Das Schlimmste, was einem Menschen begegnen kann, ist nicht die böse Tat, auch nicht der böse Mensch, sondern das böse System. Ein einzelner Mensch kann wohl einzelnes Unheil anrichten, kann andere Menschen verletzen oder sogar töten. Aber wenn dies in einem insgesamt positiven, die Rechte und die Würde des Menschen achtenden System geschieht, bleibt es eine einzelne Tat, die von der Mehrheit verurteilt und von den Rechtsorganen bestraft wird.
Wehe aber, wenn ein ganzes System böse wird, dann sind die negativen Auswirkungen viel tiefer gehend und viel umfassender. Das beginnt schon bei Klein-Systemen, wie etwa einer Jugend-Bande auf dem Schulpausehof, die nach innen eine gewalttätige Disziplinierung übt und nach außen Angst und Schrecken verbreitet. Noch deutlicher wird dies bei den kriminellen Großsystemen des heutigen internationalen Drogen-, Waffen- oder Menschenhandels mit weltweit Millionen von Opfern, obwohl ja auch diese Systeme noch in den meisten Ländern als verbrecherische Strukturen bekämpft werden. Seine eigentliche zerstörerische Macht erreicht so ein böses System aber erst dann, wenn es selbst zur „staatstragenden“ Idee und zum alles bestimmenden Machtzentrum geworden ist, da, wo es nicht nur Fehlentwicklung und Entgleisung einer bestehenden Ordnung durch menschliche Bosheit ist, sondern „von oben“ gewollter und gelenkter Vernichtungswille.
Eine höchste und furchtbarste Verdichtung so eines „bösen Systems“ hat es in einem Teilbereich des Nazi-Regimes in Deutschland 1933-1945 gegeben, nämlich in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der SS. Weitgehend verborgen vor den Augen der „normalen“ Bevölkerung hatte sich ein Unrechts- und Gewaltsystem, ein „Staat im Staate“ etabliert, der alles Unrecht und alle Bosheit des Nazi-Regimes in höchster und grausamster Konzentration vollstreckte. Nie in der Geschichte der Menschheit hat es ein so rational geplantes und durchgeführtes, von den offiziellen Organen eines ganzen Staates gewolltes, vorangetriebenes und durchgesetztes Vernichtungswerk gegeben, wie jenes, das wir unter den Bezeichnungen „Holocaust“ oder „Schoah“ kennen, oder „Endlösung der Judenfrage“ (so nannten es die Täter). In diesem System starben neben den Juden auch Behinderte („Lebensunwerte“), „politische“ Gefangene, „Kriminelle und Asoziale“, „Zigeuner“, „Bibelforscher“ und „Homosexuelle“, und jede Art von Menschen, die irgendwie dem System als nicht systemkonform aufgefallen waren.
Alles in diesem System war daraufhin ausgerichtet, die Gefangenen, die ja meist keinerlei persönliche „Schuld“ auf sich geladen hatten, zu erniedrigen, zu quälen, ihre Arbeitskraft bis zum äußersten auszubeuten und sie schließlich zu töten. Und gleichzeitig war das System so angelegt, dass es die „Herren“ des Systems, die SS-Offiziere, mit dem Gut und der Arbeitskraft der Opfer mästete und sie zu bedingungslosen Herren über Wohl und Wehe, Leben und Tod der Häftlinge machte.
Viele Berichte aus diesen Lagern (man könnte ebenso auch Berichte aus den Lagern des „GULAG“ in der Sowjetunion unter Lenin und Stalin oder aus den „Umerziehungslagern“ der „Kulturrevolution“ in China unter Mao heranziehen) bestätigen übereinstimmend, dass es die furchtbare Bosheit des Systems war, das die Opfer ständig an den Rand der physischen Existenz trieb, (man war ja ständig halb am Verhungern, ständig zu Tode erschöpft, und ständig in der Angst vor den Willkürmaßnahmen der Aufseher). Auch schon ohne direktes Eingreifen der SS-Henker wurden die Häftlinge und ihr Miteinander in eine unglaubliche Verrohung des Verhaltens und eine erschreckende Abstumpfung gegenüber fremdem Leid geführt, eine Verrohung und Abstumpfung, die die Häftlinge im „normalen“ Leben nie für möglich gehalten hätten. Die alltäglichen Vollstrecker des Unrechtssystems der Konzentrationslager waren ja oft gar nicht die SS-Leute selbst, die hielten sich normalerweise im Hintergrund, sondern die Kapos und Aufseher, die Kriminellen und Sadisten, die – obwohl sie selbst Häftlinge waren – innerhalb des Systems eine privilegierte Stellung erobert hatten und nun eine grausame Gewaltherrschaft über ihre Mithäftlinge ausübten, oft die einzige Möglichkeit, selbst (wenigstens noch eine Zeit lang) am Leben zu bleiben.
Freilich gibt es auch Berichte, die belegen, dass mitten in der Hölle der Unmenschlichkeit und auch unter äußerster Todesgefahr Menschen einander zu Helfern und Wohltätern wurden, wahre „Heilige“, die nicht in den Kalendern stehen – und das waren nicht wenige.
Wir nehmen als historische Tatsache wahr, dass das Böse sich als übergeordnetes System und alles bestimmende Macht in menschlichen Organisationsformen etablieren kann. Es war offensichtlich möglich, dass ganze Völker in der überwiegenden Mehrheit ihrer Mitglieder sich mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger aktiv in ein Verfolgungs- und Mord-system einordnen ließ, das die Beteiligten selbst ein paar Jahre vorher nie für möglich gehalten hätten. Und diese Systeme der Bosheit wurden mit einer gläubigen Inbrunst bejubelt, gewollt und vollzogen, zu der nur gläubige Überzeugungstäter fähig sind.
So erscheint uns das „böse System“ als Negativ-Folie für die Gemeinschaft des Füreinander und der Liebe, die eigentlich dem Menschsein als „Bild Gottes“, als Darstellung seiner Liebe zugedacht ist. Im Reich der Finsternis, das in den Todeslagern und Vernichtungsfeldzügen des sogenannten „Dritten Reiches“ (und ähnlicher Gewaltsysteme) umrisshaft sichtbar geworden ist, zeichnet sich das negative Gegenmodell zum verheißenen und kommenden Gottesreich ab.
An der Tiefe des Schattens, an der Finsternis des Bösen als Negativ-Bild der von Gott gewollten Menschlichkeit, können wir erahnen, welches Licht und welcher Glanz dem Menschsein im Reich Gottes, in der Erfüllung seiner von Gott gegebenen Berufung zukommen kann. Und so wie dort das Böse, die Gewalt, die Menschenverachtung und der Mord hier auf dieser Erde zur alles bestimmenden Realität werden konnten, so kann auch das Reich Gottes, also eine Gemeinschaftsordnung der Liebe, der Mitmenschlichkeit und des Friedens hier auf dieser Erde zur alles bestimmenden Realität werden.
Nein, ich lasse es nicht gelten, wenn man sagt: „Das sind doch Illusionen eines weltfernen Träumers.“ Man möge mich dafür kritisieren und belächeln, aber ich bleibe dabei: Ein System der Güte und des Füreinander als Lebenselement und reale Rahmenbedingung des Menschseins hier und heute ist nicht unmöglicher, nein, es ist nicht unmöglicher, als es das reale System der Unmenschlichkeit in den Todeslagern der Nazis war. Wer hätte denn so etwas vorher für möglich gehalten?
Wer wollte behaupten, es könnte unter den Menschen nur das Böse zur konsequentesten Verwirklichung und äußersten Entfaltung gelangen und nicht auch das Gute? Der Mensch ist von Gott geschaffen, damit er zwischen Gut und Böse unterscheiden und sich zwischen beiden Möglichkeiten entscheiden kann. Und wo, wenn nicht in der Gemeinschaft derer, die von Jesus befreit und gesandt sind, könnte die Entscheidung für das Gute Gestalt annehmen und ein System des Miteinander und Füreinander zur gemeinsamen Lebensgrundlage werden?
Gewiss weiß auch ich, dass die Vollendung des Reiches Gottes als einer Gemeinschaftsordnung des ungefährdeten und unbegrenzten Guten durch die Liebe noch aussteht und erst verwirklicht werden kann, wenn der Herrscher dieses Reiches, Jesus, als der Messias Gottes auf diese Erde zurückkehrt, aber eine modellhafte Vor-Verwirklichung ist schon hier und heute möglich und von Gott gewollt.
Wer bereit ist, aufmerksamer zu schauen und zu hören, und sich hineinzubegeben in die Gemeinschaft des Gottesvolkes aller Konfessionen, auch da, wo sie noch sehr bruchstückhaft und unvollkommen ist, der wird erkennen: Ja, es hat längst schon begonnen, klein und in aller menschlichen Schwachheit, nicht überall und nicht zu jeder Zeit in gleicher Intensität und Konsequenz, aber immer mitten in dieser Welt. Freilich müssen wir auch gestehen, dass sich das immer nur in relativ kleinen, aufs Ganze gesehen scheinbar unbedeutenden Formen und Strukturen und immer nur für begrenzte Zeit verwirklicht hat. Die „Gemeinschaft der Heiligen“ ist in dieser Weltzeit fast immer in der Minderheit. Und das ist nicht nur negativ zu sehen. Da, wo Kirche sich als schon vollendetes „Reich Gottes auf Erden“ empfand, weil sie groß und mächtig geworden war, da war sie immer in der Gefahr, ihre Größe und Macht zu missbrauchen.
In der Vollendung des Reiches Gottes wird alles Böse besiegt sein und alles Gute zur Erfüllung kommen. Jetzt aber, in unserer Zeit, wo Gutes und Böses immer gleichzeitig als Möglichkeit vorhanden sind, geht es darum, Gutes und Böses zu erkennen und zu unterscheiden und sich dann für das Gute und gegen das Böse zu entscheiden. (Siehe den folgenden Beitrag „Entscheidung und Entschiedenheit“)