Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Generationen und Geschlechter

Beitrag 2: Die Generationen-Folge 2: Phasen des Lebens (Bodo Fiebig1. Februar 2022)

Im Beitrag 1 „Der Anfang“ wurde der Übergang von der elementaren Wachstums- und Reifungs-Phase in der Schwangerschaft zur Säuglings-Phase beschrieben. Jetzt werden die  die entscheidenden Wachstums- und Entwicklungs-Pasen im Leben eines Menschen dargestellt. Auch hier verwende ich jeweils eine erzählende Form (in kursiver Schrift), um elementare  Vorgänge vorzustellen.

2.1 Säuglings-Phase

Neki war ein zufriedenes Kind, jedenfalls, solange sie sich nicht allein gelassen fühlte. Dann wurde sie unruhig und quengelig. Am zufriedensten war sie, wenn sie, nachdem sie getrunken hatte, am Körper ihrer Mutter lag, umfangen von Nähe und Wärme, gehalten von Schutz und Geborgenheit. Und so wie die Mutter-Milch sie innerlich gesättigt hatte, so sättigte sie nun äußerlich und zugleich in der Tiefe ihres Seins die Mutter-Berührung von Haut zu Haut, von Wärme zu Wärme, von Atem zu Atem, von Herzschlag zu Herzschlag. Am aller zufriedensten aber war Neki, wenn dann noch ein sanft umfangenes und sicher gehaltenes Schaukeln dazukam, hin und her, hin und her (wie in der Vor-Zeit, die, längst vergangen, in ihr nur noch als unbewusste Empfindung gegenwärtig war), und dazu noch der warme, körperlich vibrierend spürbare und für ihr Hören so sehr vertraute Klang der Mutter-Stimme. Neki wusste nicht, dass es Worte waren, die ihr die Mutter-Stimme ins Ohr sang, Worte von Sonne und Wärme, von Früchten und Saft, von Brei und Mus, von Blumen und Honig, von Spiel und Tanz. Neki verstand alle diese Worte nicht, aber später, als sie diese bewusst hörte und lernte, da kamen sie ihr alle bekannt und vertraut vor. Bekannt und vertraut aus den Wahrnehmungen in der warm-dunklen Zeit der Geborgenheit im Bauch ihrer Mutter.

Säuglingszeit ist Zeit existenzieller Nähe. Die Auseinandersetzung mit der Welt und die Ablösung von engen Bindungen kommen später. Sie müssen kommen, aber nicht jetzt. Jetzt geschieht die Grundlegung des Vertrauens durch die Erfahrung der Verlässlichkeit (wer Verlässlichkeit in der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und in der Zuwendung seiner Bezugspersonen erfahren hat, kann leichter Vertrauen entwickeln: in Menschen – und in die Zukunft – und in sich selbst). Jetzt geschieht die Grundlegung der Offenheit durch die Erfahrung der Vertrautheit (wer sich geborgen weiß im Vertrauten, kann eher offen sein für Neues, Ungewohntes). Jetzt geschieht die Grundlegung des Mutes durch die Erfahrung der Sicherheit (wer Schutz und Sicherheit erfahren hat in der frühen Kindheit, kann später freier und mit sicheren Schritten auf Unbekanntes zugehen). Jetzt geschieht die Grundlegung der Beziehungsfähigkeit durch Vertiefung der Ursprungsbeziehungen und Erweiterung des Beziehungsrahmens (wer in der frühen Kindheit die Beziehungen zu seinen nächsten Bezugspersonen als beglückende Nähe und gleichzeitig als sich erweiternde Beziehungsgemeinschaft erfahren hat, kann später leichter Nähe zulassen und auch den Rahmen seiner Beziehungen erweitern). Vertrauen, Offenheit, Mut, Beziehungsfähigkeit, das alles lernt ein Mensch sein Leben lang. Aber die Grundlage dafür wird im Säuglingsalter gelegt.

1.1.2 Kleinkind-Phase

Kindheit ist beim Menschen nicht nur werdendes Erwachsen-Sein. Im Tierreich ist das selbstverständlich so, weil nur das Erwachsenen-Stadium die Zeugungs- und Fruchtbarkeits-Phase bietet, die eine neue Generation der jeweiligen Art hervorbringen kann. Bei Insekten zum Beispiel bildet die „Kindheit“ eine völlig eigene Lebensform aus (die Larve, die dem fertigen Insekt äußerlich nicht erkennbar ähnlich ist), die nur dazu da ist, zu fressen und zu wachsen, und so das biologische Material bereitzustellen für die große Verwandlung, die Metamorphose, die erst die erwachsene und vermehrungsfähige Lebensform hervorbringt: eine Fliege oder einen Schmetterling… Dabei ist es ja beim Menschen grundsätzlich ja auch so, dass nur die Erwachsenen-Phase biologisch „fruchtbar“ ist, aber mit einem höchst bedeutsamen Unterschied: Der Lebens-Sinn des Menschen ist nicht auf die biologische Reproduktion beschränkt*, obwohl die ja auch hier ihre wichtige Rolle spielt. Und nur deshalb, wegen dieser Sinn-Erweiterung menschlicher Existenz, kann sich die menschliche Entwicklung eine viele Jahre umfassende Phase der Kindheit vor dem Erwachsen-Sein leisten und eine ebenso lange Phase des Alters nach der biologisch fruchtbaren Zeit (deutlicher begrenzt bei Frauen). Nur wenn das menschliche Leben einen übergeordneten Lebens-Sinn hat, der weit über die biologische Reproduktion hinausgeht, nur dann können menschliche Kindheit und menschliches Alter einen eigenen Sinn und eigenen Wert haben.

*siehe das Thema: „Die Frage nach dem Sinn“; die entsprechenden Inhalte können hier nicht wiederholt werden

Neki erwachte aus tiefem Schlaf. Sie spürte die Wärme des Körpers ihrer Mutter und dessen Bewegungen. Die Wärme wollte sie wieder einschläfern, aber die Bewegung machte sie hellwach. Irgendwie war sie anders als sonst. Neki riss die Augen auf und schaute sich um. Das war nicht das gewohnte Halbdunkel der Höhle. Die Umgebung war so hell, dass es fast weh tat und sie musste die Augen wieder schließen. Vorsichtig blinzelnd versuchte sie sich umzuschauen. Alles war neu, vieles unverständlich, aber die vertraute Nähe der Mutter gab ihr Sicherheit. Und da war noch etwas, was sie schon kannte: Das, was ihre Mutter „Mann“ nannte und „Vater“ und „Dako“. Neki kannte seine Stimme, die sie oft neben der Stimme ihrer Mutter gehört hatte und sie erkannte sein Bild, auch wenn es jetzt in der Helligkeit anders aussah. Und da war noch mehr, das ihr vertraut war: Zwei helle Stimmen, die sie oft gehört hatte und zwei bewegte Gestalten, deren Bewegungen ihr vertraut vorkamen: „Semi“ und „Paro“ sagte ihre Mutter zu ihnen. So viel Bekanntes und Vertrautes beruhigte ihr aufgewühltes Empfinden und sie begann diese neue Umwelt interessiert zu betrachten. Zuerst nahm sie eine Wärme wahr, die nicht von ihrer Mutter kam und auch nicht von einem Feuer, sondern von der Helligkeit, die sie nicht anschauen konnte. Und dann wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas angezogen, was sie noch nie gesehen und erlebt hatte: Etwas, das in Bewegung war und das doch immer an der gleichen Stelle zu bleiben schien, etwas, was leise Geräusche machte, die fast so klangen, wie wenn sie in die Hände klatschte. Das musste Neki gleich ausprobieren und sie klatschte in die Hände. Aber das Geräusch war doch anders, so als ob ganz viele Hände klatschten, kleiner und größer, lauter und leiser.

Nekis Mutter hatte bemerkt, was deren Aufmerksamkeit so gefangen nahm und sie trug ihre Tochter ganz nahe heran an die klatschende Bewegtheit, so dass sie diese mit der Hand anfassen konnte. Erschrocken zog Neki ihre Hand zurück von der kalten Berührung und noch erschrockener nahm sie wahr, das etwas von der klatschenden Bewegtheit an ihrer Hand geblieben war. Schnell versuchte sie, das mit der anderen Hand abzuwischen, aber das Ergebnis war, dass nun beide Hände davon berührt waren. Sie begann zu weinen und wandte sich hilfesuchend an ihre Mutter. Aber die schien gar nicht besorgt und nahm nun selbst etwas von dieser Bewegtheit in ihre Hand und ließ es durch die Finger zurücktropfen. „Bach“ sagte sie dazu und „Wasser“. Das gefiel Neki und sie wollte es der Mutter nachmachen. Das „Bach-Wasser“ war zwar immer noch unangenehm kalt, aber das Tropf-Spiel machte Spaß, sodass sie es nochmal und nochmal wiederholte.

Die Kleinkind-Phase ist eine Zeit höchster Entwicklungsdynamik: Loslösung aus der Körper-nahen Abhängigkeitsbeziehung und Befähigung zu einer unterstützten Verselbständigung und gleichzeitig intensivste Lernphase auf Grund von Eigenerfahrungen. Am deutlichsten sichtbar wird diese Loslösung bei der Nahrungsaufnahme: Von der direkten Körper-zu-Körper-Ernährung mit Muttermilch hin zu einer erweiterten, differenzierteren und zunehmend selbständigen Nahrungsaufnahme. Solche allmähliche Loslösung und Verselbständigung aus der Primärbeziehung ist unabdingbar notwendig (obwohl das Kleinkind ja noch nicht selbständig lebensfähig ist), aber sie kann nur dann gut gelingen, wenn nun Sekundär-Beziehungen hinzukommen, die den sozialen Erfahrungsraum erweitern (ebenso wie auch den sachlichen Erfahrungsraum), aber trotzdem einen Rahmen der Vertrautheit bilden: Die Familie mit dem Vater, mit Geschwistern verschiedenen Alters und mit weiteren häufiger anwesenden Personen und deren Leben, Reden und Handeln.

Neki trommelte unzufrieden mit ihren kleinen Händen auf den Nacken ihrer Mutter. Das Trage-Fell, in dem sie auf dem Rücken ihrer Mutter steckte, war ihr zu eng, vor allem jetzt, wo die kleinen Kinder der Gruppe (aber doch schon etwas größer als Neki) rennend, hüpfend und quietschend vor höchstem Vergnügen auf dem Platz vor der Höhle spielten. Jetzt war Früchte-Zeit und das Leben spielte sich tagsüber im Freien ab und der Platz vor der Höhle mit dem plätschernden Bach und dem nahen Wald war für die Kleinen wie ein großer Spielplatz. Neki kannte sie alle, manche von ihnen mit Namen; manche konnte sie sogar an der Stimme erkennen, ohne hinzusehen.

Die älteren Kinder mussten den Erwachsenen helfen. Sie waren dabei, Samenkörner aus gesammelten Ähren zu lösen und in die runde Vertiefung eines flachen Steines zu häufen, wo sie von den Frauen mit einem glatten runden Stein zu Mehl zerrieben wurden, abwechselnd, denn diese Arbeit war anstrengend. Jetzt war Nekis Mutter an der Reihe und die hatte jetzt gar keine Zeit, sich um die Wünsche ihrer Tochter zu kümmern.

Neki wand sich in ihrer engen Hülle und wäre am liebsten hinausgesprungen, aber das ging nicht. Auch ein zorniges Kreischen konnte ihre Mutter nicht erweichen. Neki musste warten, bis ihre Mutter die Arbeit an die Nächste der Frauen weitergab. Dann band sie das Trage-Fell auf und ließ Neki auf den Boden hinab. Neki lief los, so schnell ihre kleinen Beine laufen konnten und – fiel prompt hin. Nach einer Schrecksekunde brach ein lautes Schreien aus ihr, vor Schmerz und vor Zorn, dass sie nicht so laufen konnte, wie sie wollte. Wie gut tat jetzt die Umarmung der Mutter! Aber nicht zu lange: Sie wollte laufen! Auch die führende Hand der Mutter wies sie zurück. „Neki“, sagte sie und noch einmal mit Nachdruck: „Neki!“ Und sie meinte: “Neki ist schon groß, Neki kann selber laufen! Wie die anderen Kinder“. Lachend ließ ihr die Mutter ihren Willen.

Die Beziehungs-Erweiterung in einem begrenzten und stabilen sozialen Nah-Raum (Familie, später Nachbarschaft, Freundschaft …) ist eine wichtige Zwischen-Phase, die nicht übergangen werden sollte. Es wäre nicht gut, wenn die körperlich und existenziell nahe Mutter-Kind-Beziehung der Säuglingsphase direkt und übergangslos in eine weite Sozial-Form mit wechselnden Bezugspersonen münden würde (z. B. in einer Kinderkrippe). Der vertraute Nah-Bereich der Familie mit gleichbleibenden Bezugspersonen ist eine wichtige Sozial-Form für die gesamte Kindheit, die nur nach und nach geöffnet und erweitert werden sollte. Da, wo eine Familie als sozialer Nah-Raum nicht vorhanden ist, sollte man versuchen, andere Gemeinschaftsformen mit begrenzter und möglichst gleichbleibender Zusammensetzung und enger Sozialbindung zu finden. Freilich verkraften die meisten Kinder auch den Abbruch und Umbruch eines plötzlichen Übergangs in eine neue, stark veränderte Lebenssituation irgendwie; unberührt und unbelastet lässt sie so ein sozial-emotionaler Einbruch aber nicht.

1.1.3 Großkind-Phase

Für beides ist Zeit in der Kindheit, der intensivsten Lernphase jedes Menschenlebens: Nachahmung der Erwachsenen und deren Rollen und Verhaltensweisen und Erproben eigener Ideen, eigener Aktivitäten und phantasievoller Kreativität, und das alles im Spiel, ohne (oder zumindest mit sehr eingeschränkter) Verpflichtung und Verantwortung (jedenfalls solange ein Kind wirklich Kind sein darf). Ein Kind muss die Stimmigkeit seiner Ideen und Deutungsversuche nicht begründen und beweisen. Es hat und braucht die Freiheit der Phantasie, denn nur so entstehen die Voraussetzungen, die dem erwachsenen Menschen später die Möglichkeit eröffnet, nun auch sinnvolle Verhaltensweisen, stimmige Handlungskonzepte und rational begründete Pläne zu entwickeln, aber auch neue Ideen, nie gehörte Gedanken, eigene Vorgehensweisen, ungewohnte Vorstellungen …

Während in der Kleinkindphase das Kind alles Neue in die Beziehung zu sich selbst setzt (das tut mir weh, das tut mir gut, das schmeckt mir, schmeckt mir nicht, …) haben Kinder später (eine Altersangabe wäre hier unpassend, weil Kinder diese Entwicklungsstadien sehr unterschiedlich durchlaufen) auch und vor allem Interesse an sachlichen Zusammenhängen: Was ist das? Wer ist das? Wie ist das? Sie haben nun nicht nur Interesse am Nahbereich ihrer eigenen Erfahrungen. Sie interessieren sich für alte Kulturen ebenso wie für neueste Weltraumforschung, für ferne Länder ebenso wie für Bakterien im eigenen Körper, sie lesen Bücher, schauen Filme, hören Geschichten um noch mehr zu erfahren. Eine der erfolgreichsten Kinderbuchserien der vergangenen Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum ist eine bebilderte Sachbuchserie mit dem Titel „Was ist was?“ Diese Zeit intensiven Wissensdrangs für das „was“ und „wie“ ihrer Umwelt wird in späteren Phasen kultureller Entwicklung für die „Schulzeit“ genutzt.

Neki konnte keine Bücher lesen und Filme anschauen, aber Geschichten hören, wenn die Alten abends am Feuer saßen und Ereignisse aus ihrem Leben erzählten, das konnte sie. Und so hörte sie, wenn sie nicht schon schlief, mit heißen Ohren die Geschichten von der Jagd auf gefährliche Ungeheuer: Auf reißende Bären und riesige Mammuts. Sie hörte die Erzählungen von fernen Felsengebirgen und großen Wassern, von tödlichen Feuern in trockenen Wäldern, von giftigen Schlangen und mordenden Kriegern aus fremden Ländern … und von den eigenen Heldentaten der Jäger, die alle Feinde bezwungen hatten. Sie verstand das meiste nicht und doch entstand in ihr eine verschwommen-vielgestaltige Vorstellung von einer Welt jenseits ihrer vertrauten Umwelt (in der Höhle und am Bach und im Nah-Bereich des Waldes), geheimnisvoll drohend und doch auch verlockend, die sie nach und nach mit eigenen Phantasien ergänzte und immer bunter ausschmückte.

Kindheit ist auch eine verlängerte Zeit von nicht an die sichtbaren und erfahrbaren Realitäten gebundener Phantasie. Und damit eine Vorstufe aller späteren Entwicklung von Kreativität, ja auch von Religion und Philosophie.

1.1.4 Jugend-Phase

Neki versuchte mühsam, sich zu beherrschen. Sie galt zwar als Mädchen, das noch nicht geschlechtsreif war, aber sie war kein Kind mehr, und wenn ihr älterer Bruder Paro versuchte, sie wie ein Kind zu behandeln, wurde sie wütend. Und jetzt war sie wütend! Sie stand als einziges Mädchen zusammen mit sechs Jungen auf dem Platz vor der Höhle und sie warteten auf Somm, den Anführer und Verantwortlichen für die neu zusammengestellte Schar junger Jäger, die heute ihren ersten Jagdzug machen sollten. Und Neki wollte dazugehören. Das aber passte Paro gar nicht. Er war der älteste der Schar (außer Somm natürlich). Und er wollte nicht, dass ein Mädchen zu ihnen gehörte. Ein Mädchen unter Jägern! Das hatte es noch nie gegeben! Und wie stand er da, wenn nun seine Schwester… Mit einem zornigen Ruf und ausgestrecktem Arm wies er sie dorthin, wo sie seiner Meinung nach hingehörte: Zu der Gruppe älterer Kinder, die Beeren und Pilze zum Trocknen auf einer flachen von der Sonne erwärmten Steinplatte ausbreiteten. Sie sollten, auf diese Weise haltbar gemacht, als Vorrat für die kommende Schnee-Zeit im hinteren Teil der Höhle aufbewahrt werden. Neki blieb trotzig stehen und hielt dem zornigen Blick ihres Bruders stand. Ja, sie war ein Mädchen, und trotzdem war sie mit den Jungen weite Tagesmärsche gelaufen und hatte mit ihnen das Zielen und Treffen mit Pfeil und Bogen geübt. Sie hatte in allen Strapazen durchgehalten und beim Zielen und Treffen war sie den meisten überlegen. Aber, wenn nun Paro bei Somm durchsetzte, dass sie bei den Kindern bleiben musste …? Von außen gesehen war Neki ein trotziges Mädchen, das sich in Dinge einmische, die sie nichts angingen. Im Innern aber war sie eine werdende Frau, die sich der Verantwortung ihres Frau-Seins bewusst wurde.

Neki kannte die Geschichte von ihrer Geburt als „Schnee-Kind“. Ihre Mutter hatte sie ihr oft erzählt. Und sie wusste, dass sie überlebt hatte, weil einige Frauen es nicht zulassen wollten, dass man sie aussetzte, obwohl es doch immer so gemacht wurde. Jetzt wollte sie als Jägerin mit dazu beitragen, dass nie mehr ein Schneekind ausgesetzt werden müsste, weil nicht genug Nahrung da war. Bis zum Beginn der Schnee-Zeit wollte sie eine gute Jägerin werden. Und wenn dann vielleicht mehrere Mädchen und junge Frauen mit zur Jagd gingen, könnten dann die Jagdgruppen sich häufiger abwechseln und erfolgreicher jagen. Und vor allem: Wenn sie selbst Kinder haben würde, sollte keines von ihnen in den Schnee ausgesetzt werden. Sie musste sich gegen Paro durchsetzen!

Da kam Somm. Er war nicht viel älter als Paro, aber schon ein erfahrener Jäger. Er sah Neki an, sagte aber nichts. Schweigend kontrollierte er bei jedem Einzelnen den Bogen und die Pfeile. Dann mussten sie, einer nach dem andern, ihre Füße vorzeigen; sie würden heute sehr weite Wege gehen müssen. Alle waren es gewöhnt, während der ganzen Warm-Zeit barfuß zu laufen und hatten dicke Hornhaut an den Füßen. Nur einer der Jungen wurde von Somm weggeschickt, weil er an einem Fuß eine wunde Stelle hatte. Da kam Paro zu Somm, zeigte auf Neki und sagte, dass die auch dableiben müsste, schließlich sei sie ein Mädchen, und Mädchen können ja nicht auf die Jagd gehen … Somm ging mit keinem Wort darauf ein, aber er sah Neki fragend an. Da nahm Neki ihren Bogen, legte den Pfeil an und zielte auf das fest gebundene Strohbündel, das, einem Hasen gleich, unter einem Strauch lag, und das ihnen beim Üben als Ziel gedient hatte. Allerdings war jetzt die Entfernung deutlich größer. Sie versuchte zweimal tief und ruhig zu atmen, dann ließ ihre Hand den Pfeil los. Und er traf! Traf fast genau ins Stroh-Hasen-Herz. Somm sah wortlos zuerst Paro an, dann Neki, dann nickte er ihr zu und ging einfach los. Neki rannte zum Stroh-Hasen, um ihren Pfeil wieder zu holen. Pfeile waren kostbar! Und dann musste sie noch einmal rennen, um die andern wieder einzuholen.

Die Jugendzeit ist eine emotional stark aufgewühlte Phase im Leben von Menschen, denn es geschehen hier zwei Veränderungen mit großer Tragweite: Zum einen eine körperliche Reifung und zum andern eine geistige Reifung für das beginnende Erwachsenen-Dasein, die beide, wenn auch auf ganz verschiedene Weise, die Frage nach der eigenen Identität stellen.

Die körperliche Veränderung bei Jugendlichen ist im Gegensatz zu allen vorangehenden nicht einfach nur Wachstum, sondern Bestätigung und Aktualisierung einer biologischen Identität. (Siehe dazu auch Teil zwei „Geschlechter“) Aber es ist eine Identität im Werden und muss sich im Spannungsfeld zwischen Erwartung und Verunsicherung herausbilden. Zwar ist die körperliche Reifung bei den meisten Jugendlichen unübersehbar und (bei Jungen) auch unüberhörbar, aber sie ist immer auch Verunsicherung: Wer werde ich sein und wie werde ich sein als „Mann“ oder als „Frau“? Und je mehr das eigene Mann-Sein und Frau-Sein sich verdeutlicht, desto deutlicher wird auch die eigene Ergänzungsbedürftigkeit durch das andere Geschlecht. Aber wie und durch wen wird mein Frau-Sein ergänzt werden durch einen Mann oder mein Mann-Sein ergänzt durch eine Frau?

Diese Situation der Verunsicherung durch die körperliche Veränderung in der Jugendzeit wäre allein schon Anlass für ein emotionales Chaos. Aber es geschieht ja gleichzeitig auch noch eine geistige Reifung und diese geistige Reifung der Jugendzeit ist noch viel dramatischer und emotional noch viel herausfordernder. Auf sie will ich etwas genauer eingehen, weil sie oft übersehen wird.

Zunächst eine Anmerkung zur Bedeutung dieses Geschehens: Die geistige Reifung in der Jugendzeit eines Menschen ist ein Vorgang, den es sonst auf der ganzen Erde (und wahrscheinlich im ganzen Universum) nirgendwo gibt. Für kein Tier, auch nicht für den intelligentesten Affen gibt es etwas auch nur annähernd Vergleichbares.

In der Kindheitsphase formen sich kleinere und größere Kinder durch eigene Erfahrungen und aufgenommene Informationen ein je eigenes sachliches Bild von ihrer Welt. Sie interessieren sich für die Kämpfe der Gladiatoren zur Zeit des römischen Imperiums genau so wie für den Walfang auf hoher See oder den Klimawandel der Zukunft. Was ist das? Wer ist das? Wie ist das? So ist ihre Fragehaltung und dafür suchen sie nach Antworten. So weit ist das noch vergleichbar (wenn auch auf anderem Niveau) mit dem Verhalten von vielen jungen Tieren, die auch interessiert ihre Welt erkunden.

Jetzt aber, als Jugendliche, wandelt sich ihre Fragehaltung: „Warum ist das so, und wer ist dafür verantwortlich, dass es so ist? Darf das so sein – und bleiben? Ist das richtig so, wie es ist? Und wenn es falsch ist, muss man das dann nicht ändern, jetzt, sofort? Wer hat recht oder unrecht? Wer sagt die Wahrheit, die ganze Wahrheit?“ So fragt kein Tier. Und: Solche Fragehaltungen sind immer mit hochemotionalen Ansprüchen verbunden, die sich nur schwer ausgleichen lassen. Kompromisse sind keine Erfindung von Jugendlichen. An den oben genannten Beispielen entlang angedeutet, hieße die Fragestellung jetzt: „Was war das für eine Gesellschaft im römischen Imperium, in der Menschen aus ausgebeuteten Minderheiten, Sklaven z. B., bereit waren, sich für Schau-Kämpfe auf Leben und Tod herzugeben, in der Hoffnung, sich so aus der Sklaverei in ein freies Leben herauskämpfen zu können (wenn sie denn überlebten)? Und was war das für eine Gesellschaft, in der die Reichen und Mächtigen zu ihrer Unterhaltung und ihrem Vergnügen sich solche „Spiele“ ansahen und begeistert Beifall klatschten, wenn der eine Gladiator dem anderen vor den Augen der Zuschauer verletzte, wenn Blut floss und der Unterlegene zusammenbrach und verwundet oder sterbend hinausgetragen wurde?“ Oder: „Darf es sein, dass die letzten Wale von kommerziellen Walfängern gefangen und getötet werden? Muss man da nicht etwas dagegen unternehmen?“ Oder: „Müssen wir nicht jetzt mit allen Mitteln gegen den Klimawandel ankämpfen, um uns eine lebenswerte Zukunft in einer lebensfähigen Natur zu erhalten?“

Ein Kind würde so nicht fragen. Eine Jugendliche, ein Jugendlicher aber muss so fragen, denn sie fragen nun nach einer ethischen Bewertung dessen, was sie vorfinden (es sei denn, beide wären durch ein Übermaß an Konsum von erfundenen, künstlich konstruierten und hochemotional aufgeladenen Unterhaltungsangeboten so übersättigt, dass sie ihrer wirklichen Welt abgestumpft und verständnislos gegenüberstehen; so etwas gibt es leider auch).

Trotzdem: Jugend ist anders: Jetzt geht es nicht mehr nur darum, wie die Dinge sind, sondern wie sie sein sollen. Jetzt, in der Jugendzeit, werden zusammenhängende Konzepte ethischer Werte entworfen, verworfen, umgeworfen, neu entworfen … und jedes dieser Konzepte ist hochemotional mit dem jeweiligen Empfinden und mit dem Verständnis der eigenen Identität verbunden. Jetzt geht es nicht mehr nur um Sachzusammenhänge, sondern um Sinnzusammenhänge: Wo ist mein Platz im Ganzen und was bedeutet das für mein Leben und Tun, jetzt und hier und später, wenn ich erwachsen bin? Es geht nicht mehr nur um eine Deutung dessen, was existiert, sondern um die Bedeutung der eigenen Existenz.

Deshalb sind Jugendliche tendenziell auch leichter verführbar: Sie suchen nach Sinn und Bedeutung in ihrem Leben und Handeln und wer ihnen dafür einfache und emotional ansprechende Angebote macht, kann eine Begeisterung entfachen, die in eine mitreißende Bewegung mündet, auch wenn sich die später als menschenfeindlich und zerstörerisch erweist.

Eine wertende und sinnorientierte Haltung gegenüber den Verhältnissen und Vorgängen in ihrer Umwelt ist gewiss nicht auf die Jugendzeit beschränkt, sie sollte für jeden Erwachsenen selbstverständlich sein! Aber jetzt, in der Jugendzeit beginnt es und vor allem jetzt ist die Formbarkeit und Elastizität des Denkens vorhanden, die ausreichend Raum für experimentelle Umgestaltungen und situative Neuanpassungen bietet. Jetzt vollzieht sich die emotionale, geistige und spirituelle Ablösung von der Elterngeneration. Jetzt stoßen Wunschvorstellungen auf Alltagsrealitäten, stoßen Phantasien auf Erfahrungen. Jetzt werden bisher gültige Denkweisen, Verstehensweisen, Vorgehensweisen in Frage gestellt – und die dazugehörigen Personen gleich mit. Trotzdem: Gemessen an den Herausforderungen dieser Entwicklungsphase sind die Probleme, die Jugendliche manchmal älteren Personen (und oft gerade den nächsten Angehörigen) machen, meistens maßvoll, verstehbar und verzeihlich.

1.1.5 Erwachsene Aufbau-Phase

Neki war unruhig, einmal aufgeregt und begeistert und dann wieder angespannt und niedergeschlagen. Sie wusste nun schon seit einigen Voll-Monden, dass sie schwanger war, und unterdessen konnte man es ja auch deutlich genug sehen. Eines wusste sie schon sicher: Ihr erstes Kind würde nicht in der Schnee-Zeit geboren werden, sondern in der Warm-Zeit, wenn die Bäume und Sträucher Früchte tragen, wenn es Pilze gibt im Wald und Fische im Bach und wenn die Jäger genug Beute heimbringen, dass alle gut leben können.

Somm, der Mann, mit dem sie nun schon seit drei Warm-und-Kaltzeiten zusammenlebte, musste jetzt nicht mehr so oft auf die Jagd gehen. Seit auch einige Mädchen und junge Frauen, die nicht schwanger waren, mit jagen durften, konnten sich die Jagdgruppen häufiger abwechseln. Das war Somm sehr recht, denn er hatte große Pläne.

Neki kannte diese Pläne und die waren eine Ursache ihrer Beunruhigung. Somm wollte ein Warm-Zeit-Haus bauen für sich und Neki und ihre Kinder. Alle Familien hatten so ein Warm-Zeit-Haus. In der Warm-Zeit wohnten sie im Wald nahe bei der Höhle, aber nicht in der Höhle. Die Höhle war auch in der Warm-Zeit kühl, dunkel und feucht. Man nutzte sie als Rückzugsort bei langen Regenperioden oder wenn Gefahr drohte. Sonst war das Leben im Wald angenehmer. Somm wollte sein Haus etwas abseits bauen, an einer erhöhten Stelle, mit einem Felsen im Rücken. Dafür hatte er schon von einem Sturm gebrochene Äste und kleinere Stämme gesammelt. Er wollte ein festes Haus, wie eine Höhle aus Holz. Neki wollte ihr Haus lieber näher bei den anderen Familien bauen, nahe am großen Kreis, wo das Feuer brannte und wo die Familien zusammenkamen, wenn es am Abend dunkel wurde. Und Neki wollte ihr Haus flexibel und veränderbar: Rund, aus Geflecht von biegsamen Ästen errichtet, mit einem Dach aus geschichteten Zweigen, die den Regen abhielten, mit einem weichen Boden aus Schilf und Moos … Sie wollte, dass noch Platz wäre, direkt daneben, damit dort noch ein weiteres Haus gebaut werden könnte für die größeren Kinder, wenn sie noch ein kleines haben würde … Aber wie sollte sie Somm davon überzeugen? Er redete nicht viel. Seine Sache war nicht das Reden, sondern das Tun.

Nekis Vater war der Ansicht, dass sie gar kein neues Haus bräuchten, sie könnten ja das Haus neben seinem eigenen nehmen, aus dem die älteren Kinder schon ausgezogen waren. Und Nekis Mutter meinte, Neki sollte mit dem Neugeborenen erst einmal bei ihr einziehen, damit sie sich um sie und das Neugeborene kümmern könnte, ihr Mann könnte ja unterdessen im alten Kinder-Haus wohnen. Das aber wollte Neki auf keinen Fall, sie wollte ihr eigenes Haus einrichten, mit Somm …

In der Aufbau-Phase der jungen Erwachsenen werden eigene Lebenskonzepte entworfen und ausprobiert. In vielen Kulturen wird oder wurde das (und das kann man symbolisch sehen für die ganze Aufbau-Phase) konkret vollzogen, indem ein junges Paar sich (mit Hilfe von Verwandten, Freunden, Nachbarn, aber nach eigenen Plänen und Vorstellungen) ihr eigenes und gemeinsames Haus baut. Dabei muss es nicht immer um ein materielles „Haus“ aus Lehm und Stroh, Holz und Stein, Stahl und Beton gehen, sondern ganz allgemein um den Aufbau eines eigenen Lebenskonzepts, um die Ausgestaltung der (eigenen und gemeinsamen) Lebens-Räume und um die Verwirklichung der (eigenen und gemeinsamen) Lebens-Träume. Selbstverständlich werden diese Lebensträume (manchmal auch Luftschlösser) schmerzhaft auf die Realitäten und Grenzen der Umwelt stoßen, aber das ist (solange es die Lebensträume nicht ganz zerstört) nicht nur negativ zu werten, denn es trägt dazu bei, dass das neue „Haus“ realitätsnäher, standfester und sturmsicher wird. (Die berufliche Situation hat selbstverständlich in der ganzen Erwachsenen-Zeit seine eigene und besondere Bedeutung, die wird aber hier nicht angesprochen, denn hier, in diesem Abschnitt, geht es um die Besonderheiten in den Beziehungen zwischen den Generationen.)

Das Erbe der Eltern-Generation (materiell oder ideell) wird nun eher als lästig und einengend empfunden. Es geht um die Verwirklichung der eigenen Vorstellungen. Es ist deshalb besser, wenn die älteren Generationen den jungen Erwachsenen nun „Baumaterial“ zur Verfügung stellen (finanzielle und materielle Ressourcen), als ihnen ein fertiges Haus (eine schon „fertige“ Existenz) zu überlassen.

Es ist auch richtig und gut, wenn sich die Überlegungen und Vorhaben, die Aktivitäten und Unternehmungen der jungen Erwachsenen in dieser Phase sich schwerpunktmäßig auf das Miteinander des Eltern-Paares beziehen und auf den Nahbereich der eigenen Familie. Die Verantwortung für die weiteren Bereiche des sozialen Umfeldes bekommt erst später ihre nachdrückliche Bedeutung. (Das ist hier sehr idealtypisch auf die angesprochenen Generationen und Lebensphasen bezogen. Im Einzelfall kann das sich auch sehr abweichend entwickeln, ohne dass da etwas „falsch“ laufen würde, Menschen sind nun mal sehr verschieden.) Trotzdem scheint es mir sinnvoll, so eine „idealtypische“ Generationenfolge zu beschreiben, um ein Bild vor Augen zu haben, das in den meisten Fällen auch von der Realität bestätigt wird.

1.1.6 Erwachsene Ausbau-Phase

Neki war zufrieden. Zufrieden mit der Situation und zufrieden mit sich selbst. Somm war nun der von allen anerkannte Verantwortliche für die Jagd. Er teilte die Jagdgruppen ein, er legte, je nach Jagdgebiet und Jahreszeit, die Jagdtaktik fest, er entschied, wer in welchem Gelände als „Spurensucher“ oder als „Treiber“ eingesetzt wurde und wo sich die sichersten Bogenschützen und Speerwerfer aufstellen sollten, um zum Jagderfolg zu kommen.

Und sie selbst, Neki, hatte in langen Auseinandersetzungen mit den Jägern (auch mit Somm) durchgesetzt, dass die Frauen ihren eigenen Verantwortungsbereich bekamen, der über die Belange von Schwangerschaft und Geburt hinausging. Zwar blieben, wie bisher, die Männer verantwortlich für alles, was mit der Jagd zu tun hatte und wenn junge Frauen mit auf die Jagd gingen, mussten sie sich, wie alle anderen auch, an die Vorgaben der Jagdverantwortlichen halten. Aber alles, was mit der Höhle, den Häusern, dem Feuer, der Beaufsichtigung und Anleitung der Kinder, vor allem aber mit dem Sammeln und Aufbewahren der Vorräte für die Schnee-Zeit zu tun hatte, das sollte nun allein in der Verantwortung der Frauen liegen. Das war sehr wichtig. Die Männer waren oft nicht da, wenn sie auf tagelangen Streifzügen waren. Dann mussten die Frauen selbst entscheiden können. Von ihnen hing ja auch entscheidend das Überleben der ganzen Gruppe in der kalten Jahreszeit ab. Schon deutete sich diese Kalt-Zeit in den Veränderungen des Waldes an. Noch gab es essbares Blattgemüse, Früchte, Wurzeln, Knollen, Eier, Insekten, Kleintiere, Fische, Muscheln, Krebse … im Überfluss, aber jetzt kam es auf den riesigen Erfahrungsschatz der Frauen an (besonders der älteren), die wussten, welche  Nahrungsmittel man wie haltbar machen konnte (durch trocknen, erhitzen, fermentieren, räuchern …), um sie als Vorräte für die Schneezeit aufzubewahren. Außerdem mussten die Frauen nun die Höhle wieder als gemeinsamen Lebensraum für die ganze Gruppe herrichten, denn in der Schneezeit würden sie alle wieder dort wohnen, mit dem Feuer, das nie ausgehen durfte, in der Mitte. Dazu mussten große Mengen von gut getrocknetem Holz bereit gelegt werden … Neki war zufrieden: Sie würden die Schnee-Zeit gut überstehen.

Die Aufbau-Phase des Erwachsen-Seins hat „natürlich“ (also von Natur aus) etwas mit der biologischen Entwicklung der Menschen zu tun. Besonders deutlich wird das im Lebens-Zyklus der Frau, deren fruchtbare Phase den zeitlichen Rahmen für die Familienbildung absteckt. Wie dieser Rahmen im Einzelfall genutzt wird, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Aber meistens umgrenzt er eine Zeit der Konzentration auf den Nahbereich der eigenen entstehenden und wachsenden Familie.

In der darauf folgenden Ausbau-Phase des Erwachsen-Seins weiten sich die Perspektiven: Jetzt geht es um den Ausbau, die Erweiterung, Verbesserung, Optimierung und Konsolidierung des Bestehenden (in Haus und Hof, Werkstatt und Büro, im Geschäft und Unternehmen …). Jetzt geht es um die Erweiterung und Verdichtung persönlicher, beruflicher, gesellschaftlicher … Beziehungen. Jetzt geht es um die Übernahme von Verantwortung im weiteren gesellschaftlichen Bereich (z. B. in Gewerkschaften und Verbänden, in Stadt und Land …) Übernahme von Ehrenämtern (z.B. bei der Feuerwehr, in Vereinen …) Engagement in Politik, Wirtschaft und Kultur …

Diese beiden Phasen (Aufbau-Phase und Ausbau-Phase) können Erwachsene auch mehrmals durchlaufen. Es kann z. B.  auch nach den Phasen des Aufbaus und des Ausbaus noch einmal einen Umbruch geben (durch innere oder äußere Veränderungen angestoßen) der noch einmal einen Neuanfang und Neuaufbau erfordert.  Trotzdem: Die Aufbau-Phase des Erwachsen-Seins hat ihren Schwerpunkt in der Verantwortung für die eigenen Kinder; die Ausbau-Phase des Erwachsen-Seins hat ihren Schwerpunkt in der Verantwortung für die Gemeinschaft, unter anderem auch für die hilfsbedürftig gewordenen Alten.

1.1.7 Aktive Alters-Phase

Neki ging jetzt schon lange nicht mehr mit auf die Jagd und auch die Verantwortung für die Sammlung und Vorratshaltung der Nahrungsmittel hatte sie an jüngere Frauen abgegeben. Manchmal spürte sie schon die Zeichen des kommenden Alters am eigenen Körper, wenn sie die Schmerzen in den Knien und Schultern spürte, die sie an ein gutes, manchmal frohes, aber doch immer hartes und arbeitsreiches Leben erinnerten. Sie hatte fünf Kinder geboren. Eines war bald nach der Geburt gestorben. Ihre je zwei Töchter und Söhne waren schon erwachsene Männer Frauen und deren (zusammengenommen) sechs Kindern waren Nekis Freude im Alter. Sie kamen oft zu ihr, um in ihrem Warm-Zeit-Haus zu spielen oder um sich von ihr trösten zu lassen, wenn sie Ärger hatten mit ihren Eltern. Neki konnte aufmerksam und geduldig zuhören und allein das löste oft schon manche Spannungen.

Neki aber hatte noch andere Interessen. Sie war am weitaus häufigsten von allen Frauen mit bei der Jagd gewesen. Und sie galt als hervorragende Schützin mit Pfeil und Bogen. Gleichzeitig war sie aber wie alle Frauen vor allem Sammlerin und hatte einen riesigen Erfahrungsschatz, wenn es um die Pflanzen und Tiere des Waldes ging. Und: Sie hatte eine Entdeckung gemacht. Eines der Probleme der Jäger war es, geeignetes Material zu finden für die Herstellung guter Pfeile. Gute Pfeile konnten geradeaus fliegen, ohne im Flug zu verdrehen und zu verwirbeln und nur mit solchen Pfeilen konnte man gut treffen. Solche Pfeile gab es aber kaum. Und nun hatte Neki einen Strauch entdeckt, dessen junge Triebe gerade und ohne Verbiegungen in die Höhe wuchsen. Aber sie hatten einen Nachteil: Ihr Holz war zu weich. Und nun hatte Neki, zusammen mit einer etwas jüngeren Frau begonnen, mit diesen geraden Zweigen verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren, wie man trotzdem gute Pfeile aus ihnen machen könnte. Und schließlich hatten sie eine Idee: Sie versuchten, in die Spitze des Pfeiles einen geeigneten Steinsplitter einzusetzen. Dazu mussten sie den Steinsplitter in eine passende Vertiefung einfügen, die Stelle dann mit einem Bastfaden straff umwickeln und das ganze mit Baumharz so verkleben, dass sich die Steinspitze nicht lösen konnte.

Sie mussten sehr viele Versuche machen, bis es endlich gelang. Dann zeigten die beiden Frauen diese Pfeile Nekis ältestem Sohn, der auch ein guter Jäger und Schütze war. Dieser war erst skeptisch, aber schon die ersten Versuche zeigten: Mit diesen Pfeilen konnte man wirklich genauer zielen und treffen als mit allen, die sie bisher verwendet hatten. Am nächsten Tag ging Neki nach langer Zeit wieder einmal mit den Männern auf die Jagd, nicht sehr weit, das Laufen fiel doch schon schwer, aber sie hatte einige der neuen Pfeile dabei. Und tatsächlich, ihr gelang es, ein Reh zu erlegen, weil ihre Pfeile geradeaus und damit genauer und auch weiter fliegen konnten als die Pfeile der Männer. Seitdem verwendeten auch sie nur noch Nekis neue Pfeile.

 

Mit zunehmenden Alter beginnt für die meisten Menschen eine Phase, die nichts Eigenes mehr aufbauen und ausbauen will, sondern wo die Alt-Gewordenen ihre noch vorhandenen Kräfte dafür einsetzen, den jüngeren Generationen beim Aufbau und Ausbau ihrer Lebens-Planung zu helfen. In dieser Phase haben die Älteren oft gute Beziehungen zu ihren jugendlichen Enkeln. Von denen werden sie nun nicht als verantwortliche Direktbeziehung und fordernde Elterngeneration empfunden, sondern als nahe, aber nicht mehr verantwortliche Bezugspersonen, von denen sich die Jugendlichen nicht bevormundet fühlen.

Außerdem erleben viele aus der Gruppe der aktiven Alten jetzt eine Phase in der sie noch einmal das Leben genießen wollen, Reisen machen, etwas erleben, ohne die Verpflichtungen im Beruf, in der Familie und in der Gesellschaft. Das ist nicht kritisch zu sehen, solange nicht aus der „aktiven Altersphase“ eine „egoistische Altersphase“ wird, die meint: „Wir haben das ganze Leben lang gearbeitet, jetzt wollen wir nur noch an uns selbst denken“.

1.1.8  Pflegebedürftige Alters-Phase

Neki erwachte, aber sie erwachte nicht zu einer hellen Wachheit, sondern zu einer dämmrigen, dumpfen Müdigkeit, die sich kaum vom Schlaf unterschied. Diese Müdigkeit war immer da, sie und der Schmerz. Müdigkeit und Schmerz kämpften in ihr jeden Tag um die Vorherrschaft. Wenn sie still lag, siegte die Müdigkeit, wenn sie sich bewegte, herrschte der Schmerz. Sie lag auf einem Lager von getrocknetem Gras und Moos im hinteren Teil der Höhle. Durch die große Eingangsöffnung der Höhle kam Helligkeit herein, aber hier, im hinteren Teil, war es dämmrig, eine Abenddämmerung, die schon am Morgen begann.

Auch Geräusche drangen herein, Arbeitsgeräusche und Stimmen, aber Neki konnte die Geräusche nicht mehr bestimmten Arbeiten zuordnen und die Stimmen nicht mehr bestimmten Menschen. Alles war dumpf und dämmrig und ohne erkennbare Herkunft. Und sie schlief wieder ein und vergaß Licht und Klang und Schmerz und Müdigkeit.

Sie erwachte wieder und spürte, dass jemand bei ihr war. Zweimal am Tag kam eine von den Frauen und versuchte, ihr etwas zum Essen zu geben. Aber sie wollte nichts essen und nahm nur einen Schluck Wasser vom Bach, den ihr die Frau in einer flachen Rinden-Schüssel reichte. Da merkte Neki, dass noch jemand da war. Das war Romi, eine ihrer Enkelinnen. Ein liebes Mädchen, das sie sehr gern hatte. Mühsam hob sie den Kopf und Romi versuchte ihr zu helfen. Und diese Berührung und der Blick in das Gesicht des Mädchens mit den strahlenden Augen gewannen mühelos den Kampf und besiegten für einen Augenblick Müdigkeit und Schmerz. Romi sagte noch etwas, was Neki nicht verstand und dann war sie fort. Aber der Nachklang ihrer Gegenwart blieb noch eine Weile bei Neki, bis die Dämmerung wieder alles zudeckte.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Romi wiederkam. Dann aber kam sie nicht allein, die Höhle hallte von Stimmen – Männerstimmen, Frauenstimmen, Kinderstimmen. Rufe und Bewegung … Nekis dumpfe Müdigkeit löste sich auf wie eine Rauchwolke über dem Feuer und der Schmerz konnte der Bewegung um sie her nicht folgen, verlor den Anschluss, verlor den Kampf und blieb ohnmächtig zurück.

Romi hatte die jungen Männer dazu gebracht, eine Trage zu bauen und die Mädchen, ein Lager zu formen aus Stroh und Moos und Fellen, wo Neki halb liegend, halb sitzend mitten unter ihnen sein könnte, im Freien, im Licht!

Neki spürte den stechenden Schmerz als die jungen Männer sie vorsichtig auf die Trage legten, aber sie wollte diesem Schmerz nicht recht geben, wollte ihn nicht gelten lassen. Was war der gegen die Sonnenwärme auf ihrer Haut, gegen das Lachen und Spielen der Kinder um sie herum, gegen die Klänge der Arbeit mit Holz und Stein, gegen die Berührung ihrer Enkelin, die nahe bei ihr saß, gegen das Leben, das Leben, das lebendige Leben! So saß Neki noch einmal bei denen, die sie kannte und bei denen, die sie liebte und der Schmerz und die Müdigkeit hatten verloren und sich in die Dämmerung der Höhle verkrochen. So ging einer der glücklichsten Tage ihres Lebens zu Ende … Und dann ging ihr Leben, einfach so, gleich mit.

Das Hauptbedürfnis der „hilfsbedürftigen Alten“ ist es, teilzuhaben am Leben aller Generationen. Aber wie selten wird das Wirklichkeit im 21. Jahrhundert, in den wohlhabenden Ländern dieser Erde! Die Generationen leben getrennt: Die jungen Familien mit kleinen Kindern und den vielfach belasteten Eltern für sich, die Jugendlichen in ihrer eigenen Welt, die Älteren mit sich beschäftigt. So wird das Alter zur Last auch für die bedürftigen Alten selbst, die erschrocken oder resigniert feststellen, welche Last ihre Bedürftigkeit den Jüngeren aufbürdet. So bleibt meistens nur noch die Isolierung der hilfsbedürftigen Alten in spezialisierten Pflegeeinrichtungen.

Alle Beiträge zum Thema "Generationen und Geschlechter"


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert