigt und gewertet werden. Aber diejenigen, die Böses im Sinn haben, versuchen alles Böse zu entschuldigen und alles Gute zu verdächtigen, weil sie dann ein offenes Feld und freie Bahn haben für ihre eigenen verbrecherischen Absichten. Und es ist ihnen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gelungen, diese Denkweise in der Öffentlichkeit fest zu verankern. Dazu haben die Medien, oft ohne es zu merken und zu wollen, ihre Hand gereicht und ihre Zeitungsspalten und Sendeminuten zur Verfügung gestellt. Jeder möge sich selbst einmal fragen, wie weit diese relativierende Denkweise bei ihm selbst schon zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
In der veröffentlichten Meinung der „Meinungsmacher“ in den Medien jedenfalls ist die Entschuldigung, ja Rechtfertigung des Bösen als verständlich und manchmal sogar reizvoll, und zugleich die hämisch lächelnde Verdächtigung des Guten als heuchlerisch und bigott selbstverständliche Praxis. Mit verächtlichem Unterton und herablassendem Spott spricht man von „Gutmenschen”, als ob es etwas besonders Verabscheuungswürdiges wäre, wenn ein Mensch etwas Gutes zu erreichen versucht. Die Geschichte (besonders die Geschichte des zurückliegenden 20. Jahrhunderts) zeigt uns die Realität: Es waren nicht die Gutwilligen, sondern die offen Bösen, die versteckt Böswilligen, und hinterhältig Boshaften, die dieses Jahrhundert zum blutigsten und unmenschlichsten der ganzen Menschheitsgeschichte machten. Ich kenne keinen einzigen Fall, wo jemand, der etwas Gutes wollte, bei aller menschlichen Fehlerhaftigkeit, Fragwürdigkeit und Unvollkommenheit, etwas vergleichbar Schreckliches bewirkt hätte. Warum dann diese Häme?
Vor allem alles, was sich „Kunst” und „Kultur” nennt, hat sich seit Jahrzehnten auf dieses Negativ-Bild festgelegt. Kein Künstler (Maler, Schriftsteller, Filmemacher… und sei er noch so berühmt) dürfte es wagen, einfach nur etwas Gutes und Schönes darstellen zu wollen (es sei denn, es wäre bis zur Lächerlichkeit übermalter und verzerrter Kitsch). Hohn, Verachtung, konsequente Ablehnung und finanzieller Ruin wären die Folgen. Nur die Darstellung des Bösen, oder zumindest des hintergründig Boshaften ist „erlaubt” und darf den Anspruch erheben, „Kunst” zu sein.
Dabei leben auch diese „Meinungsmacher” davon, dass das Gute noch nicht gänzlich vom Bösen überwältigt ist. Auch diejenigen, die ständig mit dem Bösen kokettieren, würden nicht gern in einer Realität leben wollen, wo das Böse wirklich die Oberhand gewonnen hat, etwa in Kambodscha zur Zeit der „Roten Khmer”, als etwa ein Viertel der Bevölkerung des Landes (und besonders die Intellektuellen) grausam ermordet wurde, oder als Afrikaner in Ruanda zur Zeit des großen Abschlachtens zwischen Hutus und Tutsis oder als Jude in Deutschland zur Zeit der Holocaust. Da war wirklich das Böse zur alles überwältigenden Macht geworden; aber die entscheidenden Starthilfen für diese Entwicklungen gaben die „Meinungsmacher”, die das Böse verharmlosten und das Gute verdächtigten.
2 Die große Wirkung der kleinen Kriminalität
Heute gibt es noch eine andere Erscheinung des Bösen, die sich in den Vordergrund drängt, eine, die klein und unauffällig wirkt, die sich aber auf das gesellschaftliche „Klima“ verheerender auswirkt als die großen Verbrechen, die durch alle Medien gehen. „Trickbetrüger“ nennt man die Täter und man ordnet ihre Taten unter „Kleinkriminalität“ ein:
Eine junge, offensichtlich schwangere Frau klingelt an der Wohnungstür einer alten Dame. Sie will keine Geld, nein, sie bittet nur um ein Glas Wasser, dann wird es schon wieder besser. Während die alte Frau Wasser holt, schlüpft ein junger Mann, der sich bisher verborgen gehalten hat, in die Wohnung, durchwühlt blitzschnell die Räume, findet Bargeld und etwas Schmuck und verschwindet, während sich die „Schwangere“ in der Küche artig bedankt.
Oder: Ein älterer Mann bekommt unerwartet einen Anruf. Er versteht zunächst nicht, wer am Telefon ist und worum es geht, dann begreift er immerhin so viel: Sein Enkel, der Tobias, hatte einen Unfall, im Ausland, zwei Menschen sind schwer verletzt, er selbst sitzt im Gefängnis, obwohl er unschuldig ist. Er braucht dringend Geld, um einen Anwalt zu bezahlen, der ihn da rausholen soll. Der Anrufer ist ein Freund von ihm, der soll das Geld abholen und zum Unfallort hinbringen, damit der Enkel wieder freikommt. Der alte Mann ist erschüttert und verwirrt. Ja, ja, er wird gleich zur Bank gehen und das Geld abheben. Wieviel? 20 000? So viel? Ja, gute Anwälte sind teuer …
Kleinkriminalität? Nein, Verbrechen an der Mitmenschlichkeit, Mordversuch an der Hilfsbereitschaft! Hier wird die Bereitschaft zum Füreinander-Dasein umgebracht! Die Früchte des Handelns dieser „Kleinkriminellen“ sind gemeinschafts-vergiftend! Jeder Bittende könnte ein Räuber sein, jeder Hilfesuchende ein Betrüger, jeder bedürftig Aussehende Teil der organisierten Kriminalität. Die Kriminalpolizei rät zum „gesunden Misstrauen“, Mitleid wird zur Dummheit erklärt.
Es sind ja meistens ältere Menschen, die betrogen werden. Die haben ihr Leben lang so gehandelt: Menschen, die in Not sind, muss man helfen. Jetzt aber ist jeder, der so denkt und handelt nur noch „audo“ (alt und doof). Nicht der Verlust der 20 000 Euro für den Einzelnen ist das Problem (so schlimm das für den Betroffenen ist). Das Problem ist der Verlust der Mitmenschlichkeit für eine ganze Gesellschaft, das langsame aber erfolgreiche Austrocknen einer Einstellung, die man früher einmal „Barmherzigkeit“ nannte.
Wir sehen: Der dunkle Schatten des Bösen liegt oft schon über den gewohnten Alltäglichkeiten des Lebens. Es gibt noch tiefere Schatten: Im folgenden Beitrag „Macht ohne Menschlichkeit“ wird davon die Rede sein. Aber: Wirklich alles überschattend und alle Menschlichkeit zerstörend kann der „Schatten des Bösen“ dann werden, wenn er zum „bösen System“ wird. (Siehe den übernächsten Beitrag „Das böse System“)