Bereich: Grundfragen des Lebens

Thema: Generationen und Geschlechter

Beitrag 5: Geschlechter (2): Das Rechte und das Richtige (Bodo Fiebig17. Februar 2023)

Wenn es um die Geschlechter-Frage geht, wird es emotional (verständlicherweise, denn das Miteinander der Geschlechter ist ja (nicht nur, aber auch) Gefühls-Sache. Diese Emotionalität führt aber dazu, dass es bei diesem Thema vielen schwer fällt, vernünftig darüber zu reden und dann auch noch sachlich zu bleiben. Über alle möglichen körperlichen Gegebenheiten, Funktionen und Entwicklungen kann man weitgehend sachlich und unvoreingenommen reden (z.B. über wachen und schlafen, Ernährung und Gesundheit, Jugend und Alter …), aber sobald Sexualität mit im Spiel ist, wird es schwierig, weil da immer auch tradierte Wertungen eine Rollen spielen: Was ist richtig oder falsch, was ist erlaubt oder verboten, worüber darf man öffentlich reden, was darf man tun? Damit soll nicht einer allgemeinen und öffentlichen Schamlosigkeit Tür und Tor geöffnet werden. Sexualität braucht gegenüber der Öffentlichkeit Vertrautheit und Vertraulichkeit und gegenseitiges Vertrauen. Sie braucht nicht Genierlichkeit, Heimlichtuerei und Verschämtheit.

Kulturbedingten Wertungen spielten und spielen in europäisch geprägten Gesellschaften (wie in allen anderen auch) eine große Rolle: So ist es z. B. erst seit wenigen Jahrzehnten möglich, dass Sexualität ein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein kann. Die ersten Universitäten der Neuzeit waren im europäischen Mittelalter entstanden und ihre Inhalte und Vorgehensweisen sind (bis heute) wesentlich von europäischen Denkstrukturen und Empfindungen geprägt. Und die hatten schon seit Jahrhunderten die Sexualität in einen Tabu- Bereich abgedrängt.

Das war nicht immer so: Im „Langhaus“ früher germanischer Volksgruppen, wo die Mitglieder mehrerer Familie gemeinsam wohnten und lebten, fand das ganze Leben ihren Lebens-Raum. Das schloss auch alle Formen von Sexualität mit ein. Die waren ganz selbstverständlicher Teil des Gemeinschafts-Lebens der Bewohnerschaft. Auch wenn Sexualität wahrscheinlich jeweils auf den Innenbereich einer Familie begrenzt blieb, fand sie doch vor den Augen und Ohren der ganzen Wohngemeinschaft statt.

Das zeigt: Wie Sexualität gelebt wird, ist sehr stark von kulturellen Vorgaben und Wertungen abhängig. Im Gesamt-System der Entwicklung der europäischen Kulturen der vergangenen 10 bis 15 Jahrhunderte wurde das Verständnis von Sexualität (wahrscheinlich mehr als anderswo) durch Einstellungen und Begriffe wie „richtig oder falsch“, „erlaubt oder verboten“ „Recht und Unrecht“ bestimmt und weniger von der Frage, was für die beteiligten Menschen gut ist und schön und beglückend.

Solche Einstellungen bezogen sich freilich auf viele Bereiche des Lebens und Zusammenlebens. Ein Beispiel: Noch weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein war die Nutzung der rechten oder linken Hand von solchen Vor-Einstellungen bestimmt. Es war „richtig“, die rechte Hand zum Schreiben zu verwenden (sie heißt ja deshalb „rechte“ Hand, weil es „recht“ war sie zu bevorzugen). Hier hatte sich eine Mehrheits-Erfahrung (die rechte Hand ist für feine Arbeiten besser geeignet) durchgesetzt und sich auch noch „moralisch“ abgesichert (es war nun nicht nur „recht“, sondern auch „richtig“, die rechte Hand zu gebrauchen und nicht die „falsche“ linke). Für die Minderheit der Linkshänder ergab das eine doppelte Benachteiligung: Erstens mussten sie oft sehr mühsam lernen, die „rechte“ Hand für Tätigkeiten zu benutzen, die ihnen mit der linken Hand viel leichter „von der Hand“ gingen und Werkzeuge zu verwenden, die alle für die „rechte“ Hand konstruiert waren und zweitens mussten sie damit klar kommen, dass sie nicht, wie die meisten Menschen in ihrer Umgebung, so sind, „wie es recht ist“ (so dass aus der sozialen „Minderheit“ eine persönliche „Minderwertigkeit“ entstand). Ähnliche Vor-Einstellungen gab es auch z. B. bei der jeweils „richtigen“ Kleidung, die dem gesellschaftlichen „Stand“ einer Person entsprechen musste usw.

Im Bereich der Sexualität aber war der Druck „richtig“ zu sein, oft noch viel massiver. Sexuell „anders“ zu sein, war dann nicht nur „falsch“, sondern moralisch verwerflich, ja gesetzeswidrig und strafbar, schlimmstenfalls (im Fall der Herrschaft einer zwanghaften Ideologie) ein todeswürdiges Verbrechen.

Wer aber nun meint, das wäre eine Folge der „Christianisierung“ Europas durch eine Religion, die gar nicht aus Europa, sondern aus dem (heute so genannten) „Nahen Osten“ kommt, der irrt sich: Die Bibel (als Grundlage des christlichen Glaubens) geht sehr offen, unbefangen und unaufgeregt mit Sexualität um.

Das wird schon an der ersten Stelle deutlich, wo von einer Geschlechterbeziehung die Rede ist (1, Mose 2, 25): Und sie waren beide nackt, Adam und seine Frau, und sie schämten sich nicht.

  1. Mose 4, 1, wo zum ersten Mal vom geschlechtlichen Miteinander* von Mann und Frau die Rede ist, verwendet die Bibel dafür ein Wort, das hier irgendwie unpassend erscheint, meist wird es mit „erkennen“ übersetzt (1. Mose 4, 1): Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie wurde schwanger … Das hebräische Wort „jada“ (für „erkennen“) hat einen weiten Bedeutungsrahmen: Zunächst: „Erfahren, wissen, kennen, verstehen“; dann aber auch: „Sich zu erkennen geben, sich gegenseitig anerkennen, vertraut sein mit.“ Hier wird Sexualität als als ganzheitliches Geschehen verstanden. Da wird nicht nur ein „Geschlechtsakt“ vollzogen, sondern zwischen beiden vollzieht sich (zum Teil vorausgehend, zum Teil im sexuellen Miteinanders selbst) ein gegenseitiges „sich zu erkennen geben“, ein gegenseitiges „sich erkennen und anerkennen“ und ein „miteinander vertraut werden“, und das wird zum „Beziehungsrahmen“, in dem das sexuelle Zusammensein immer mehr an gemeinsamer Vertraulichkeit und gegenseitigem Vertrauen gewinnen kann. Und dabei findet sich im Bibeltext nicht eine Spur von negativer Wertung in Bezug auf Sexualität.

* Ich mag den Begriff „Geschlechtsverkehr“ nicht. Geschlechtlichkeit ist etwas sehr Persönliches und Vertrauliches; dagegen sind im (Straßen)-“Verkehr“ alle Begegnungen notwendigerweise öffentlich und sehr flüchtig und unpersönlich. Das passt nicht zusammen.

Später (1. Mose 29 + 30) in der Geschichte von Jakob, Lea und Rachel wird in der Bibel ganz fraglos akzeptiert, dass Jakob nacheinander beide Frauen heiratet, mit beiden zusammenlebt und mit beiden Kinder zeugt. Ja, es kommen sogar noch zwei weitere Frauen hinzu, Bilha, die Magd der Rachel, und Silpa, die Magd der Lea, die beide „im Auftrag ihrer Herrinnen“ mit deren gemeinsamen Ehemann Jakob sexuell zusammenkommen, schwanger werden und Kinder gebären, die (nach damaligen Recht) als Kinder ihrer jeweiligen „Herrin“ galten. In dieser Geschichte werden zwar die Spannungen zwischen den beiden Ehefrauen des Jakob thematisiert, die Gewohnheiten des damaligen kulturellen Umfelds (wo die Mehrfach-Ehe „normal“ war) werden aber nicht in Frage gestellt und Jakob wird für sein Verhalten nicht getadelt. Das (später formulierte) sechste Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ wird hier auch nicht angetastet: Alle sexuellen Handlungen geschehen hier im Rahmen des damals in einer Ehe Erlaubten und gesellschaftlich Akzeptierten. „Ehebruch“ nach damaligem Verständnis wäre es gewesen, wenn Jakob, um einer anderen Frau willen, eine seiner Ehefrauen (oder beide) verstoßen hätte.

Hier wird deutlich (und später wird es noch deutlicher werden), worum es Gott (JHWH) bei den Beziehungen zwischen Menschen eigentlich und immer geht. Um „Bundes-Treue“. Das ist das Haupt-Thema des ganzen „Alten Testaments“, unabhängig davon, ob es dabei um „Vertrags-Treue“ zwischen zwei Vertragspartnern geht, um „Bündnis-Treue“ in einem  politischen Bündnis oder um die Treue in einem Ehe-Bund zwischen zwei Menschen … Ja, Gott (JHWH) selbst schließt einen „Bund“ mit dem Volk Israel, nachdem er es aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat.

So ein „Bund“ ist dann gültig, wenn beide Bündnispartner freiwillig und ohne Zwang diesen Bund angenommen und bestätigt haben (2. Mose 19, 5-8:  Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst. Mose kam und berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor, die ihm JHWH geboten hatte. Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: „Alles, was JHWH geredet hat, wollen wir tun.“ Und Mose sagte die Worte des Volks JHWH wieder.

Solch ein „Treue-Bund“ verpflichtet alle Beteiligten, aber Gott (JHWH) selbst ist bereit, in diesen Bund viel mehr zu investieren, als er zurückbekommen kann: Sein Bundes-Partner (das entstehende Volk Israel) soll „ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ werden. JHWH ist ein sehr großzügiger Bündnispartner. Aber ihm geht es nicht um die „Kosten“ des Bündnisses (er ist unendlich reich), sondern um die Liebe und Treue des Bündnispartners, denn die kann und will auch Gott nicht „kaufen“ (Sex kann man kaufen oder gar erzwingen, Liebe und Treue nicht). Liebe und Treue sind freies Geschenk, oder sie sind nicht echt. Der Erhalt dieser „Bundes-Treue“ in seinem „Bundesvolk“ ist die alles entscheidende Motivation beim Ringen um die Treue Israels in den folgenden Jahrhunderten der Geschichte Israels.

Und Gott weiß, warum das so wichtig ist (bilden wir uns doch nicht ein, JHWH, der Gott Israels hätte das nötig für sein „Selbstbewusstsein“, oder gar für seine Eitelkeit). Nein, aber für das Zusammenleben von Menschen in einer Ehe, in einer Lebens- oder Arbeitsgemeinschaft, in einer Stadt, in einem Volk …, ebenso wie für das Zusammenarbeiten in der Wirtschaft, in der Politik, bei internationalen Verträgen usw. ist solche Bundes-Treue, Bündnis-Treue, Vertrags-Treue entscheidend wichtig für das Gelingen jeder Art von menschlicher Gemeinschaft. Ohne solche Treue und Verlässlichkeit wird jedes menschliche Miteinander zerbrechen und im Gegeneinander, in Feindschaft und Chaos enden. JHWH, der Gott Israels und der Bibel gibt uns das Vor-Bild einer Bundes-Treue, die (wenigstens von seiner Seite her) auch auch in schwierigen Zeiten und sogar bei „Treulosigkeit“ des Partners durchgehalten wird. Und deshalb will die Bibel den Treue-Bund der Ehe als elementares und grundlegendes „Zeichen“ für die Notwendigkeit von Verantwortung und Verlässlichkeit in allen menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen.

Es geht also bei Gott und in der Bibel nicht darum, dass Sexualität (oder bestimmte Formen von Sexualität) etwas „Böses“ und „Verbotenes“ wäre, sondern darum, dass menschliche Sexualität einen durch Liebe und Treue (Verlässlichkeit) geschützten Raum braucht. Nur so kann sie sich die Liebe auch im körperlichen Bereich entfalten, ohne den Treue-Bund des Miteinanders zu zerstören.

Dass im Verlauf der europäischen Geschichte die Beziehungen zwischen Mann und Frau (und damit auch die Sexualität) immer mehr „verrechtlicht“ wurden und so in die Kategorien von „richtig und falsch“, „erlaubt und verboten“, „Recht und Unrecht“ eingeteilt wurden, mag viele Gründe haben. Einer davon ist erkennbar: In der Theologie-Geschichte der europäischen Christenheit mischten sich fast von Anfang an drei grundlegende „Elemente“: Die biblische Überlieferung, die griechische Philosophie und das römische Recht (und diese „Mischung“ bestimmt europäisches Denken bis heute). Die „Verrechtlichung“ der Geschlechterbeziehung geschah aus der Vermengung der biblischen Grundlagen des Glaubens mit den Grundsätzen des römischen Rechts (das kann hier nicht weiter ausgeführt werden). Ein Beziehungs-Geschehen (Sexualität) wurde zum „Rechts-Fall“. Aus intimen Begegnungen wurden öffentliche Rechts-Grundsätze, die das „Erlaubte“ immer mehr einschränkte und schließlich auf den Vollzug der Zeugung von Kindern beschränkte. Dabei wurde die Freude der Liebenden aneinander und ihre Freiheit und Phantasie im Miteinander nach und nach immer mehr in den Bereich des „Ungehörigen“ verschoben. Freilich gibt es auch in der Bibel Regelungen und „Verbote“ für den Bereich sexuellen Verhaltens, aber die dienen immer dem Erhalt des „Liebes- und Treue-Bundes“ zwischen Menschen. Auf den Sonderfall homosexueller Beziehungen werde ich später noch eingehen.

Die gegenwärtig als „problematisch“ empfundenen Bereiche von Geschlechtlichkeit werden uns in den folgenden Abschnitten „Geschlechtliche Zuordnung“ und „sexuelle Orientierung“ noch weiter beschäftigen.

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