Die „Erkenntnis von Gut und Böse“ ist nach der Bibel nicht etwas Verwerfliches, kein „Sündenfall“, sondern notwendige Voraussetzung, dass die Menschheit zu ihrer Berufung finden kann. Und Gott selbst hatte sie „aus dem Boden wachsen lassen“ (1. Mose 2,9): Und es ließ JaHWeH, Gott, aus dem Boden wachsen jeden Baum, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Inmitten eines Gartens voller blühender, fruchttragender Pflanzen lässt Gott zwei besondere Bäume „aus dem Boden wachsen“, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Damit ist die Ausstattung des Paradiesgartens aufgezählt:
1) Vielerlei Bäume (oder allgemein Pflanzen) mit deren Früchten. Sie deuten die Fülle des Lebens und der „Lebensmittel“ in Eden an.
2) Der Baum des Lebens
3) Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
Wir können mit Gewissheit davon ausgehen, dass auch diese beiden besonderen „Bäume“ zur guten und hilfreichen Ausstattung des Gartens Eden gehören. Gott selbst hatte sie „aus dem Boden wachsen lassen“ (siehe oben). Diese positive Deutung liegt beim „Baum des Lebens“ nahe, aber wir werden sehen: Auch der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist nicht in erster Linie zur Versuchung da, sondern zur Hilfe für Adam und seine Nachkommen, damit sie ihrer Berufung gerecht werden können. Adam (der Mensch) soll leben und er soll erkennen, was gut und böse ist. Wie diese „frohe Botschaft“ zur „Versuchungsgeschichte“ werden konnte, davon wird später noch die Rede sein.
Zunächst aber: Welche Realität, welcher „Schöpfungsakt Gottes“ steht hinter den biblischen Bildern von den beiden Bäumen im Garten Eden?
Eigentlich ist das ganz einfach zu verstehen: Der Baum ist immer ein Sinnbild für etwas, was aus einer gemeinsamen Wurzel wächst, das eine gemeinsame Ab-Stamm-ung hat. Beim „Baum des Lebens“ ist uns dieses Bild geläufig: Von der ersten Ur-Zelle an hat sich das Leben immer mehr verzweigt und verästelt, bis hin zu der millionenfachen Vielfalt der Arten und Formen, die wir heute kennen. Der „Stammbaum des Lebens“ und seine Entfaltung sind zwar noch nicht in allen Einzelheiten erforscht, aber doch in seinen grundlegenden Entwicklungen erkennbar. Dieser „Baum des Lebens“ war zu der Zeit, als es den frühen Menschen gab, schon voll entfaltet. Der Mensch war ja, wie die Bibel sagt und die Naturwissenschaft bestätigt, der letzte Zweig an diesem Stamm.
Beim „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ ist uns dieses Bild nicht so vertraut und wir müssen uns diese Sichtweise erst schrittweise erschließen: 1. Mose 2, 9: Und es ließ JHWH, Gott, aus dem Boden wachsen (…) den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Gott selbst hatte einen Garten gepflanzt in Eden und in diesem Garten den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Gott selbst hat also diese Erkenntnis entstehen und „aus dem Boden wachsen“ lassen. So steht es in der Bibel.
Der Boden, aus dem dieser Baum herauswächst, heißt hebräisch (der Sprache der Bibel im Alten Testament) Adamah. Das kommt von adom, rot; der Erdboden hat dort eine rötliche Farbe. Das Wort adom, rot, stammt von dem Wort dam ab; dam heißt Blut. Adom, rot, ist die Farbe des Blutes dam. Der Name des Menschen ist Adam.
Adam ist eigentlich kein Eigenname, sondern heißt einfach „Mensch“. Adam, der Mensch, ist der Lebendige, Blutdurchpulste und manchmal Heißblütige, der leicht auch mal rot (adom) sehen kann. Adamah ist der Acker, der Nährboden, aus dem alles Leben herauswächst. Auch das Menschsein (Adam) wächst aus der Adamah, der Erde. Im 1. Buch Mose, Kapitel 3, Vers 19 heißt es: Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. Und das stimmt ja auch: Der Mensch besteht seiner Materie nach aus den gleichen Atomen und Molekülen wie die ganze Natur und alles Leben; da ist er da gar nichts Besonderes. Aber zugleich ist auch das Menschsein, Adam, selbst so ein Nährboden, eine Adamah, aus der vieles herauswächst, Gutes und Böses. Auch der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ wächst aus der Adamah des Menschseins (Adam). Das ist keine blumige Redeweise, sondern ganz real und konkret gemeint:
Stellen wir uns frühe Formen menschlicher Gemeinschaft vor: Familien und Sippen, Horden von ein paar Dutzend Menschen, die die Wälder und Steppen auf der Suche nach jagbarem Getier und essbaren Pflanzen durchstreiften, immer in der Gefahr des Verhungerns, immer dem Wechsel von Witterung und Jahreszeiten ausgesetzt, immer im Kampf gegen körperlich überlegene Wildtiere und konkurrierende Menschen-Gruppen. Das Leben in einer so feindlichen Umwelt forderte alle ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten heraus. Nur durch kluge Einteilung der Kräfte und durch überlegene Strategien gemeinsamen Kampfes, bei dem jeder seine spezielle Rolle zu spielen hatte, konnte das Leben des ganzen Rudels gesichert werden. Dazu brauchten diese Lebens- und Jagdgemeinschaften aber Regeln, die ihr Miteinander so effektiv wie möglich ordneten. So entstanden, im Laufe von Jahrtausenden und jenseits der instinktgebundenen Verhaltensmuster, erste Rudelordnungen, die den einzelnen Mitgliedern bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen zuwiesen, an die sie sich zu halten hatten. Wenn sie sich daran hielten, wurde das von der ganzen Gemeinschaft als positiv, also „gut“ gewertet und belohnt (zum Beispiel bei der Zuteilung des Beute-Anteils), wenn nicht, galt das als schädlich für die Gemeinschaft, also als „böse“ und wurde bestraft.
Ebenso wie nach und nach durch die Entwicklung von Einzellern, dann komplexeren Lebensformen und schließlich mit der Ausdifferenzierung im Pflanzen- und Tierreich eine Genealogie (eine Abstammungsfolge) des Lebens, ein „Baum des Lebens“ entstanden war, so entstand nun im Miteinander von Menschen-Gruppen, von Stämmen und Völkern nach und nach eine „Genealogie“ der Ideen und Werte, der „Baum der Erkenntnis von gut und böse“. Das mögen anfangs nur mündlich tradierte Verhaltensregeln gewesen sein, die das Miteinander der frühen Menschen-Rudel bei der Jagd oder bei der Verteilung der Beute ordneten. Allmählich bildeten sich aber in den Sippen und Stämmen ganze Systeme von ungeschriebenen – und später auch geschriebenen – Ordnungen und Gesetzen aus, die immer engmaschiger festlegten, welches Verhalten erlaubt oder erwünscht (und damit „gut“) wäre und welches Verhalten unerwünscht, verboten (und deshalb „böse“) sei. Diese Ordnungen und Gesetze machten (und machen auch heute noch) einen wesentlichen Bestandteil dessen aus, was wir die „Kultur“ einer Gemeinschaft nennen. Der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ wuchs von Generation zu Generation, und im biblischen Bericht vom Garten Eden symbolisiert er die „Genealogie der Werte“, die sich bis dahin schon herausgebildet hatte.
Wir müssen uns das bewusst machen: Jede Rechtsordnung und Rechtsprechung ist noch heute eine Frucht von diesem Baum. Ohne Erkenntnis von Gut und Böse ist das Erkennen von Recht und Unrecht, ist damit auch menschliche Gemeinschaft auf Dauer nicht möglich. Gott selbst hatte dafür gesorgt, dass sie wachsen und sich verzweigen und zu einem starken „Baum“ werden konnte.
Die Parallelität der Bilder ist einleuchtend: So wie der „Baum des Lebens“ die bis dahin gewachsene Abstammung und Verzweigung der Lebensformen symbolisiert, so ist der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ das Symbol für die Abstammung und Verzweigung der bis dahin entwickelten Verhaltensregeln und Werteordnungen.
(Eine Anmerkung: Hier und bei der weiteren Darstellung wird davon ausgegangen, dass die biologische Entwicklung des Menschseins lange Zeiträume in Anspruch nahm und nicht mit einem einzelnen fertigen Menschen (Adam) vor etwa 6000 Jahren begann. Vgl. dazu das Themenheft „Adam, wer bist du?“, Abschnitt 1 „Adam, der erste Mensch?“ Dort sind die Zusammenhänge ausführlicher dargestellt.)
Das Menschsein wurde Träger einer ganz neuen Realität, die es nirgendwo sonst gab und gibt: Träger einer ethischen Unterscheidungsfähigkeit. Das bedeutet aber auch: Wenn der Mensch die Fähigkeit hat, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, ist er auch gezwungen, sich zu entscheiden. Er kann nicht mehr unbefangen und triebgesteuert leben und handeln. Wenn jemand erkennt, dass eine bestimmte Handlung böse ist, und der sie trotzdem tut, dann hat er sich für das Böse entschieden und ist für diese Entscheidung verantwortlich, auch wenn er diese Verantwortung weit von sich wegzuschieben versucht.
Das Menschsein unterscheidet sich von jedem anderen Dasein dadurch, dass es inmitten einer ethisch blinden Natur ein ethisch verantwortetes Dasein verwirklichen soll. Mitten in einer instinktgesteuerten und ethisch blinden Tier- und Pflanzenwelt gestaltete der Schöpfer ein Lebewesen, das in der Lage sein kann, gut und böse zu unterscheiden.
Von diesem ersten Keim der Erkenntnis des Guten aus und dem Willen, dieses Gute auch zu tun, soll es sich ausweiten und alles Menschsein erfassen und durchläutern. Die ethische Unterscheidungsfähigkeit und dazu auch die tatsächliche Entscheidung für das Gute und gegen das Böse, das ist es, was das Menschsein des Menschen ausmacht, nicht seine intellektuelle oder technische Überlegenheit gegenüber anderen Lebewesen.
Wobei uns bewusst sein muss: Das Böse (unter den Menschen) geschieht oft von allein, es entspricht ja in vielem den natürlichen Verhaltensweisen eines Lebewesens, das von gut und böse nichts weiß. Das Gute muss man erkennen und wollen. Ethisch bewusste Einstellungen und Verhaltensweisen sind immer bedroht und gefährdet. So wie sich das Leben in einer lebensfeindlichen Natur mühsam seine Lebensräume erobern muss, so muss sich das Gute in einer ethisch blinden Umwelt und in einer von Kampfinstinkten beherrschten Menschheit mühsam, Schritt für Schritt, Handlungsräume des Miteinander und Füreinander erobern.
Warum berichtet aber dann die Bibel, dass Gott, der selbst den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen hatte wachsen lassen, nun den Menschen verbietet, von seinen Früchten zu essen. Ist das nur Mythologie aus der Frühzeit der Menschheit oder hat das auch noch eine Bedeutung im 21. Jahrhundert? Im folgenden Beitrag „Essen vom Baum der Erkenntnis“ werden wir mehr davon erfahren.